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Dekolonialisierung, Mehrsprachigkeit und afrikanische Sprachen im Entstehungsprozeß afrikanischer Philosophie

Kwasi Wiredu im Gespräch mit Kai Kresse



Inhalt

english  

»African philosophy is still in the making«
Zwischen "Traditionalisten" und "Modernisten" vermitteln?
Sprache und die Dekolonialisierung philosophischen Denkens in Afrika
Interkulturell denken – vielsprachig denken?
Ethik und Moral
Das Projekt eines interkulturellen Diskurses im afrikanischen Kontext
Literatur



 »African philosophy is still in the making«



Kwasi Wiredu

Kwasi Wiredu
ist Professor für Philosophie an der University of South Florida, Tampa, and nimmt zur Zeit eine Gastprofessur an der Duke University wahr.

Kurzpräsentation



In dieser Nummer:

Demokratie und Konsensus in traditioneller afrikanischer Politik. Ein Plädoyer für parteilose Politik

(English version)

(versión española)



Das Gespräch fand am 30.3.1996 in der Jan van Eyck Akademie, Maastricht, statt.

Das englische Original erschien leicht gekürzt in Issues in Contemporary Culture and Aesthetics 5 (1997), hg. vom Department of Theory, Jan van Eyck Akademie.

1

  Kresse: Prof. Wiredu, seit den frühen Jahren der Diskussion um die afrikanische Philosophie werden Sie als "Modernist" betrachtet, und Ihre Aussage, daß »afrikanische Philosophie noch im Entstehen begriffen« sei, wurde oft zitiert und heiß diskutiert. Später allerdings haben Sie verstärkt philosophische Begriffe Ihrer eigenen kulturellen Gemeinschaft, der Akan aus Ghana, mit in ihre philosophische Reflexion einbezogen und sie in einem erweiterten Verständnis von Philosophie mit der Diskussion afrikanischer Kultur und Begrifflichkeit verbunden. Auf diese Weise haben Sie methodologisch zwischen den beiden Ansätzen vermittelt, die Bodunrin einmal als "modernistisch" und traditionalistisch" charakterisiert hat.

2

  Während Sie zu Beginn vor allem über Theorien der Logik gearbeitet haben, ist nun klar (z.B. durch Ihre Studien zum ghanesischen Denken, zusammen mit Kwame Gyekye), daß Sie sich tatsächlich mit beiden Aspekten beschäftigen. Beide sind offenbar in dem Programm enthalten, das Sie zur Zeit verfolgen: der "Entkolonialisierung des afrikanischen Denkens". Ist das aus Ihrer Sicht so richtig? Und vielleicht könnten Sie zu Grundlage und Kontext Ihres Programms dieser Entkolonialisierung noch weitere Ausführungen machen?


3

  Wiredu: Sie beginnen mit einer Bemerkung, die mir sehr interessant erscheint; viele Leute haben nämlich, was die Entwicklung meines Denkens betrifft, die gleiche Beobachtung gemacht. Sie sagen, daß zu Beginn meiner Laufbahn die modernistische Tendenz entschiedener gewesen wäre. Aber eigentlich ist das nicht der Fall. Wenn Sie meine frühesten Schriften lesen, werden Sie erkennen, daß beide Elemente gleichermaßen vertreten sind. Aber es scheint, daß gerade meine Feststellung, daß die afrikanische Philosophie noch im Entstehen begriffen ist, völlig mißverstanden wurde, so weit, daß manche Leute sogar denken, ich hätte damals behauptet, es gäbe gar keine traditionelle afrikanische Philosophie. Tatsächlich habe ich aber in ebendemselben Aufsatz die Meinung vertreten, daß die Afrikaner sehr wohl ihre eigenen, ursprünglichen Philosophien haben, und das wird im Falle der Akan überaus deutlich (wie sich am Beispiel von Abrahams "Mind of Africa" erkennen läßt), daß wir unsere eigenen traditionellen Philosophien haben, die hinsichtlich ihres Horizontes und ihrer Bedeutung keinerlei Zugeständnisse an westliche traditionelle Philosophien machen müssen.

4

  Als ich sagte, daß afrikanische Philosophie noch im Entstehen begriffen sei, hatte ich vorher bereits die Aussage gemacht, daß wir in Afrika zwei wichtigen Aufgaben gegenüberstehen: erstens müssen wir unsere eigenen Philosophien studieren und falsche Interpretationen korrigieren, und zweitens alles verwenden, was wir von ihnen, d.h. unseren eigenen Philosophien erhalten können. Das wiederum müssen wir mit dem verbinden, was wir von der modernen Welt lernen können – das ist auch höchst wichtig –, zu philosophischen Ansätzen, mit denen wir leben können.

