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Claudia Bickmann

Philosophie und Religion im Widerstreit

Etappen einer Problementfaltung im Horizont abendländischer Philosophie:
Platon, Hegel, Derrida

English
Summary

The aim of this essay is to draw attention to three different ways to interpret the relation between philosophy and religion within the horizon of Western thought development. Three major types will be distinguished: a) In concern of Platos Philosophy we ask: Is Religion regarded as the secret goal of our philosophical endeavour? b) Related to the Hegelian philosophy the question is: Does philosophy absorb religion or does Hegel understand philosophy itself as an enlightened, advanced type of a philosophy of religion? c) As a third model we analyse the deconstructive method of Jacques Derrida. Even though Derrida rejects all philosophical claims to reach beyond the limits of our verbal expressions, we ask, does Derrida really abandon the grounding sphere of religion and belief?
As for Plato our dianoetic approach may serve only heuristically as a means to approach to the grounding principle of being and thinking, but it must fail to define the highest principle in itself. Hegel tries to overcome these conceptual limitations by progressively incorporating the ›idea of the absolute‹ into the process itself. Derrida finally radicalises the idea of immanence without transcendence. But, as we argue, he does not abandon the horizon of the ›noumenal sphere‹. The idea of an ›originated text‹, ›La Différance‹, indicates a domain of transcendence, which may be addressed – only via negativity – by radical deconstructive thinking.

Inhalt

españolespañol

1. Einleitung

1.1 Zum Verhältnis von Glauben und Wissen in der westlichen Philosophie





»Dem Glauben an das Wissen ist ein Wissen um das im Kern nur intuitiv fassbare Fundament allen Wissens gewichen. Keine der vorherrschenden neuzeitlichen Position westlicher Philosophie besteht mehr auf der Suche nach einem gesicherten Fundament unseres Wissens. Die Philosophie ist bescheidener geworden.«
1 Seit Beginn der Selbstverständigung über die Grundlagen der Philosophie gehört die Auseinandersetzung darüber, wie zwischen Glauben und Wissen eine deutliche Grenzziehung möglich sei, zu den Kernfragen der europäischen Philosophie. Dass sich insbesondere seit der Aufklärung zwischen den eher rationalitätsorientierten okzidentalen Philosophien und den außereuropäischen traditionsbezogenen Formen philosophischer Selbstverständigung ein Streit um die Geltungsgrundlagen von Rationalität und Wissen entspann, hat seine Wurzeln in den je unterschiedlichen Auslegungen des Verhältnisses zwischen Glauben und Wissen. Der besonderen Entwicklungsdynamik dieser Problemstellung im Horizont westlicher Philosophien möchte ich die folgenden Ausführungen widmen.
2 Meine These lautet: Innerhalb der Rationalitätsorientierung westlicher Philosophien haben neuzeitlich die Frühromantik, die Hermeneutik und Lebensphilosophie wie auch in abgewandelter Form die analytische Philosophie und der Dekonstruktivismus auf das nur mehr intuitiv fassbare Fundament allen Wissens verwiesen und damit an den Grenzen von Vernunft und Rationalität erneut dem Glauben Platz gemacht. Dem Glauben an das Wissen ist ein Wissen um das im Kern nur intuitiv fassbare Fundament allen Wissens gewichen. Keine der vorherrschenden neuzeitlichen Position westlicher Philosophie besteht mehr auf der Suche nach einem gesicherten Fundament unseres Wissens. Die Philosophie ist bescheidener geworden.
3 Bezogen auf die Kernthematik, das Verhältnis von Religion und Philosophie, wird im Folgenden typologisch argumentiert: Die drei ausgewählten Positionen sind je repräsentativ für eine Traditionslinie, die in allen drei genannten Fällen wirkungsmächtig geworden ist. Dabei werden Grenzmodelle vorgestellt, die der Religion eine je unterschiedlichen Stellung zuweisen. Entweder es gilt erstens im Horizont der platonisch-neuplatonischen Philosophie die Religion – in der Anähnlichung an Gott – als Ziel unseres philosophischen Weges oder es wird zweitens in der Philosophie Hegels die Philosophie zum Leithorizont der Religion, oder aber es wird drittens im Horizont neuerer französischer Philosophie eine Dekomposition ihrer unterschiedlichen Ansprüche erstrebt.
4 Die folgenden Analysen suchen damit im Horizont dreier repräsentativer Traditionslinien des abendländischen Denkens einen Ort der Reflexion und Selbstverständigung über das Spannungsfeld zwischen Religion und Philosophie, um in Kontinuität und Wandel dieses Grundproblems Anschlussmöglichkeiten für eine Auseinandersetzung zwischen europäischen und außereuropäische Traditionslinien deutlich werden zu lassen.
5 Der Weg in eine Überwindung der Trennung zwischen Glauben und Wissen – wie sie sich im Dekonstruktivismus Derridas und Levinas ankündigt – relativiert das Wissen und macht den Weg in einen dogmenfreien Glauben frei. Diese eher skeptische Entwicklungslinie abendländischen Denkens, wie sie – neben der Hermeneutik und auch der analytischen Philosophie – vielfach in den Reflexionen über die Grundfragen des Taoismus, Buddhismus und auch im Islam in Betracht gezogen wird, macht jenen ›Polylog‹ möglich, der die einzelnen Traditionsstränge aus der Hermetik ihrer kulturellen Herkunftswelten befreit und in ein Gespräch bringt, das sich allen Einwänden und Anregungen – aus welchen philosophischen Traditionen auch immer – zu öffnen vermag. Unsere Annäherung bleibt zunächst auf die Entfaltung der spannungsreichen Beziehung zwischen Philosophie und Religion im abendländischen Denken beschränkt.

1.2 Der zweifache Richtungssinn philosophischer Analyse

Peter Forrest:
The Epistemology of Religion.
In: Stanford Encyclopedia of Philosophy.
2002.
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Evgeniy Arinin:
Principles for Cognizing the Sacred.
Paideia World Philosophy Conference Paper.
1998.
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Andrzej Bronk:
Truth and Religion Reconsidered: An Analytical Approach.
Paideia World Philosophy Conference Paper.
1998.
external linkArtikel