»Wir benötigen eine Synthese, wenn wir in dieser gegenwärtigen Welt vorankommen wollen.«

5

  Dann sagte ich, daß es von diesem Standpunkt zu dieser Aufgabe aus nicht falsch wäre zu sagen, daß afrikanische Philosophie noch im Entstehen begriffen sei. Nun, was ich meinte, war, daß, wenn es uns gelingt, eine Synthese zwischen unseren traditionellen Philosophien und dem herzustellen, was wir uns aus modernen Quellen aneignen können, dann wird afrikanische Philosophie das Ergebnis davon sein. Dies ist wichtig, denn in jeder Kultur, in der moderne Wissens- und Reflexionsmöglichkeiten zusammen mit dem genutzt werden, was aus der Tradition erhalten ist (in jeder Kultur also, in der beide Quellen genutzt werden), bezieht sich der Ausdruck "x-Philosophie", wobei "x" den Namen einer Nation oder Kultur ausdrückt, auf diese Synthese. Dieser Ausdruck bezieht sich nicht auf die traditionelle Phase der fraglichen Philosophie, besonders dann nicht, wenn diese eine schriftlose war.

6

  Als ich also sagte, daß die afrikanische Philosophie noch im Entstehen begriffen sei, meinte ich nicht, daß es überhaupt keine traditionelle Philosophie in Afrika gibt, weil ich schon in demselben Artikel anerkannt hatte, daß es eine solche gibt. Aber jetzt müssen wir uns an die Synthese machen. Ich betonte die Synthese deshalb so emphatisch, weil mir schien, daß einige afrikanische Philosophen die Wichtigkeit dieses Ansatzes verkannten. Ihnen schien nicht klar zu sein, daß wir eine solche Synthese benötigen, wenn wir in dieser gegenwärtigen Welt vorankommen wollen.




Kwasi Wiredu /
Kwame Gyekye
(eds.):
Person and community. Washington: Smithsonian, 1992.
(Ghanaian Philosophical Studies 1).
external linkPublikation

7

  Die beiden Elemente waren also bei mir immer vorhanden, es bestand nur die Aufgabe des Programms (der Untersuchung, der Bearbeitung usw.). Was mir behilflich war, mich neuerdings auf die traditionellen Aspekte zu konzentrieren, war meine Arbeit in den Vereinigten Staaten. Dort wurde ich dazu aufgefordert und erhielt mehr Möglichkeiten, afrikanische Philosophie zu lehren und zu diskutieren, als ich in Afrika hatte. Als ich in Ghana war, gab es eine Menge kompetenter Leute, die afrikanische Philosophie lehren konnten, wie etwa Gyekye, aber wir mußten auch Logik, Erkenntnistheorie und anderes lehren, um das Programm einer Synthese umsetzen zu können. Solange ich dort war, habe ich also nicht immer nur afrikanische Philosophie gelehrt. Das alles könnte wohl zu einem guten Teil die wechselnde Hervorhebung oder die "Verlagerung" in meinem Denken erklären, denn wenn es überhaupt eine Verlagerung ist, so ist es eine der Betonung.


8

  Kresse: Afrikanische Philosophie, "die im Entstehen begriffen ist", ist also eine Philosophie, die dem gegenwärtigen Afrika hilft, sich zu modernisieren, ohne sich dabei einer neuen Kolonialisierung auszusetzen?


»Zur Zeit scheint afrikanische Philosophie noch mit traditioneller afrikanischer Philosophie gleichgesetzt zu werden. Ich denke, daß wir das ändern müssen, indem wir eine Synthese des Traditionellen mit dem Modernen bilden.«


9

  Wiredu: Ja. Der Punkt dabei ist, daß wir Einsichten unserer eigenen kulturellen Tradition mit Einsichten der modernen Welt zu einer Synthese bringen. Wenn wir Erfolg haben, dann wird der Begriff "afrikanische Philosophie" in bezug auf diese Synthese benutzt werden (in der die traditionelle Philosophie bereits aufgehoben ist), und nicht mehr überwiegend in bezug auf traditionelle afrikanische Philosophie (d.h. Vergangenheit), wie es bis heute noch meist der Fall ist.

10

  Wenn wir nun das, was ich vorschlage, gut machen, d.h., wenn wir die Synthese gut machen, dann wird sich afrikanische Philosophie auf diese Synthese beziehen, nicht mehr fast ausschließlich auf die traditionelle Philosophie. Zur Zeit scheint afrikanische Philosophie noch mit traditioneller afrikanischer Philosophie gleichgesetzt zu werden. Ich denke, daß wir das ändern müssen, indem wir eine Synthese des Traditionellen mit dem Modernen bilden. Das schließt natürlich eine Bewertung der traditionellen Philosophie ein, und in bezug darauf habe ich meine Haltung nicht geändert, die besagt, daß nicht schon einfach deshalb alles gültig ist, weil es zu unserer Tradition gehört. Einige Dinge müssen korrigiert und modifiziert werden. Trotzdem bin ich zufrieden über die vielen Dinge unserer Tradition, auf die wir zurückgreifen können.



 Zwischen "Traditionalisten" und "Modernisten" vermitteln?