Brigitte Dehmelt Cooper:
European Philosophy and Religion in Millenniums lasting Dispute.
Paideia World Philosophy Conference Paper.
1998.
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Hendrik Hart:
Philosophy's Prejudice Towards Religion.
Paideia World Philosophy Conference Paper.
1998.
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Walter Van Herck:
The Role of Tacit Knowledge in Religion.
Paideia World Philosophy Conference Paper.
1998.
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6 Wollen wir uns über Gegenstand, Ziel und Erkenntnisart der Philosophie verständigen, um sie von andern möglichen Zugangsarten wie unserem natürlichen Weltverhältnis, der Religion oder den Wissenschaften zu unterscheiden, so werden wir nicht allein ihre Fragen, Probleme und Traditionen, sondern ebenso auch die Wege und Weisen nennen müssen, durch die wir uns an philosophische Fragen annähern wollen. Ein zweifacher Richtungssinn prägt den Ausgang des philosophischen Bemühens:
7 a) Der erste Richtungssinn beginnt ›von unten aus‹ eine Annäherung an philosophische Problemstellungen, indem er ausgehend von unserem natürlichen, unserem religiösen Weltverhältnis oder wissenschaftlichen Weltbezug in jene Sphären auszugreifen sucht, die sich nur in reflektierender Perspektive erschließen. Nach diesem Philosophieverständnis gewinnt Philosophie ihren Stand aus einer distanziert reflektierenden Betrachtung der jeweiligen Vorverständnisse und Präsuppositionen, die in das natürliche oder religiöse Weltverhältnis wie unsere wissenschaftlichen Analysen eingelagert sind. Es ist dies der Weg, den Platon in seinen Dialogen entfaltet (hier werden wir vom Einzelnen zum Allgemeinen nach Begriffen geführt); es ist der Weg, den Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik programmatisch zur Sprache bringt; er bestimmt den Richtungssinn der kantischen Vernunftkritik ebenso wie den Gang von Hegels Phänomenologie des Geistes.
8 b) Der zweite Weg, er ist philosophie-immanent wie -transzendent zugleich, markiert den Ziel- und Fluchtpunkt der philosophischen Bemühungen. Sein Richtungssinn wird im ›Überstieg‹ über den Begriff – im Begriff des Begriffes – erreicht, indem selbst die Prämissen philosophischer Selbstverständigung noch auf Gründe gebracht werden sollen. Richtungsweisend für diese Traditionslinie ist die Philosophie Platons wie des Neuplatonismus.
9 Die Idee lautet: Insofern alles Philosophieren von einem leitenden Ziel getragen ist, so wird sich dieses Ziel als die organisierende Mitte aller gedanklichen Bemühungen erweisen. Dieser Ziel- und Fluchtpunkt philosophischer Reflexion erhielt in den verschiedenen philosophischen Traditionen je unterschiedliche Gestalt: Im Horizont der platonischen Philosophie galt er als die Idee des Guten, auf die alle theoretischen wie lebenspraktischen Bemühungen als ihr heimliches Telos bezogen sind. Aristoteles galt das Prinzip des unbewegt Bewegenden als Fluchtpunkt aller Seinsbereiche, indem das göttliche Urprinzip alles andere – nach der Art eines Geliebten – bewegt, ohne selbst bewegt zu sein. In Kants Systemidee finden wir die Idee der Übereinstimmung aller theoretischen und praktischen Aktivitäten in einer Welt unter moralischen Gesetzen als das leitende Telos seiner Philosophie. Hegel findet im Geistwerden des Göttlichen wie im Prozess seiner Selbstdurchlichtung das Ziel seiner systematischen Annäherung.
10 Bezogen auf jenes systemtragende Prinzip kann jedoch gelten, dass es nicht selbstgenügsam in der Gestalt einer bloßen Setzung erscheinen kann, sondern dass es selbst einer Rechtfertigung bedarf. Aus der Schwierigkeit einer solchen Rechtfertigung des systemtragenden Prinzips sind philosophiegeschichtlich – im Horizont abendländischer Traditionen – drei extreme Lösungsversuche entstanden. In groben Zügen entsprechen diese Lösungswege den Hauptetappen der Entwicklung des Verhältnisses von Religion und Philosophie. Sie werden uns im folgenden als Leitfaden der Annäherung dienen. Knapp skizziert lassen sie sich wie folgt beschreiben:
11 a) Entweder das Prinzip sollte als Grund von allem nicht mehr an dem teilhaben können, was aus ihm begreiflich zu machen war (dies der aporetische, der platonisch-neuplatonische Weg, der im ersten Teil der Untersuchung zur Sprache kommt).
12 b) Oder es sollte das höchste (göttliche) Prinzip als immanent und transzendent zugleich gelten (dies der Aristotelische und Hegelsche Weg, dem wir uns im zweiten Teil zuwenden).
13 c) Oder aber die Fragestellung selbst wurde aufgegeben – aufgrund der Gefahr der Ausweglosigkeit der beiden erstgenanten Lösungen: des Regresses, der Zirkularität oder der Dogmatik (dies der skeptische Weg, den wir mit Blick auf die Position von Jacques Derrida ins Auge fassen wollen).

1.3 Die Frage nach den besonderen Erkenntnisquellen der Philosophie

Was muss im Denken geschehen, damit es seine eigenen Quellen zu Bewusstsein bringen sowie in erkenntniskritischer Perspektive den Vernunftbegriff selbst noch relativieren und auf ein Prinzip zurückführen kann? 14 Mit dieser Fragestellung sind wir – typologisierend – bereits auf die Fährten der Frage nach den besonderen Erkenntnisquellen der Philosophie sowie auf dem Wege der Suche nach dem Verhältnis von Philosophie und Religion gebracht. Dass die drei genannten Lösungswege jedoch auch geschichtlich parallel oder einander überschneidend wirksam waren, ist dabei unbenommen. Sie gleichwohl in einer historischen Reihenfolge zu behandeln, liegt an ihrem Übergewicht, das sie in der einen oder anderen Epoche entfaltet haben.
15 Die Selbstaufklärung der Philosophie über ihre eigenen Erkenntnisquellen und damit einhergehend der Versuch, an die Grenzen dessen vorzustoßen, was klar und deutlich gesagt werden kann, macht es zunächst erforderlich, im Denken das ›Denken als Tätigkeit‹ vom ›Gedachten als dem Gegenstand dieser Tätigkeit‹ zu unterscheiden. Im Denken aber über das Denken hinausgreifen zu wollen, führt zugleich in die Schwierigkeit, nach der ein jeder Gedanke an das transzendent Vermeinte stets immer zunächst auch ›Gedanke‹ ist. So erreichen wir im Denken gerade nicht den erstrebten ›Überstieg über das Denken‹, mithin also jenen Ort, den wir als vor-denklich, als prä-rational oder prä-prädikativ beschreiben könnten. Dies aber wäre gefordert, wenn wir auf Erkenntniswegen in den Grund selbst der Möglichkeiten des Philosophierens hineinzufragen und damit die Grenze zwischen Glaubensgewissheit und Erkenntnisanspruch suchen wollen. Bezogen auf die Suche nach einem systemtragenden Prinzip – sei es der Idee des Guten, des Unbewegt Bewegenden oder eines anderen göttlichen Prinzip – geraten wir darum in jene aporetische Lage, nach der der Überstieg über den Begriff nur begrifflich gelingt und damit das Vorbegriffliche im Begriffe erlischt.
16 Damit ist nun bereits der neuralgische Punkt benannt, an dem eine Grenzbestimmung zwischen Philosophie und Religion greifbar wird. Wie, so lautete die Kernfrage, soll angrenzend an unser Wissen, jenes Un-vordenkliche, jenes nicht mehr Rationalisierbare, als Grund und Quelle selbst noch des Wissens offenbar werden können? Was muss im Denken geschehen, damit es seine eigenen Quellen zu Bewusstsein bringen sowie in erkenntniskritischer Perspektive den Vernunftbegriff selbst noch relativieren und auf ein Prinzip zurückführen kann? Ob dieser vorphilosophische Ort dann Mythos, Religion oder neuzeitlich auch Kunst genannt wird, kann dabei in einem ersten Schritt zunächst vernachlässigt werden.
17 In welchem Punkte, so die Frage, finden Philosophie und Religion zusammen, wo liegen die Unterschiede? Und warum sollte überhaupt die Philosophie in einer Grenzbetrachtung ihres Erkenntnisbegriffs auf dasjenige hinausführen, was wir Religion, Gewissheit oder den Glauben nennen? Unsere Annäherung im Horizont der abendländischen Transformationen des Spannungsfeldes zwischen Religion und Philosophie erfolgt – nach der genannten Problemanlage – in drei Schritten:
18 – Er beginnt mit Idee der Philosophie als Religion (Homoiosis theou) im Rahmen der Philosophie Platons,
– geht über zur Religion im Horizont der Philosophie (Hegels Einheit von Kunst, Religion und Philosophie)
– und sichtet schließlich die Konsequenzen der aufgelösten Trennung von Religion und Philosophie (am Beispiel von Jacques Derrida Konzept der Différance).