Interview von
Kai Kresse:

"Gespräch mit Henry Odera Oruka: Zur Lage der Afrikanischen Philosophie".
In: Widerspruch. Zeitschrift für Philosophie 16.29 (1996), 162-171.
external linkInterview

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  Kresse: Mit meiner Eingangsfrage verfolgte ich eine bestimmte Absicht. Ich führte Ihr Zitat über die afrikanische Philosophie, die noch im Entstehen ist, als Beleg an für die veränderte Diskussion über afrikanische Philosophie. In den siebziger und frühen achtziger Jahren gab es ja eine sehr scharfe Diskussion und die Aufspaltung in Traditionalisten und Modernisten. Auch wenn ich diesen Punkt vielleicht etwas überbetont habe, so betrachte ich doch Ihr philosophisches Programm, ebenso wie das Sage Philosophy-Projekt des verstorbenen Henry Odera Oruka, als Ansatz, diese beiden Gruppen, die sich gegenseitig zum Teil als Feinde betrachtet haben, einander näher zu bringen, als zuvor möglich schien. Dies geschieht durch die Verwendung eines Philosophieverständnisses im engen Sinne, welches zur Reflexion über afrikanische Kultur verwandt wird.

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  Hierin sehe ich eine Ähnlichkeit zwischen Orukas und Ihrer Arbeit. Sie beide arbeiten einerseits an der Dokumentation traditioneller afrikanischer Philosophie und formulieren andererseits eine zeitgenössische Kritik, und zudem versuchen Sie, beide Sachen zu vereinigen und die traditionelle Philosophie fruchtbar zu machen für die Probleme von heute. Genau darin sehe ich die Verlagerung, die sich für die Diskussion in den letzten zehn Jahren als sehr produktiv erwiesen hat.


Henry Odera Oruka:
"Grundlegende Fragen der afrikanischen 'Sage-Philosophy'".
In: Franz Martin Wimmer (Hg.):
Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika.
Wien: Passagen, 1988, 35-53.
external linkArtikel

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  Wiredu: Ja. Ich halte das Sage Philosophy-Projekt für eines der bedeutendsten Projekten auf dem Gebiet der afrikanischen Philosophie. Wie Sie aus meinem Buch Philosophy and an African Culture ersehen können, habe ich von Anfang an versucht, mich zu der Bedeutung dieses Projektes klar zu äußern. In dem grundsätzlichen Kapitel mit dem Titel "What is Philosphy?" zum Beispiel, welches nicht nur afrikanische Philosophie diskutiert, sage ich zu Beginn, daß unsere eigene traditionelle Philosophie zuallererst aus dem Denken unser eigenen Philosophen hervorgegangen sein muß. Wir müssen eigen Philosophen gehabt haben, mit einer eigenen Art der Argumentation usw. Da aber nichts aufgeschrieben worden ist, sagte ich, würde es zu einer bedeutenden Aufgabe der Forschung werden, den Gedanken dieser Leute (der Sages, d.h. der Weisen) auf den Grund zu gehen und festzuhalten. Ich war sehr froh, als Oruka mit seinen Forschungen begann, weil unter Beweis gestellt werden mußte, daß wir nicht nur eine Volksphilosophie haben, sondern daß es in unserer Tradition bis heute wirkliche Philosophen gibt, d.h. Leute, die nicht allgemeine Denkmuster der Gemeinschaft wiederholen, sondern neue und eigenständige Gedanken hervorbringen. Es ist eine Tragödie, daß diese Gedanken meist nicht schon eher aufgeschrieben worden sind.

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  Oruka hat unter anderem gezeigt, daß keine besondere Tugend darin besteht, daß ein ganzes Volk dasselbe sagt. Wenn man mit echten Philosophen spricht, erhält man ganz verschiedene Perspektiven. Ich weiß allerdings nicht, inwieweit diese Arbeit zu einer Art von Einheit geführt oder eine Annäherung der beiden Fraktionen von Modernisten und Traditionalisten bewirkt hat. Wenn sie diese Wirkung gehabt haben sollte, wäre das natürlich wunderbar. Das, was den Lebensnerv der Traditionalisten am meisten trifft, ist die Forderung, daß wir uns der Tradition kritisch nähern müssen. Genau das nämlich wollen sie nicht. Hier liegt wahrscheinlich der Hauptstreitpunkt zwischen den beiden Positionen. Dazu kommt folgendes: die Traditionalisten möchten keine Synthese mit der westlichen Kultur eingehen, insbesondere, wenn es darum geht, Anleihen bei der westlichen Kultur zu machen, um die eigene Kultur zu vervollkommnen.

Gail Presbey:
Who Counts as a Sage? Problems in the Further Implementation of Sage Philosophy.
1998.
(Paideia World Philosophy Conference paper)
external linkArtikel

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  Lassen Sie mich das an einem persönlichen Beispiel verdeutlichen. Vor allem während meiner Zeit in Ghana schrieb ich eine ganze Menge über Logik. In unserer eigenen Kultur, der Akan-Kultur, wird großer Wert auf logisches Denken und Argumentieren gelegt. Es gibt epigrammartige Äußerungen, die meiner Einschätzung zufolge den Satz von der Widerspruchsfreiheit, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten usw. formulieren. Da wir aber dem Schreiben keinen besonderen Wert beilegten und es in einigen Fällen auch überhaupt nicht verwandten, haben wir keine Tradition der formalen Logik entwickelt. Obwohl die Akan-Kultur selbst überaus logisch ist und auch das logische Denken sehr hoch schätzt, gibt es keine Ansätze zur Formalisierung der Logik. Ich halte Logik für einen besonders wichtigen Bereich der Philosophie. Wenn eine andere Kultur viel Zeit und Mühe auf die Formalisierung der Logik verwandt hat, so scheint es mir nur sinnvoll, zusammen mit dem Studium des logischen Denkens der eigenen Tradition auch die Ergebnisse dieser anderen Kultur zu studieren. Schließlich müssen wir zusehen, ob es nicht Dinge gibt, die uns bei unseren gegenwärtigen Problemen und bei der Verbesserung unserer Lebensumstände weiterbringen.