2. Die Philosophie auf dem Wege der Anähnlichung an Gott: Platons Idee der ›Homoiosis theou‹

Peter Möller:
Platon.
In: philolex.
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The Radical Academy:
The Philosophy of Plato.
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Amélie Frost Benedikt:
Runaway Statues: Platonic Lessons on the Limits of an Analogy.
Paideia World Philosophy Conference Paper.
1998.
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19 Philosophie, so Platons Idee, ist Weg und Weise der Annäherung an das höchste und erste Prinzip. Das Prinzip selbst kann dabei nicht mehr durch die Mittel vergegenwärtigt werden, die zuallererst aus ihm begreiflich zu machen sind. Denn, so das Argument, ›wenn Eins ist‹ (so die erste Hypothese des Parmenides), 1 dann können wir ihm nicht mittels Urteilsbildung Kategorien zusprechen, die eine Differenz in das Eine setzen; wir müssen ihm vielmehr, um es in seiner Indifferenz gegenüber aller Differenz zu bewahren, alle Kategorien absprechen, die je einem Seienden zugesprochen werden können. 2 Denn unter mögliche Kategorien gebracht, wäre es in seiner Stellung, Grund der Möglichkeit von Differenz und Mannigfaltigkeit zu sein, verloren.
20 Es gälte dann entweder als eine höchste Substanz, der die ausgedehnte Materie und das Denken als seine Attribute zugesprochen werden (dies die Lösung, die Spinoza wählte), oder es wäre das erste Kausalprinzip, aus dem das Seinsganze als sein Derivat abgeleitet werden kann (dies die kosmotheologische Lösung) oder aber es wäre der immanente Grund der Wechselwirkung aller Prädikate (wie im Horizont physikotheologischer Annäherung an das höchste Prinzip). Da das höchste göttliche Prinzip aber auf diese Weise bereits an demjenigen einen Anteil hätte, das aus ihm zuallererst folgen soll, so hat die negative Theologie eine von dieser kategorialen Annäherung unterschiedene Konsequenz gezogen: Im Horizont der ersten Hypothese des Parmenides sollen alle relationalen Versuche der Annäherung an das höchste Prinzip verneint und nach einem indifferent Einen gesucht werden, das selbst noch jenseits der höchsten Relationalität von Denken und Sein angesiedelt werden muss.
21 Ein indifferent Eines aber ruft die Schwierigkeit hervor, wie denn Prinzip und Prinzipiat aufeinander bezogen sind, wenn nicht zirkulär im Prinzip bereits vorausgesetzt werden soll, was erst aus ihm begreiflich zu machen ist. Ebenso aber verstellt umgekehrt die gesuchte Indifferenz des Einen jeden Weg zur Ableitung von Differenz und Mannigfaltigkeit.
22 Plotin sucht zur Lösung dieser Schwierigkeit die Gestalt der indirekten Rede, der Rede des ›Als-ob‹. Da ihm das höchste Prinzip als in sich undenkbar und unzugänglich erschien, sollte es, so Plotin, nur nach dem Muster des ›Als-ob‹ im Horizont einer ›uneigentlichen‹ Rede auf indirekte Weise zu erfassen sein. Selbst der Begriff, die Sphäre des reinen Denkens, galt ihm darum nur als ein Bild, als eine indirekte Weise der Annäherung an das höchste Prinzip. 3 Der Begriff war so zur Heuristik der Annäherung depotenziert, nicht aber sollte er das Medium und die Weise sein, in dem sich das erste Prinzip in seinem eigenen Selbstsein, in seinem An-sich- oder in seinem reinen In-sich-Sein erschließt.
23 Der Hiat zwischen der annähernden Gestalt unserer diskursiven, der dianoetischen Rede, und dem zu erschließenden Gehalt des Einen als Grund von Allem, bleibt unüberbrückbar, die Differenz zum indifferenten Ort jenseits und vor allem Denken und Sein gewahrt. 4 Diese Spannung setzt Platon in seiner Ausdeutung des Liniengleichnisses der Politeia ins Bild: seine Rede von jenem höchsten lichthaften Ursprung, der nur epekeina tes ousias, jenseits des Seins, in einem glückhaften Augenblick zu erfassen ist, ist deutlicher Hinweis auf einen über-seienden und über-denkenden Ursprung: 5 Was die Einheit von Denken und Sein ermöglichen soll, so der Gedanke, kann nicht mehr auf derselben Ebene und mittels derselben Kategorien gedacht werden, wie dasjenige, was aus ihm folgen soll.
24 Die Frage lautet also: Wie kann jenes höchste Prinzip von Allem zu erfassen sein, wenn es weder in unseren Seinsgedanken noch in unserem Denken einen angemessenen Ort finden kann? Als ortloser Ort jenseits von Denken und Sein wird es dann zwar – nach der Art einer Heuristik der Annäherung – nur auf dem Wege des Denkens, nicht aber mehr innerhalb seiner Grenzen zu finden sein. Das Denken wird dann zwar den Weg in seinen eigenen Ermöglichungsgrund weisen können, als Grund seiner Möglichkeit aber wird jenes Prinzip nicht mehr im und für ein Denken in seinem In-sich-Sein zu erfassen sein.
Philosophie wird zur Religion: Philosophie ist Dienerin einer ihr vorausliegenden höheren Ordnung; sie wird in den Dienst jenes urbildlichen Urprinzips gestellt, das auf philosophischem Wege zwar entborgen (a-leiteia) werden kann, welches aber nicht mehr in den Grenzen der Philosophie selbst zu erfassen ist. 25 Dies anzuzeigen wählt Platon den Weg der dialogischen Annäherung an den Gegenstand der Rede: Im Wechselspiel zwischen einer jeweils gesetzten Thesis und der erwidernden Analyse der Präsupposition dieser Thesis – durch die das im Gesagten Nicht-Gesagte, mit dem Gesagten aber Vermeinte zum Ausdruck gebracht werden kann – werden Akte der Reflexion in Gang gebracht, die jeweils auf nächsthöherer Stufe aufhellen, was auf der vorherigen Stufe der Rede unaufgeklärt geblieben ist. So bringt die Analyse der leitenden Voraussetzungen der Rede das je Vermeinte, aber nicht Gesagte – im Gesagten aber Mit-Gesagte – zur Sprache.
26 Dieser Prozess lässt sich nun bis in die höchsten Bedingungen alles Denkbaren vorantreiben und damit das Geflecht gegebener Voraussetzungen bis zu dem Punkte zurückverfolgen, der keiner weiteren Voraussetzung mehr bedarf, weil er als das Fundament aller Präsuppositionen gelten kann. Auf dem Wege regressiv analytischer Betrachtung wird dann auf zweifache Weise jener höchste systemtragende Ort erreicht:
27 a) Entweder es wird im Horizont einer Elementarlehre – vom Körper über die Fläche, die Linie zum Punkt – jener Ort greifbar, an dem das Eine selbst als unteilbare, nicht mehr zu vergegenwärtige Einheit thematisch werden kann,
b) oder aber es wird im Horizont begrifflich analytischer Rekonstruktion der Weg vom Einzelnen zum Allgemeinen nach Begriffen frei.
28 Das höchste Allgemeine gilt Platon dann jedoch nicht zugleich als höchstes Prinzip, denn alles Allgemeine bleibt in sich differenziertes Allgemeines: Im Allgemeinen werden Besonderes und Einzelnes zusammengehalten. Die Verbindung von Einzelnem und Allgemeinem, wie sie in der Sache zusammenbestehen, erschließt sich uns darum, so Platon, nicht mehr im Begriffe, sondern nur als Idee. Die Idee – wie Hegel dies expliziert – jene Einheit von Begriff und Realität – gilt beiden als der Ort der Ineinsbildung der Extreme: als gedachter Gegenstand wie als das Integral aller Sphären einer gegebenen Ordnung insgesamt.
29 Doch der Verbund der Ideen als höchste einheitsstiftende Instanzen macht einen weiteren Schritt der Rechtfertigung ihres Zusammenhanges erforderlich: Die Frage lautet: Was ist Grund der Möglichkeit ihrer Verbindung untereinander, mithin also, was ist die Idee, die im Geflecht aller aufeinander bezogener Ideen als Grund der Möglichkeit der inneren Verbindung der Ideen angesprochen werden kann? 6 Diese Frage führt schließlich auf regressiv analytischem Wege des Rückgangs in den Grund der Möglichkeit von allem – zur Suche nach jenem Einen, durch das Idealität und Realität zusammengedacht werden können.
30 Dann erst wird auch die Frage entscheidend: Auf welchem Wege und in welcher Weise können wir uns dieses Einen vergewissern? Und wie lässt es sich noch in und durch unserer Denken erfassen? Diese Frage wird in der Folge innerhalb der platonisch-neuplatonischen Philosophie zum neuralgischen Punkt, zum Ort jener Einheit und Unterscheidung von Theologie und Philosophie.
31 Denn für Platon gilt jene Frage als entscheidende Frage, durch die wir im Begriffe an die Grenzen des Begriffes selbst gestoßen werden, durch die wir uns in selbstvergewissernder Rückerinnerung in den Grund der Möglichkeit von Allem hineinzufragen vermögen. Auf der Suche nach dem ersten Prinzip werden wir aber, wie Platon im Parmenides zur Sprache bringt, in eine aporetische Lage gebracht: In der Gestalt einer aporetischen Rede lässt sich dann nur mehr zeigen, nicht aber direkt erläutern, was nicht mehr im Begriffe, im reinen Denken zu erfassen ist. 7
32 Angrenzend an jenes höchste Prinzip weist vielmehr ein Nicht-Begriffliches wie die Erfahrung des glückenden Augenblicks, des Lichts, der blendenden Überhelle über jenes Medium sich vergewissernder Rede hinaus; 8 das heißt, wir werden jene Superessentialität eines ursprünglich Einigen, des Einen selbst, nur auf dem Wege einer nicht mehr begrifflich fassbaren Erfahrung gewahr: im Ausbruch aus der Zeit (exaiphnes), 9 im Ausstieg aus der Begriffsform (siehe in der aporetischen Gestalt des zweiten Teils des Parmenides), im Überstieg selbst über das Seinsganze (Politeia, Gleichnisrede, 7. Brief) – in all diesen Formen werden raum-zeitliche Erfahrung wie auch unser begriffliches Denkens gleichermaßen depotenziert und zum Bilde eines urbildlich Einigen, des nicht fassbaren Ursprungs herabgesetzt.
33 Philosophie wird zur Religion: Philosophie ist Dienerin einer ihr vorausliegenden höheren Ordnung; sie wird in den Dienst jenes urbildlichen Urprinzips gestellt, das auf philosophischem Wege zwar entborgen (a-leiteia) werden kann, welches aber nicht mehr in den Grenzen der Philosophie selbst zu erfassen ist.
34 Als ihr leitendes Telos und Ziel greift diese Quelle von allem somit über den Begriff hinaus und vermag es zuallererst über diese Funktion als indifferent Eines, zwischen Begriff und Realität, Denken und Sein zu vermitteln. Als im Begriffe unerreichbar ist jenes höchste Prinzip dann zugleich auch über-seiend und über-denkend, das heißt mit keiner der gegebenen Seinseinheiten zu identifizieren.

3. Religion in den Grenzen der Vernunft: Hegel

3.1 Radikale Neubesinnung der Religion im Horizont der Philosophie

Stephan Huber:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel:
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Peter Möller:
Hegel.
In: philolex.
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The Radical Academy:
The Philosophy of Georg Wilhelm Friedrich Hegel.
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Projekt Gutenberg:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel.
external linkWebarchiv


Martin Heidegger:
Hegel and the Greeks.
Conference Paper of the Academy of Sciences at Heidelberg.
1958.
external linkArtikel


Paul E. Trejo:
Was Hegel Christian or Atheist?
external linkArtikel


Martin Götze:
G.W.F. Hegel: Motiv und Programm einer spekulativen Philosophie.
In: Sic et Non. Forum for Philosophy and Culture (1991).
external linkArtikel
35 Der Weg zu Hegel scheint nah und fern zugleich: Denn jenes einheitsstiftende Prinzip jenseits der Grenzen von Denken und Sein bleibt zwar auch für Hegel organisierende Mitte seines Systems, es wird aber – als ›absolute Idee‹ 10 – sukzessiv aus seinem Status eines prinzipiell Jenseitigen in den Prozess von Genesis und Wandlung zurückgebunden.
36 Hegels Philosophie hat darum ihr Telos nicht verloren; vielmehr bleibt jenes leitende Urprinzip – die ›absolute Idee‹ in Hegels Terminologie – Bestimmungsgrund jener polar entgegengesetzten Bewegung. 11 Im Hervorgehen aus diesem Prinzip lässt sich dann die Genesis und Entfaltung aller Seinseinheiten begreiflich machen, sowie im Rückgang in den Grund jener Differenz und Mannigfaltigkeit auch den Weg zu jenem Prinzip aller Prinzipien erneut zurückgewinnen. 12 Das Prinzip selbst, die absolute Idee, strukturiert dabei das Seinsganze nach der Art eines Organismus, in dem, so Hegel, alle Teile wie in einem Gliederbau wohl aufeinander bezogen sind. Doch wird der Organismusgedanke, den Hegel bemüht, um das Organische der Vernunft wie des Seinsganzen zur Sprache zu bringen, noch von einem Prinzip umgriffen, das als Prinzip Sich-Bestimmen, als Prinzip Freiheit, das teleologisch bestimmte Seinsganze noch auf Gründe zu bringen vermag. 13
37 Das Prinzip Freiheit, seit der kantisch-rousseaustischen Freiheitsemphase ungebrochen Ziel und Maß aller Entwicklung, wird auch für Hegel zum eigentlichen Telos der Gesamtbewegung. Ihr Prinzip lautet: Nichts soll als Gegebenes, als Objektives zurückbelassen werden, das bloß gegeben oder voraus-gesetzt und nicht von einem bestimmenden Prinzip, dem Prinzip ›Subjektivität‹, frei gesetzt ist.
38 Es mag zunächst – bezogen auf das Verhältnis von Glauben und Wissen – so scheinen, als habe innerhalb des Hegelschen Systems die Philosophie gegenüber der Religion den Sieg davongetragen; als sei die Religion als bereits überwundene Stufe des menschlichen Weltverhältnisses im Horizont des sich selbst bestimmenden Geistes der Selbstaufklärung der Aufklärung zum Opfer gefallen. Doch lautet die zugrunde liegende These wie folgt: Hegels zur Vernunft gekommener Glaube ist Religion im Horizont der Vernunft; nicht eine Überwindung der Religion hat Hegel erreicht, sondern vielmehr ihre radikale Neubesinnung im Horizont der Philosophie.
39 So lässt es sich zeigen, dass nicht die aufgeklärte Vernunft, die das religiöse Bewusstsein hinter sich gelassen hat, zu den Bestimmungsgrößen der Hegelschen Philosophie gehört, sondern dass es sich vielmehr umgekehrt so verhält: Hegels Philosophie tritt im Kern selbst als Religionsphilosophie in Erscheinung, so dass in ihr die Religion nicht zugunsten der Philosophie überwunden ist, sondern im Horizont der Philosophie lediglich ein neuer aufgeklärter Typ der Religion gefordert und systematisch entwickelt wird. Hegels Philosophie entfaltet darum nicht allein in einem ihrer Teile eine Philosophie der Religion, sondern in ihrem Herzstück, der Theorie des Absoluten, tritt seine Philosophie selbst als Religionsphilosophie zutage. Beide sind sie somit der Sache nach vereint.
40 Denn, so Hegel in Glauben und Wissen, die Form des Wissens und die Materie des Glauben, welche die subjektive Reflexionsphilosophie noch in eine unauflösliche Spannung gebracht habe, diese gelte es systematisch in ihrer inneren Verbindung zu begreifen, so dass wir zu einem vernünftigen Glauben wie zu einer Vernunft finden können, die den Inhalt des Glaubens auch begriffen und verstanden habe.
41 Versuchen wir zunächst eine Annäherung an das systemtragende Prinzip der Hegelschen Philosophie. Von diesem aus wird es sich dann entscheiden, in welchem Verhältnis Religion und Philosophie im Hegelschen System zueinander stehen. Ein solches systemtragendes Prinzip kann, knapp skizziert, wie folgt beschrieben werden kann: Ohne von Gott, dem göttlichen Wesen den Ausgang zu nehmen, kommen wir in das Hegelsche System nicht hinein und ohne die darin entfaltete Konzeption des Göttlichen zu verstehen, bleibt uns der Sinn des Gesamtunternehmens versperrt.
42 Als Telos der Gesamtbewegung wird somit nicht das Prinzip Subjektivität oder die Idee der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung ausgelegt, sondern als Telos gilt nach dieser Interpretation die Selbstbewegung und Selbstdurchlichtung des göttlichen Prinzips. So beginnt und endet Hegels Philosophie mit dem Standpunkte Gottes, der Totalität seiner Erscheinungen wie der Kraft seiner ewigen Wirksamkeit.
43 Dabei wird das ›Wissen des Göttlichen‹ in einem doppelten Sinne zur Sprache gebracht: Es ist – im Sinne eines Genitivus obiektivus – das Wissen vom Göttlichen ebenso wie – im Sinne des Genitivus subiectivus – das Wissen des Göttlichen. In dieser Form der reinen Selbstbezüglichkeit ist das göttliche Agens wie sein eigener Gegenstand. In der Artikulation des Göttlichen ist die Hegelsche Vernunftkritik darum Selbstentäußerung und Selbstbestimmung ihrer Vernunft ineins.