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  Aber es gibt Afrikaner, die die Auffassung vertreten, daß man, wenn man über Logik, über Frege und Russell usw. schreibt, nur an einer anderen Kultur, an einem anderen Diskurs, an der Philosophie einer anderen Kultur partizipiert und das alles für die afrikanische Kultur gar nicht relevant ist. Hier liegt ein großer Streitpunkt zwischen mir und den Traditionalisten und ich weiß nicht, ob es da eine Annäherung geben kann – auch wenn mich das freuen würde. Die Zeit wird es zeigen.


»Wenn man sich mit der Begriffsbildung beschäftigt, wird man herausfinden, daß es häufige Praxis ist, westliche Begriffe über unsere Denkinhalte überzustülpen.«

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  Kresse: Als letzte Frage zu diesem Punkt: Während Sie philosophische Probleme mehr und mehr in ihren kulturellen Kontexten beschreiben, sie kommentieren und systematisch einordnen, beschränken sich die Traditionalisten oder die Ethnophilosophen auf die bloße Beschreibung gemeinschaftlichen Denkens, ohne darüber hinauszugehen? Das scheint mir der zentrale Unterschied im Philosophieverständnis zu sein.


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  Wiredu: Ja, sie beschreiben, sie versuchen aber nicht einmal die Ereignisse zu interpretieren, geschweige denn, sie zu bewerten. Es wird uns nicht weiterhelfen, die Geschehnisse nur beschreibend nachzuerzählen. Diese Ansicht habe ich bereits in dem Aufsatz "On Defining African Philosphy" vertreten. Nur Erzählen reicht nicht aus. Wir müssen interpretieren. Die Interpretation ist der erste Schritt zur Begriffsbildung.

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  Wenn man sich mit der Begriffsbildung beschäftigt – dies bringt uns nun zum Thema Dekolonialisierung –, wird man herausfinden, daß es häufige Praxis ist, westliche Begriffe über unsere Denkinhalte überzustülpen. Unsere Denkweise wird in westlichen Kategorien beschrieben, wie z.B. dem Spirituellen (spiritual) und dem Übernatürlichen (supernatural). Ich glaube, daß diese Begriffe nicht passen und die Anwendung dieser Denkmodelle auf unser Denken unbedingt kritisiert werden muß. Das ist, glaube ich, der wirkliche Beginn der begrifflichen Entkolonialisierung. – Die Leute, die lediglich aus der Kolonialisierung stammende Begriffe aufrechterhalten, zelebrieren gerade nicht unser Erbe und unsere Kultur; sie scheinen keinen Schimmer von dem zu haben, was vorgeht. Sie wiederholen und beschränken sich weiterhin auf die fremden Begrifflichkeiten ...


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  Kresse: ... der Ethnologen.


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  Wiredu: Ja.



 Sprache und die Dekolonialisierung philosophischen Denkens in Afrika

Kwasi Wiredu:
"Toward Decolonizing African Philosophy and Religion".
In: African Studies Quaterly 1.4 (1997).
external linkArtikel

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  Kresse: Das ist bereits ein wichtiger Aspekt in Programm der Entkolonialisierung des afrikanischen Denkens. Wie man aus Ihren Ausführungen folgern kann, so sind Sie diesem Programm schon von Anfang an nachgegangen, haben es aber erst in den letzten Jahren explizit zum Schwerpunkt gemacht.

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  Dabei ist natürlich der entscheidende Punkt die Sprache. Sie beschreiben die Notwendigkeit, die Sprache, d.h. die Wörter, die philosophischen Begriffe vom kolonialen Ballast zu befreien. Mit einem Ausdruck von Ngugi könnte man sagen, daß auch eine Kolonialisierung des Geistes stattgefunden habe, und das Ziel nun sein müsse, den Geist auf allen verschiedenen Ebenen zu entkolonialisieren. Ngugi selbst bemühte sich auf literarischem Gebiet darum; Ihr Programm dagegen versucht, das philosophische Denken zu entkolonialisieren. In beiden Fällen können wir von einer Befreiung der Sprache sprechen, in der Afrikaner denken und sich ausdrücken.

»Wenn wir den Dialog beginnen, müssen wir uns der Unterschiede bewußt sein: Wir müssen die Differenzen untersuchen. Aber wenn wir die Unterschiede aufgedeckt haben, können wir an einer interkulturellen Bewertung arbeiten.«

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  Dabei gibt es nun mehrere Schwierigkeiten, allen voran vielleicht die Relativität der Sprachen, die philosophische Begriffe fundamental betrifft. Z.B. haben Sie selbst dargestellt, daß der berühmte Satz von Descartes, »Ich denke, also bin ich« (cogito ergo sum), in Ihrer Sprache, dem Akan, keinen vernünftigen Satz ergibt. Das scheint ein unlösbares Problem zu sein, da der Anfang der Philosophie ja unvermeidlich in der Sprache liegt, in der jemand spricht, mit deren Hilfe er die Welt erkennt und sie als sinnvoll konstruiert. Nehmen wir Sie als Beispiel: ein Akan, der in englischer Sprache studiert und so gelernt hat, auf Englisch zu philosophieren; bleibt da nicht immer ein Dilemma zwischen beiden Möglichkeiten? Sie können entweder auf Akan oder auf Englisch philosophieren, aber selbst beim gleichen Thema würden Sie dabei zwei verschiedene Wege des Philosophierens beschreiten.