3.2 Der Geist in subjektiver und objektiver Gestalt: Wechseldurchdringung der Pole

»Die abstrakte Form des Fortgangs ist im Sein ein Anderes und Übergehen in ein Anderes, im Wesen Scheinen in dem Entgegengesetzten, im Begriffe die Unterschiedenheit des Einzelnen von der Allgemeinheit, welche sich als solche in das von ihr Unterschiedene kontinuiert und als Identität mit ihm ist.«

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
(Anm. 12, § 240)
44 Beide Seiten der Bewegung des Geistes erhalten jedoch je unterschiedliche Funktionen: Das Geistprinzip in der Funktion als Prinzip Tätigkeit, das heißt als subjektives Prinzip, bringt, indem er sich selbst hervorbringt, zugleich sein Anderes hervor. Das Andere, der Gegenstand dieser Tätigkeit oder das Gedachte, auf das dieses Denken bezogen ist, soll sich, als von jenem Prinzip aus ermöglicht, dem Prinzip zugleich gemäß erweisen. Als von jenem Prinzip Sich-Bestimmen erzeugt und bewegt, wird das solchermaßen Bewegte erst dann diesem Prinzip entsprechen, wenn auch die objektive Seite des Prozesses, der objektive Geist, jenes Prinzip in sich aufgenommen hat und von ihm durchdrungen ist.
45 So ist es die Realität des höchsten göttlichen Prinzips, hervorzubringen, was ihm selbst ähnlich und gemäß ist. Das Prinzip muss somit zugleich hervorbringen, dass jene Anähnlichung sei. Das Prinzip nämlich, indem es sich selbst hervorbringt, und schließlich im Gleichen ein Gleiches sieht, setzt damit zugleich den Fluchtpunkt der Gesamtbewegung frei: Das Hervorbringende, soll es sich im Hervorgebrachten sehen und als das eigene aneignen und verstehen können, muss das Hervorgebrachte sich selbst gemäß erzeugen. Das Verobjektivierte, das Veräußerte dieses produktiven Aktes wird darum auch erst dann als adäquater Spiegel, Bild und Ausdruck jenes Prinzips erscheinen können, wenn es dem Prinzip ähnlich geworden ist, das heißt, wenn es selbst als objektive Sphäre zugleich Geist geworden ist, mithin also, wenn alles je Veräußerte zugleich als ein innerliches, als ein Geistiges erscheinen kann.
46 Die Bewegung von Hervorgehen aus jenem höchsten Prinzip und Rückgang in den Grund der Möglichkeit jener Hervorbringungen aus dem höchsten Prinzip ist eine Bewegung, die in sich selbst zurückkehrt, sich veräußert und verinnerlicht zugleich. Beide inverse Bewegungsrichtungen des höchsten Prinzip sind dabei dem Prinzip wesentlich: Denn um sich zu finden, muss sich das Prinzip veräußert haben, an sein Anderes verloren haben; und um das Veräußerte, Verobjektivierte, als das eigene Selbst zu erkennen und aneignen zu können, muss diese Fremdheit zugleich zurückgenommen werden; das Fremde muss als das veräußerte Eigene eingesehen werden können. 14 Beide Sphären sind darum im Grunde wesensgleich, Eigenes und Fremdes, Subjektiv-Setzendes sowie Verobjektiviert und Entäußertes, vor ihrer Entzweiung eins und einig: im Prinzip ›Geist‹ oder Sich-Bestimmen sind beide in eine Indifferenz gebracht, nach der Tätiges und Gegenstand dieser Tätigkeit ununterscheidbar geworden sind.
47 Im Gesamtprozess jedoch bleibt das subjektive Prinzip, das Prinzip Sich-Bestimmen gleichwohl das eigentlich Treibende: Denn es ist jenes Prinzip Sich-Bestimmen, das Prinzip Tätigkeit, das diktiert, dass im Resultat nichts zurückbleiben soll, was nicht von diesem Prinzip gesetzt ist, und dass nichts Gesetztes, nichts Objektives mehr existieren soll, das nicht zugleich auch von diesem Prinzip angeeignet und begriffen ist. Denn das Prinzip des Absoluten sucht, indem es sich selbst hervorbringt, ein Gleiches im Gleichen, und sucht somit neben dem produktiven Impuls jenes Prinzips auch die Angleichung des Prinzipiierten an dieses Prinzip: In all seinen Entäußerungen ist das Prinzip bestrebt, sich im Anderen zu finden. Sich dort zu finden bedeutet aber, die Fremdheit des Anderen aufzuheben und das Andere sich selbst gleich zu machen.
48 Das sich hervorbringende Prinzip Sich-Bestimmen erfordert nämlich, um im Anderen vollends bei sich zu sein, völlige Selbst-Durchsichtigkeit. Denn erst die völlige Selbst-Durchsichtigkeit lässt das Objektive nicht mehr als ein bloß geahntes subjektiv Empfundenes erscheinen, das gegenüber der Sphäre des Subjektiven als das Andere zum Subjekt erscheint. Es gewinnt vielmehr ein Bewusstsein seiner selbst erst als ein frei sich setzendes und sich seiner selbst bewusst gewordenes Prinzip, das heißt in der Sphäre des Begriffs des Begriffs. Ein göttliches Prinzip nämlich, das sich in seiner Veräußerung nicht selbst verstanden hätte, wäre widersprüchlich in sich.
49 Hegels systemtragendes Prinzip operiert darum jenseits der Gegensätze von Subjektivität und Objektivität, jenseits der Spannung zwischen Sein und Idee. Darum ist seine Philosophie auch nicht eigentlich ein Ausdruck des radikalisierten Prinzips ›Subjektivität‹, sondern eher ein Vorbote für eine Depotenzierung des Prinzips ›Subjektivität‹. Subjektivität als a priori eingebettet in eine Totalität von Seinsbestimmungen ist nicht abstrakt formaler Gegenpol zur Sphäre der Objektivität, sondern selbst objektiv geworden, sowie umgekehrt die Seinsbereiche auch nur als subjektbestimmte ihre Wahrheit finden.
50 Diese wechselseitige Durchdringung der Pole zur Darstellung zu bringen, dies ist es, was eine dialektische Logik als Onto-Theo-Logik zu leisten hat. Denn sie muss zeigen, wie Begriff und Realität, Denken und Sein, Subjektivität und Objektivität nur mehr als zwei Seiten eines Gesamtverhältnisses aufgefasst werden können, in deren höchstem Prinzip sie als Gegensätze zugleich erloschen sind. Erst am Ende des Durchgangs durch jene Wechseldurchdringung der Pole haben wir uns dann zu demjenigen Prinzip vorgedacht, aus dem heraus dieser Gesamtprozess allein begreiflich zu machen ist.

3.3 Der freie Geist als das verbindende Dritte jenseits der Pole

»Der wirkliche freie Wille ist die Einheit des theoretischen und praktischen Geistes; freier Wille, der für sich als freier Wille ist, indem der Formalismus, die Zufälligkeit und Beschränktheit des bisherigen praktischen Inhalts sich aufgehoben hat. Durch das Aufheben der Vermittlung, die darin enthalten war, ist er die durch sich gesetzte unmittelbare Einzelheit, welche aber ebenso zur allgemeinen Bestimmung, der Freiheit selbst, gereinigt ist.«


Georg Wilhelm Friedrich Hegel
(Anm. 15)
51 Erst der freie Geist, jenseits von Veräußerung und Rückkehr, wird die Gegensätze von Subjektivität und Objektivität wirklich hinter sich gelassen haben. Denn erst in der Sphäre des absoluten, des freien Geistes ist auch das Prinzip zu sich selbst gekommen: Erst, wenn es im Anderen sich selbst als dessen Bestimmungsgrund erkannt hat, ist die höchstmögliche Einheit der Gegensätze erreicht. 15 Dieses höchste (systemtragende) Prinzip ist notwendig ein Selbstverhältnis, da nur durch seine Eigenschaft als selbstbezügliches Prinzip das prinzipiell Jenseitige des platonisch-neuplatonischen Urprinzips an den Prozess der Entfaltung von Differenz und Mannigfaltigkeit zurückgebunden werden kann. Als neuplatonisch Jenseitiges aber hat es, so Hegel, einen der subjektiven Reflexionsphilosophie vergleichbaren Status: Es bleibt indifferent gegenüber dem Prozess seiner Entfaltung.
52 Darum gilt für das Verhältnis von Glauben und Wissen: Nichts bloß Gewisses oder Geglaubtes, bloß Vermeintes oder Vermutetes, kann der Idee der durchgängigen Bestimmung gemäß sein: Denn bloß Geglaubtes bleibt subjektive Ohnmacht gegen das frei sich setzende Prinzip. Das Prinzip Sich-Bestimmen aber, das der absolute Geist verkörpert, verlangt ein Gleiches, einen freien Geist, der seiner Wesenbestimmung, sich durchsichtiges Prinzip zu sein, gemäß ist. Nicht Glauben, sondern die denkende Vernunft sind ihm darum einzig adäquat.
53 So sei es an der Zeit, fordert Hegel, zur Selbsterkenntnis der göttlichen Vernunft zurückzukehren und das fiktive Jenseitige, zu dem sich der Verstand durch seine scharfe Trennung von Glauben und Wissen verflüchtigt habe, das ureigenste Gebiet der Vernunft, die Idee des Göttlichen, erneut in den Horizont der Vernunft zurückzuholen, um zu einem vernünftigen Glauben und einem Glauben zu finden, der mit der Vernunft kompatibel ist.

4. Der Weg in die Geschichtlichkeit des Geistes: Die depotenzierte Vernunft

54 Gegenüber Platons Idee des überseienden Einen, verliert Hegels Prinzip der absoluten Idee durch jenen Prozess der Einbindung in das Seinsganze zunehmend seine Resistenz gegenüber der Kontingenz des Prozesses selbst: Als das leitende Integral der Ordnung, mit der es innerlich verbunden ist, indem es diese strukturiert, wird es zusehends von den Bedingungen der Ordnung, das heißt ihrer Geschichtlichkeit, selbst erfasst. Indem es von dieser Ordnung das Maß und Ziel seiner Selbstentfaltung erfährt, ist der Schritt nicht mehr fern, durch den das systemtragende Prinzip aus seiner immanent spiralförmigen Gestalt an den Realprozess selbst zurückgebunden wird und nun der außer- und vor-philosophische Prozess, die realgeschichtliche Bewegung selbst als das eigentlich Treibende, als das eigentliche Subjekt der Geschichte erscheint.
55 Der Weg in eine vorrationale, prä-prädikative Quelle aller Seinsgedanken ist nicht mehr fern. Mit dieser wird die Sphäre des Nous, des Geistes, dann nur noch aus vorbewussten, eigentlich treibenden Kräften wie der Natur, des Willens oder auch der ›allgemeinen Ökonomie‹ abzuleiten sein oder ganz schlicht der Ausgang für alles Denken in einem Vorprädikativ-Seienden gesucht. Von mindestens drei Seiten wird der emphatische Vernunftbegriff als ein mögliches Integral von Philosophie und Religion infrage gestellt.

4.1 Die linkshegelianische Reaktion auf den hegelschen Prozessgedanken

Zurückgewonnen schien jener Ursprungsort, der selbst noch das philosophische Prinzip überstieg, der die Philosophie in eine Heuristik des göttlichen Lebens umwandelte, sie in ihrem Geltungsanspruch depotenzierte, um sie allein als Weg und die Weise des Aufstiegs, als Form der Anähnlichung an jenes höchste Prinzip zu begreifen. 56 Die linkshegelianische Reaktion auf den hegelschen Prozessgedanken wird den Ausstieg aus der reinen Begriffsform ebenso vorbereiten, wie Schellings späte Bemühung, einen neuen Ausgang der Philosophie im reinen ›unvordenklichen Sein‹ zu finden. Gegen die Hypostase des Begriffs, der alles in sich schließt, nichts unvermittelt – unmittelbar als reines Sein – akzeptiert, hat sich Schellings Spätphilosophie mit seiner Annahme eines Seinsgedanken gewandt, der im Begriffe nur ex negativo in seinem reinen In-sich-Sein zu fassen ist. Mit seiner Idee eines ›unvordenklichen Seins‹, dem alles Begriffliche nur negativ – weil auf indirekte Weise – zugeordnet ist, wird in Schellings Spätphilosophie – in ihrem Überstieg über die bloß negative zur positiven Philosophie – jene Idee von Platons epekeina tes ousias zurückgewonnen, die allem Denken und Sein voraus als Ort ihrer Indifferenz zu bezeichnen ist.
57 Zurückgewonnen schien jener Ursprungsort, der selbst noch das philosophische Prinzip überstieg, der die Philosophie in eine Heuristik des göttlichen Lebens umwandelte, sie in ihrem Geltungsanspruch depotenzierte, um sie allein als Weg und die Weise des Aufstiegs, als Form der Anähnlichung an jenes höchste Prinzip zu begreifen. Schelling leitet mit seiner Kritik an der so genannten negativen Philosophie als einer reinen Vernunftwissenschaft eine Entwicklung ein, in der der Begriff zunehmend depotenziert und epiphänomenal aus vor-begrifflichen Quellen begreiflich gemacht werden soll.

4.2 ›Rückkehr zu Kant‹

58 Gegen Hegels reine Begriffsphilosophie wandte sich auch die erste Bewegung einer Rückkehr zu Kant (in den Arbeiten von Benecke, Immanuel Hermann Fichte, Herbart, aber auch der Frühromantiker Novalis, Schlegel, Hölderlin im Bannkreis Spinozas u.a.), die Hegels Philosophie als nur in und aus Begriffen bestehende Gedankendichtung zurückzuweisen suchte. In einem ersten Ruf nach einem Rückgang zur Empirie, wurde die unreduzierbare Existenz der Dinge eingeklagt, die Hegel einem in sich geschlossenen Begriffssystem geopfert zu haben schien.
59 Hegels Versuch, Philosophie und Religion im Begriffe zu versöhnen, setzte ihn teils dem Verdacht aus, den Weg der Wissenschaft zugunsten der Religion verlassen zu haben. Andererseits wurde jedoch jene Ineinsbildung von Religion und Philosophie aufgrund ihres Vernunftprimats infrage gestellt, da die Überlast des Begriffes den ekstatischen Bezug zu jenem unvordenklichen Sein gefährde und das Göttliche derart zu einem geist-immanenten Phänomen herabgesunken schien. Hegel, so die Kritik, habe die Differenz zwischen Religion und Philosophie quittiert, indem er der Religion, der Kunst und der Philosophie denselben Gegenstand zusprach: Alle drei, so seine Überlegung, seien nur unterschiedene Weisen, das eine göttliche Urprinzip zu vergegenwärtigen.
60 Für Schelling wie später für Nietzsche sollte demgegenüber gelten, dass das Göttliche im Begriffe je schon verloren ist; dass es sich darum nur jenseits der Quellen des Begriffs als das reine, nackte »Dass« oder aber als der stets wiederkehrende Wille zum Leben erschließt. Nietzsches dionysisches Prinzip, das alle Willensregung lenkt, sollte jedoch der formgebenden Kräfte bedürfen – die diesem gegenüber ein nachträgliches, ein bannendes und sublimierendes Element sind. Doch ihr primäres Moment bleibt das Faktum unserer unberechenbaren Existenz. So entwickelt sich auf diesem begriffskritischen und vernunftkritischen Grund eine Philosophie, die den Ansprüchen der Religion zunehmend abweisend entgegentritt.

4.3 Religion und Philosophie in postmetaphysischen Zeiten: Derridas Dekonstruktivismus

Mohammed Chaouki Zine:
Bienvenue chez Jacques Derrida.
external linkWebsite


Ralph David Lichtensteiger:
Derrida Links.
external linkLinkverzeichnis


Wim van Binsbergen:
Derrida on religion: Glimpses of interculturality.
external linkArtikel
61 In der Reihe dieser vernunftkritischen Einwände gegen ein mögliches Ursprungsdenken lässt sich auch – typologisch – die dritte Position verorten, der wir uns nun zuwenden wollen. Sie steht am Ende jener Depotenzierungsbemühungen, durch die die Vernunft aus ihrer eigenmächtigen Stellung in jene Ortlosigkeit zurückgebannt werden soll, die – ihr selbst unzugänglich – sie »unwiederbringlich übersteigt«. 16 Derrida nennt jenen nicht umgrenzbaren ›Raum‹, der »die gesamte Onto-Theologie – die Philosophie – ihr System und ihre Geschichte produziert«, 17 »weil sie sie trägt«, 18 die Différance.
62 Enden möchte ich darum mit derjenigen Position, die neben einer Reihe weiterer aus dem Bereich der französischen Philosophie wie auch der frühen Frankfurter Schule, insbesondere in den Arbeiten von Theodor W. Adorno, größten Einfluss auf die Neubesinnung auf das Verhältnis von Religion und Philosophie gewonnen hat: die Position des Dekonstruktivismus von Jacques Derrida, die wir hier exemplarisch für diese Neubesinnung zur Sprache bringen.
63 Entscheidend für unsere Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Philosophie ist Derridas Wende zu einem höchsten Prinzip, das einem jeden – auch dem sprachlichen Zugang – gänzlich entzogen ist, und welches nur durch hindeutende Rede als jener ›Grund der Möglichkeit‹, jener ›Raum‹ beschrieben wird, der alles Existierende, auch die Philosophie und ihre Systeme, trägt und übersteigt.
64 Gleich zu Beginn seiner programmatischen Schrift La Différance wird Différance nicht als Wesensbegriff, als Wort oder als eine Sache ausgelegt, sondern als ein bloßer Buchstabe angezeigt. 19 Im Wort Différance ist dieser für unser Ohr zwar unkenntlich, geschrieben aber führt die Vertauschung des Vokals e durch das a zu einer Bedeutungsverschiebung, die das entscheidende Thema des Aufsatzes darstellen soll.