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  Meine Frage ist: Muß nicht das Sprachproblem mit dem Projekt eines interkulturellen Dialogs verbunden werden, der, wenn er fair und offen für alle sein will (d.h. auf gleichberechtigter Grundlage geführt), vor allem auch die Gleichheit auf der Ebene der Sprachen absichern können muß? Könnten Sie Möglichkeiten skizzieren, wie das Sprachproblem in einem solchen Projekt des interkulturellen Dialogs zu überwinden wäre?


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  Wiredu: Sie haben das Problem treffend dargestellt, und es ist ein sehr bedeutendes. Ich habe es zumindest in zwei Artikeln diskutiert. Einer trägt den Titel "A Philosophical Perspective on Human Communication", der andere "Are there Cultural Universals?" (erschien zuerst in Quest). Ich versuche darin zu zeigen, daß die Menschen, obwohl sie verschieden sind, unterschiedliche Sprachen sprechen und beim Begreifen wichtiger Sachverhalte sehr verschiedene Wege gehen, dennoch gleichermaßen ungefiederte Zweibeiner sind und als solche auch abhängig von bestimmten grundlegenden Funktionskreisen mit der Umwelt. Weil sie diese gemeinsame Grundlage besitzen, können sie auch Gedanken austauschen, über Philosophie, Ethik oder was auch immer.

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  Wenn wir den Dialog beginnen, müssen wir uns der Unterschiede bewußt sein: wir müssen die Differenzen untersuchen. Aber wenn wir die Unterschiede aufgedeckt haben, können wir an einer interkulturellen Bewertung arbeiten. In diesem Sinne argumentiere ich in beiden Artikeln. Ich argumentiere also dafür, daß solche Auswertungen tatsächlich möglich sind. Und im Programm der Entkolonialisierung sehe ich tatsächlich zwei Stufen: Erstens müssen die Unterschiede herausgearbeitet werden, zweitens aber müssen wir "unabhängige Betrachtungsweisen" (independent considerations) verwenden. Ich meine damit Betrachtungsweisen, die von den Besonderheiten einzelner Sprachen oder Kulturen unabhängig sind; auf ihrer Grundlage kann man interkulturelle Bewertungen vornehmen.




»Im Programm der Entkolonialisierung sehe ich zwei Stufen: Erstens müssen die Unterschiede herausgearbeitet werden, zweitens aber müssen wir "unabhängige Betrachtungsweisen" verwenden, die von den Besonderheiten einzelner Sprachen oder Kulturen unabhängig sind; auf ihrer Grundlage kann man interkulturelle Bewertungen vornehmen.«

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  Wenn wir auf das Beispiel Descartes zurückkommen, eignet sich der Satz "Ich denke also bin ich" sehr gut zu diesem Zweck. Die Voraussetzung, um sum, "ich bin", sagen zu können, ist zuerst, daß es in der betreffenden Sprache so etwas wie das existenzanzeigende Verb "sein" gibt, das unabhängig (von allen besonderen Gegenständen, die "sind") gebraucht werden kann. Im Akan gibt es aber keine Entsprechung für das Wort "sein". An sich ist das kein Problem. Weil ich ein Akan bin, der Englisch versteht, kann ich die Entsprechungen trotzdem erkennen. An und für sich ist das überhaupt kein Problem.

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  Ich verstehe aber auch, daß ein Akan so etwas nicht sagen wird, weil er im Akan dafür nicht die geeigneten Wörter hat. "Ich denke" heißt in meiner Sprache medwin oder mesusu asem ("ich wäge ab"). Wenn ich versuche, so etwas wie ein existentielles sum zu konstruieren, so würde es etwas wie mewo sein. Das aber ergibt keinen Sinn. (Das offenbare Akan-Äquivalent wäre etwas wie mewo ho, was "ich bin da" bedeutet, dessen lokative Bedeutung aber den Gesichtspunkten der Epistemologie und der Metaphysik des cogito zuwiderläuft). Wir haben hier ein strukturelles Problem. Der Verlauf der philosophischen Argumentation hingegen kann von einem Akan, der sich bemüht, Latein, Englisch, Französisch, Deutsch oder verwandte Sprachen zu lernen, durchaus verstanden werden. Wenn er diese Sprachen erlernt, so kann er auch erkennen, was es mit Descartes' Satz auf sich hat.