4.3.1 Différance: Jenseits von Sinnlichem und Intelligiblem

Anna Babka:
Différance.
In: produktive differenzen: forum für differenz- und genderforschung.
external linkLexikon


Justo Fernández López:
Différance nach Derrida.
In: Lexikon der Linguistik und Nachbardisziplinen.
external linkLexikon
65 Indem der Buchstabe a im Wort Différance weder auf der intelligiblen Ebene noch auf der sinnlichen Ebene bedeutungsaufschließend ist, bewegt er sich, so die These, jenseits der Grundoppositionen Idealität und Sinnlichkeit. Wir erhalten einen ersten Hinweis auf den Ort des Wortes Différance: Durch es soll nichts bezeichnet werden, was sich als Substanz, als Subjekt, als Wesen oder Sache qualifizieren ließe. Darum ist sein Ort jenseits aller Dichotomien und Differenzen.
66 Was aber kann mit diesem Worte dann noch zur Sprache gebracht werden? Zunächst deutet Derrida aus: Die Différance, das Spiel mit dieser Différance, bleibe stumm, es gleiche einer Grabstätte, grenze an die Ökonomie des Todes, lasse sich nur als Inschrift entziffern und verweise damit auf den Tod des Dynasten. 20 Indem uns also das Wort der Différance weder durch seinen konventionalisierten Sinn, noch auch durch seine phonetische Gestalt seine Bedeutung erhellt, wird für Derrida sogleich die Frage wach: »Wie fange ich es an, von dem A in der différance zu sprechen?« 21 Würden wir sie stellen, so sein Argument, wäre sie anwesend, ein »in seiner Wahrheit« gegenwärtiges Seiendes, dann aber, so die Argumentation, wäre es zugleich verloren. Wenn Différance somit im Sinne Derridas als dasjenige bezeichnet wird, das die Gegenwärtigung des Seienden zuallererst ermöglicht, so kann es sich nicht als solches gegenwärtigen. 22
67 Hier nun wird deutlich, wie Derrida im Rahmen einer philosophischen Diskussion denjenigen Ort zu bestimmen sucht, der alle Orte in sich enthält und damit seinerseits nur als ›ortlos‹ bezeichnet werden kann. An dessen Grenzen, an dessen Rändern kann nicht mehr argumentiert, sondern nur noch angedeutet, verdeutlicht, hingeführt werden; Theorie wird in einem klassischen oder antiken Sinne dann als noein – als Wahrnahme – aufgefasst.
68 Bezogen auf jene ortlose Différance, die Differenz zu aller Differenz, ist somit ein Anklang an jene philosophische Tradition greifbar, der die Bedingung der Möglichkeit für alles Vergegenwärtigen ebenso als nicht nennbar, nicht begreifbar, nicht aufweisbar gilt, der negativen Theologie. Dies hat Derrida sogleich vermerkt: Er bemüht sich darum, diesem Vergleich zu widerstehen und eine entscheidende Differenz zwischen Dekonstruktion und negativer Theologie hervorzuheben. Die Syntax der Rede mag zum Verwechseln ähnlich sein, so räumt er ein, denn auch bezogen auf die Différance müssen wir, so Derrida, »alles vermerken, was sie nicht ist, das heißt alles; und daß sie folglich weder Existenz noch Wesen hat. Sie gehört in keine Kategorie des Seienden, sei es anwesend oder abwesend. Und doch ist, was derart mit différance bezeichnet wird, nicht theologisch, nicht einmal im negativsten Sinne der negativen Theologie.« 23
69 Während die negative Theologie bemüht sei, neben den endlichen Kategorien des Wesens und der Existenz, das heißt von Gegenwart, noch eine Superessentialität herauszustellen, und daran zu erinnern, dass Gott das Prädikat der Existenz nur verweigert wird, um ihm einen Modus höheren, unbegreiflichen, unaussprechlichen Seins zuzuerkennen, verweise die Différance auf »keine ontologische oder theologische – oder onto-theologische – Wiederaneignung«, sondern »indem sie selbst den Raum eröffnet, in dem die Onto-Theologie – die Philosophie – ihr System und ihre Geschichte produziert, umfaßt sie diese, schreibt sich in sie ein und übersteigt sie unwiederbringlich«. 24

4.3.2 Selbstbescheidung der Philosophie

»Denn es gibt keinen Namen dafür, selbst nicht den der différance, die kein Name, die keine nominale Einheit ist und sich unaufhörlich in eine Kette von differierenden Substitutionen auflöst.«

Jacques Derrida
(Anm. 26)
70 Der Gestus des Überstiegs, den Derrida beansprucht, macht jedoch hellhörig. Galt ihm nicht als Signum vorangegangener metaphysischer Theorien bis zu Heidegger, dass sie in einem Akte des Übersteigens und Umfassens vorherige Fundierungsversuche zu überbieten suchten? Indem Derrida diesen Anspruch teilt, stellt sich der Bescheidenheitsgestus der Dekonstruktion vorheriger Fundierungsabsichten im Kern als eine Generalkritik dar, die umfassender und anspruchsvoller nicht sein kann. Indem sie selbst noch den leersten und allgemeinsten Titel ›Sein‹ übersteigt, greift sie hinter die gesamte abendländische Metaphysik – auch in der Gestalt der Dekomposition Heideggers – auf einen Ort der absoluten Ortlosigkeit zurück und umgreift – so der Anspruch – alle anderen Systeme und Geschichten der Philosophie und Theologie unwiederbringlich.
71 So schließt Derridas programmatische Schrift La Différance mit einer Anspielung auf Heideggers Seinsgedanken, indem er selbst noch den Gedanken vom ›reinen unvordenklichen Sein‹ der Sphäre der Vermittlung und damit dem Verlust zu überantworten sucht: »Das Sein spricht überall und stets durch alle Sprachen hindurch«, doch selbst der »einzigartige Name des Seins« verharre, so die These, in »Nostalgie«, in einer Nostalgie, die alle Suche nach einem Mythos einer »reinen Mutter- oder Vatersprache« in verfehltes Ursprungsdenken verstrickt. 25 Darum solle gelten: Die Différance sei noch ›älter‹ als das Sein, trage keinen Namen in unserer oder irgendeiner anderen Sprache. Und wir, so fährt Derrida fort, »›wissen bereits‹, daß sie nicht nur vorläufig unnennbar ist, weil unsere Sprache diesen Namen noch nicht gefunden oder empfangen hätte, oder weil er in einer anderen Sprache, außerhalb des begrenzten Systems der unseren, gesucht werden müßte. Denn es gibt keinen Namen dafür, selbst nicht den der différance, die kein Name, die keine nominale Einheit ist und sich unaufhörlich in eine Kette von differierenden Substitutionen auflöst.« 26
72 Dabei wird in radikal dekonstruktiver Perspektive unsere Teilhabe an der Verzeitlichung der Sprache, der Verräumlichung unserer Worte, als die Quelle jenes unausweichlichen Verlustes konstatiert. Kommen wir doch in unseren temporalisierenden und verräumlichenden Reden immer zu spät; verdichten, versprachlichen, verzeitlichen jene höheren Augenblicke, jenes ewige Nu – und zerren es in den Fluss alles Zeitlichen, den Horizont alles Räumlichen hinein. Im Fließen der Zeit ist es in die Reihe der Jetztpunkte gebannt, im Nebeneinander des Raumes in enge Grenzen eingespannt. Damit ist je schon verloren, was wir suchen: ein Unbedingtes, ein Raum-Zeit-Freies, das Grund der Möglichkeit aller Verräumlichung und aller Verzeitlichung genannt werden könnte. Alles Erstreben (etwa eines Göttlichen im Begriffe) wäre demnach, weil gebunden an den verzögernden Effekt aller Sprache, Verspätung, alles Aneignen Vergewaltigung des Nicht-Erreichbaren, alle Entäußerung mithin also retardissement. Aus systematischen und strukturellen Gründen erreichen wir das prä-prädikativ Vorbegriffliche, wie die Idee des Göttlichen, nicht in philosophischer Gestalt, es ist in allen Formen der Versprachlichung immer schon dahin. 27
73 Darum bleibt, so das Argument, selbst der Name für jenes Prinzip unausweichlich der Temporalisation und Lokalisation allen identifizierenden Denkens verhaftet. Und deshalb kann die Différance – als der Grund aller Verzeitlichung wie der Verräumlichung des Seins – nicht einmal in einem Namen erscheinen.
74 Im Einbekenntnis dieses Verlustes soll, so die Forderung, Philosophie darum bescheiden werden, jenen fiktiven Ort einer greifbaren Mitte verlassen und alle Rede von einer möglichen Superessentialität – und sei es im Gewande der Absprache aller Prädikate oder des Salto Mortale in Mythos und Religion – als schlechte Metaphysik hinter sich lassen. Doch hat Derrida mit dieser Grenzbestimmung der Philosophie – widerläufig zur Intention der Überwindung all ihrer bisherigen Fundierungsabsichten – den Horizont eines Fundierungsprogramms philosophischer Analyse im Kern nicht verlassen, sondern nur durch eine Reflexion auf zuvor unbemerkt gebliebene Voraussetzungen zu erweitern und auf einen ›voraussetzungsfreien‹ Grund zu stellen versucht.