»Die Struktur der Sprache gibt je verschiedene Weisens des Sprechens und des Denkens und Argumentierens vor. Aber wenn wir gegenseitig unsere Sprachen erlernen, werden wir fähig sein, eine Menge dieser übersetzerischen Dinge zu überwinden und uns auf die zentralen Punkte zu konzentrieren.«


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  Die Struktur der Sprache gibt je verschiedene Weisens des Sprechens und des Denkens und Argumentierens vor. Aber wenn wir gegenseitig unsere Sprachen erlernen, werden wir fähig sein, eine Menge dieser übersetzerischen Dinge zu überwinden und uns auf die zentralen Punkte zu konzentrieren. Um gegen Descartes zu argumentieren, reicht es nicht aus, nur zu sagen, sum gibt es in meiner Sprache nicht, und deshalb ist der Satz von Descartes Unsinn. Nein! Ich muß weitergehen, mein Argument auf Englisch entwickeln und feststellen, daß ich eine Kritik auf Englisch vorbringen kann, die der Tatsache Rechnung trägt, daß ich vom Akan ausgehe. Das ist freilich erst der Anfang, der Anfang eines unendlichen Fortschreitens.

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  Ich glaube, Sie können jedes andere Thema hernehmen, das ich in meiner Diskussion der Entkolonialisierung berührt habe, und immer einen "unabhängigen Disput" entwickeln. Ich glaube auch, daß, wenn ein Fremder, der Akan gelernt hat, eine solche Kritik beginnen würde, auf umgekehrte Weise etwas ähnliches leisten kann, indem er in Akan denkt und innerhalb der Akan-Sprache Argumente entwickelt, um zu zeigen, daß einige Dinge der Korrektur bedürfen.



 Interkulturell denken – vielsprachig denken?

Ngugi wa Thiong'o

Ngugi wa Thiong'o



Siehe seine Essays:

"The Allegory of the Cave: Language, Democracy and a New World Order!"
In: Black Renaissance/ Renaissance Noire 1.3
external linkArtikel

"Europhonism, Universities, and the Magic Fountain: The Future of African Literature and Scholarship"
In: Research in African Literatures 31
external linkArtikel


32

  Kresse: Ich stimme zu, und ich denke, daß Ihre Position als Beispiel genommen werden kann für jemanden, der Philosophie dazu drängt, interkulturell zu werden und sich dabei dieses Problem grundsätzlich bewußt zu machen. Ich neige dazu, das, was Sie bezüglich der Möglichkeit von Philosophen zu einem interkulturellen Dialog gesagt haben, als einen Hinweis auf die Notwendigkeit von Mehrsprachigkeit aufzufassen. Ein Philosoph muß also fähig sein, in verschiedenen Sprachen zu leben und zu denken, sonst kann diese Problem nicht gelöst werden. Ist das richtig?


33

  Wiredu: Nun, das wäre das Ideal. Aber die Zeit ist kurz, und viele Philosophen werden wohl in derselben Sprache verbleiben. Zumindest sollten diejenigen, die an interkultureller Philosophie interessiert sind, den Wunsch haben, auch in anderen Sprachen zu philosophieren, ganz besonders in Sprachen, die sehr verschieden von der eigenen sind. Sie könnten dann sehen, was durch interkulturelle Auswertungen erreicht werden könnte.


34

  Kresse: Wir sprachen vorhin von Ngugi und dem analogen Problem der afrikanischen Literatur. Ngugi ist ein Vorkämpfer der afrikanischen Literatur, so wie Sie ein Vorkämpfer der afrikanischen Philosophie sind. Ngugi zog daraus die Konsequenz, nicht mehr auf Englisch, sondern nur noch auf Gikuyu, seiner Muttersprache, zu schreiben. Seine darauf folgenden Bücher wurden inzwischen ins Englische und auch in andere Sprachen übersetzt. Wenn diese Konsequenz richtig ist, warum gehen Sie nicht den gleichen Weg und philosophieren in Akan? Ich glaube wirklich, daß diese Analogie zwischen Literatur und Philosophie viel für sich hat, vielleicht können Sie Ihren Standpunkt dazu erklären.


35

  Wiredu: Ich fürchte, daß ich nicht so bedeutend bin wie Ngugi. Wenn ich meine Texte in Akan schriebe, so würde sie, glaube ich, niemand übersetzen. Abgesehen davon hat allein Ghana 46 Sprachen. Es wäre schon ein großes Problem, wenn ich an der Universität Legon in Ghana auf Akan unterrichtete. Gegenwärtig ist das nicht praktikabel. Selbst wenn Ghana nur eine einzige Sprache hätte: wie sollte ich mich dann mit Bodunrin in Nigeria oder mit Odera Oruka (seligen Angedenkens) in Kenia verständigen? Es ist einfach nicht praktikabel für uns, zu diesem Zeitpunkt in unserer eigenen Sprache zu arbeiten.

Brandon Brown:
Subversion versus Rejection: Can Postcolonial Writers Subvert the Codified Using the Language of the Empire?
external linkArticle


Heather Sofield:
Postcolonial Identity and the Position of English in African Literature.
external linkArticle

36

  Jemand wie Ngugi ist vielleicht eine Ausnahme. Er ist sehr bedeutend, und wenn er etwas schreibt, dann kommt sofort jemand und übersetzt es. Wenn es aber nicht übersetzt wird, dann ist es für alle, die nicht Gikuyu sprechen, für die Völker in Ghana und in den meisten anderen Ländern unzugänglich. Vielleicht gelingt es Afrika in einiger Zukunft ja, eine eigene Verkehrssprache anzunehmen. Wenn das geschähe, dann wäre die Idee schon praktikabel. Das wäre aber auf keinen Fall eine einfache Sache, und wir müßten versuchen sicherzustellen, daß eine einzelne afrikanische Sprache zur Verkehrssprache erhoben nicht ebenfalls eine "Fremdsprache" für die meisten Afrikaner wäre.


37

  Kresse: Würden Sie persönlich für Swahili oder für Hausa optieren – um nur zwei konkrete Beispiele für eine mögliche afrikanische Lingua franca anzuführen?


38

  Wiredu: Vielleicht eher nicht Hausa. Persönlich fühle ich mich zwar zu Hausa hingezogen, weil ich als Kind gewohnt war, diese Sprache zu sprechen und sie daher einfach mag. Aber ich möchte nicht, daß diese Partikularität mein Urteil beeinflußt, wirklich nicht. Ich habe niemals Swahili gelernt, und weiß auch nicht, wie sehr diese Sprache irgend einer afrikanischen Kultur nahesteht. Wenn wir uns aber für Swahili entschieden, dann müßten wir auch darin leben. Vor allem – darauf kommt es mir an –, sollten wir uns davor hüten, daß daraus zu sehr eine Zweitsprache wird, wir müßten wirklich darin leben.



 Ethik und Moral

»Den Begriff der Moral verwende ich dagegen im strengen Sinne als etwas Universelles. Ich verstehe unter Moral Regeln, die für die menschliche Gemeinschaft absolut notwendig sind. Ohne solche Regeln, denke ich, kann keine Gesellschaft menschlich sein.«

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  Kresse: Ich möchte gerne noch auf ein eher klassisches Gebiet der Philosophie zu sprechen kommen, und zwar auf die Unterscheidung zwischen Moral und Ethik. Sie sind als Universalist bekannt, als Rationalist, der überall großen Wert auf Argumente legt. Auch in der Debatte über interkulturelle Vergleiche haben Sie dafür argumentiert, daß auf beiden Seiten des Vergleichs dieselben grundlegenden Ausgangspunkte und Kriterien angewendet werden müssen. Würden Sie in diesem Sinne Ethik als den entwickelten, systematisch begründeten Begriff definieren, Moral hingegen als inhärentes Moment jeder Kultur, für die man explizit eintreten oder argumentieren muß? Wie unterscheiden Sie beide Begriffe?


40

  Wiredu: Ich unterscheide weniger zwischen Ethik und Moral, als zwischen Moral und Sitte. Die Sitten können von Kultur zu Kultur verschieden sein, was nicht heißt, daß sie notwendigerweise etwas Irrationales darstellen. Einige Sitten können irrational sein, einige auch einfach dumm, aber sie müssen weder das eine noch das andere sein. Vor allem können sie sich von Epoche zu Epoche und von Ort zu Ort fließend verändern. Den Begriff der Moral verwende ich dagegen im strengen Sinne als etwas Universelles, wobei ich natürlich weiß, daß der Begriff manchmal auch locker und in einem weiten Sinne verwendet wird, so daß er auch die Sitten miteinbezieht. Ich jedenfalls verstehe unter Moral Regeln, die für die menschliche Gemeinschaft absolut notwendig sind. Ohne solche Regeln, wie z.B. die, die Wahrheit zu sagen, denke ich, kann keine Gesellschaft menschlich sein. Es gibt aber auch viele und sehr wichtige Regeln für das menschliche Zusammenleben, die nicht universell sind, sondern Sitten, die sich von Gesellschaft zu Gesellschaft verändern können.

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  Ein Problem erscheint dann, wenn eine Gesellschaft ihre Sitten einer anderen aufzuzwingen versucht, und zwar unter dem Deckmantel einer universellen Moral. Ich glaube, daß z.B. die Christen sich in dieser Hinsicht viel zu Schulden haben kommen lassen, u.a. mit ihren Heiratssitten. Sie haben unseren Leuten mit großem Erfolg ihre Heiratszeremonien aufgezwängt. Weil diese Frage nicht immer ganz einfach ist, müssen wir sie philosophisch durchdenken und Prinzipien aufstellen, um Moralität und Sitte klar voneinander trennen zu können. Ich habe das im Aufsatz "Custom and Morality" versucht. Moralität wäre dann ein auf rationalen Prinzipien beruhendes System mit dem Zweck, die menschlichen Interessen in der Gesellschaft miteinander in Einklang zu bringen und zu erhalten.



 Das Projekt eines interkulturellen Diskurses im afrikanischen Kontext

»Wenn wir unsere politische Tradition genau betrachten, so sehen wir, daß der Konsens ein überaus wichtiger Faktor dieser Tradition war.«

42

  Kresse: Noch einmal zurück zum interkulturellen Dialog und seinen praktischen Implikationen. In dem Aufsatz "Problems of Africa's Self-Definition" bezeichnen Sie das Problem afrikanischer Identität als ernstes philosophisches Problem. Könnte man nicht mit ebenso gutem Recht behaupten, daß es sich dabei ebenso oder vielleicht eher um ein psychologisches oder politisches Problem handelt? Dies berücksichtigend, und mit der Einschätzung der Möglichkeiten eines interkulturellen Dialogs auf gleichberechtigter Ebene verbindend – der natürlich praktische Folgerungen beinhaltet –, welche Erwartungen oder Hoffnungen setzen Sie auf einen solchen Dialog im Hinblick auf konkrete politische Veränderungen in Afrika?


43

  Wiredu: Im Hinblick auf politische Veränderungen ist z.B. Demokratie ein wichtiger Leitbegriff. Gelänge es, die Demokratie auf das aus der afrikanischen Tradition überlieferte Prinzip des Konsens zu begründen, so führte das, wie ich glaube, zu einer Form von Demokratie, die derjenigen, die ich aus Amerika kenne, überlegen ist. Das wäre ein sehr bedeutsames philosophisches Projekt, auch ein Projekt zum afrikanischen Selbstverständnis, zur Identität. Wenn wir unsere politische Tradition genau betrachten, so sehen wir, daß der Konsens ein überaus wichtiger Faktor dieser Tradition war. Natürlich können wir nicht exakt die gleiche Form der Volksvertretung zugrundelegen wie in früheren Zeiten. Wenn wir aber das großartige Verfahren der Konsensbildung achten, das bisher unsere Politik gekennzeichnet hat, dann handeln wir auf eine Weise, die unserer Identität mehr entspricht, als wenn wir uns an der Identität messen, die uns andere Leute aufzudrängen versucht haben.


44

  Kresse: Daraus ergibt sich eine Frage. In gewisser Weise ist Ihr Werk bereits gelebte interkulturelle Philosophie. Haben Sie, als afrikanischer Philosoph im amerikanischen Kontext die Möglichkeit, die amerikanischen Erfahrungen fruchtbar mit Ihren praktischen Interessen zu verbinden, auch im Hinblick auf Ihr Heimatland?


 

45

  Wiredu: In Amerika kann ich die Entwicklung der afrikanischen Philosophie mehr voranbringen, als ich dazu zu Hause in der Lage wäre.


46

  Kresse: Inwiefern?


Kwame Anthony Appiah

Kwame Anthony Appiah





47

  Wiredu: Vor allem, weil sich hier mehr Gelegenheiten zu interkulturellem Austausch bieten. Die intellektuelle Arbeit ist leichter, es gibt bessere Möglichkeiten für Publikationen und dergleichen. Obwohl es natürlich eine Abwanderungswelle von Wissenschaftlern aus Afrika gibt, hat dieses Phänomen auch eine zweite Seite, denn es zeigt sich, dass man eine ganze Menge für die afrikanische Philosophie tun kann, was man zu Hause nicht tun könnte. Die zeitweilige Abwesenheit von der eigenen Kultur kann hilfreich sein. Natürlich habe ich vor, zurückzukehren. Ich weiß nicht, wie es sich bei anderen afrikanischen Kulturen verhält, bei den Akan jedenfalls kann man seine Kultur nicht einfach verlassen und abtrünnig werden. Man geht nicht einfach weg und bleibt für immer woanders.


48

  Kresse: Eine letzte Frage in bezug auf einen Ihrer Kollegen: Kwame A. Appiah argumentiert emphatisch für einen individuellen Zugang zur Philosophie, gerade im afrikanischen Kontext. In seinem Buch In My Father's House kritisiert er z.B. auch den Begriff der Rasse (race), wie er in der afro-amerikanischen Diskussion verwendet wird. Wie stehen Sie zu diesem Ansatz, der das Individuum im Kontrast zu afrikanischer Identität (und allgemeinen Begriffen zu afrikanischem Denken) in den Mittelpunkt stellt?


Kai Kresse
lehrt afrikanische Philosophie und Sozialtheorie an der SOAS, University of London, wo er auch promoviert.

49

  Wiredu: Appiah behauptet nicht, daß sich die Philosophie ausschließlich auf das Individuum konzentrieren soll. Er interessiert sich auch für die philosophischen Gedanken der verschiedenen Gemeinschaften. Vor allem warnt er vor übereilten Generalisierungen in bezug auf ganz Afrika, aber auch in bezug auf einzelne Gruppen, wie z.B. die Akan in Ghana. Er möchte sicher gehen, dass alles Individuelle einfühlsam berücksichtigt wird, auch die verschiedenartigen Aspekte der Gedanken, die in einer Tradition jemals gedacht worden sind. Er möchte auf diese Weise eine sorgfältige Erforschung individueller Kulturen mit individuellen Anstrengungen verbinden. Ich sehe keinen signifikanten Unterschied zwischen seinem Ansatz und meinem.

50

  Kresse: Prof. Wiredu, vielen Dank für das Gespräch.


Literatur


Wiredus Bücher enthalten die im Interview erwähnten Artikel:


Kwame Anthony Appiah (1992): In my Father's House. Africa in the Philosophy of Culture. Oxford – New York: Oxford University Press.

Kwasi Wiredu (1980): Philosophy and an African culture. Cambridge: University Press.

Kwasi Wiredu (1996): Cultural Universals and particulars. Bloomington: Indian University Press.

Kwasi Wiredu / Kwame Gyekye (ed.) (1992): Person and community. Washington: Smithsonian (Ghanaian Philosophical Studies 1).



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