5. Resümee und Ausblick

Fortan gelten alle Sphären – Kunst, Religion und Philosophie – als gleich weit oder gleich fern zu möglichen Wahrheitsansprüchen der Philosophie. 75 Die okzidentale Rationalität gewinnt in dieser letzten Gestalt einer sich selbst dekomponierenden Rationalität zwar den Horizont einer Selbstbeschränkung zurück, indem sie die Aufklärung über sich selbst aufzuklären sucht, bleibt zugleich aber auch der Zielsetzung schrittweiser Überbietungs- und Überwindungsversuche verbunden, die das abendländische Denken von Beginn an auszeichnen. Religion und Philosophie sind in dekonstruierender Perspektive nur dem Scheine nach auseinandergerückt: Vor dem Hintergrund des unnennbar Noumenalen, das allem Denken entzogen bleibt, wird ein Horizont zurückgewonnen, der alle Temporalisation und Lokalisation transzendieren und tragen soll und damit – ganz in der Tradition der jüdischen Mystik – dem unbedingten Bilder- bzw. Darstellungsverbot des Göttlichen Rechnung trägt.
76 Gegenläufig zur Tendenz, nach der neuzeitlich die gesuchte Einheit von Philosophie und Religion – wie etwa in der wissenschaftstheoretisch orientierten Philosophie im Anschluss an den Wiener Kreis – auseinander bricht, werden in dieser letzten Phase der Selbstverständigung über das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie beide Sphären somit wieder aneinander gerückt. So wurde zunächst innerhalb der Entwicklung der Philosophie der Moderne der Verlust eines einheitsstiftenden göttlichen Prinzips beklagt. Indikatoren dieser Klage waren jene Rede vom ent-götterten Himmel, der transzendentalen Obdachlosigkeit, der entzauberten Welt, das heißt einer Welt, die alle Orte dezentriert und aus der Mitte hinaus in die Peripherie geschleudert hat.
77 Die dekonstruierende Postmoderne hat dann – auf der Suche nach einem Ort jenseits aller Gegensätze – diese Rede von der verlorenen Einheit selbst noch als metaphysisches Denken zurückgewiesen und schließlich die Spannung zwischen Religion und Philosophie, zwischen Zentrum und Peripherie, selbst noch quittiert, so dass sie sich dann – in einem nächsten Schritt – jenseits aller Entgegensetzungen, aller Bestimmtheiten etablieren konnte. Auch der Gegensatz zwischen Religion und Philosophie wird in diesem Rahmen funktionslos. Fortan gelten alle Sphären – Kunst, Religion und Philosophie – als gleich weit oder gleich fern zu möglichen Wahrheitsansprüchen der Philosophie. Als große Erzählungen haben die Philosophien dann nur mehr narrativen Wert. Die religiösen Weltdeutungen dienen als bloße Herkunftsmythen nur mehr der Lebensdiät unserer Sinnerwartung. Vor dem Hintergrund des eigentlich Ausgeschlossenen, nur negativ Fassbaren, jenem Nu des ewigen Augenblicks, müssen Ausgang und Ziel der Geschichte wie auch die Formen ihrer Aneignung in Kunst, Religion oder Philosophie, nur mehr als bloße Konstruktion erscheinen.
78 Im Horizont dieser Diagnose wird Philosophie dann nicht mehr aus dem Blickwinkel einer möglichen Zentralperspektive das Wort ergreifen, vielmehr wird sie von den Rändern aus das Verdrängte, das Andere, bisher Ausgeschlossene zu thematisieren suchen. Das Ausgeschlossene weist dann auf jene Spur des Verdrängten, das der etablierten Ordnung zum Opfer fiel, in ihr aber eingegraben bleibt. So wird – nach Derrida – der Text der Metaphysik ›erfasst‹, »indem er von seiner Grenze nicht umgeben, sondern durchzogen« ist. »Er stellt das Monument und das Trugbild der Spur zugleich vor, die zugleich gezeichnete und ausgelöschte, zugleich lebendige und tote Spur, immer schon davon lebend, daß sie auch in ihrer bewahrten Inschrift das Leben vortäuscht. Eine Pyramide.« 28
79 Im Zentrum des Dekonstruktivismus – im Sinne Derridas, aber auch Levinas' – bleibt darum der einstmals höchste Gegenstand, die Idee eines grundierenden Prinzips – als Spur – nur noch in seinem Ausschluss lebendig, lebt fort in seiner Negation, die – radikaler als alle bisherigen negativ theologischen Annäherungen – auch noch den Namen jenes unnennbaren Prinzips quittiert, indem sie selbst noch die Rede über einen solchen Gegenstand dekonstruiert. Dieser ›dekonstruktive‹ Akt des Philosophierens quittiert dann zwar den Gegenstand, verwischt aber nicht jene ›Spur‹, die auf das vormalige Strebeziel verweist.
»…umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence.«

Friedrich Nietzsche
(Anm. 29)
80 Die genannte Bewegungsrichtung der okzidentalen Philosophie, in ihrem Ausgang griechisch-römisch, ihrer Entfaltung europäisch-christlich und schließlich – nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts – in einem großen Teil ihrer Entwicklung selbstkritisch-dekonstruktiv, sucht somit, sich gegen sich selbst zu richten und scheint an ihren Ausgang zurückzukehren. Indem sie selbst noch die vorsokratischen Reden vom reinen Sein als unzulässige Hypostasierung zurückweist, wird ihr alles Ursprungsdenken zur bloßen Projektion.
81 Vor diesem Horizont werden alle Positionen und philosophischen Traditionen zu ebenso vielen Spuren versuchter Annäherung; einer Annäherung, ohne Ziel, einer Bewegung ohne Ausgangspunkt. Denn ein jeder Versuch, jene allem zugrundeliegende Ursprache zu dechiffrieren, wird als verfehlter Ursprungsmythos zurückgewiesen. Dass jenseits der Schrift keine »verlorene Heimat des Denkens«, keine »prophetische Ankündigung« einer bevorstehenden Benennung zu finden sei, dies muss, so Derrida, darin mit Nietzsche einig, mit einem bejahenden Lachen affirmiert und gefeiert werden. »Selbst an Abgründen noch zu tanzen«, so hatte Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft unser lebenbejahendes Echo aufgefasst: »Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence.« 29
82 Innerhalb der Entwicklungsgeschichte des europäischen Denkens ist das Wechselspiel zwischen Dogmatik und Skepsis, zwischen etablierten Vernunftkonzeptionen und rationalitäts- und vernunftkritischen Traditionslinien so alt wie die etablierten Vernunftbegriffe selbst. Doch der Stachel Selbstauflösung unserer vernünftigen Operationen zielt nun tiefer. Indem er in die Verzeitigungs- und Verräumlichungsstrukturen aller zeichenbildenden Funktionen selbst hineinzufragen sucht, ist alles Symbolisierungsgeschehen – als Verzeitlichung des ewige Nu – unter Metaphysikverdacht gestellt. Der metaphysikkritische Widerhaken setzt nun dort bereits an, wo nicht erst in unseren Gedanken, sondern bereits in der Sprache das je Vermeinte und Erstrebte immer schon verloren haben.
83 Damit wird sowohl aller emphatische Wahrheitsanspruch wie die Suche nach einer verbindlichen Weltauslegung in ihre Grenzen gewiesen. Glauben und Wissen konvergieren in ihrem Gehalt. Nicht Sprachkritik oder Erkenntnistheorie sollen nun mehr den Weg weisen, sondern allein die Einsicht in ein für alle verbindliches Rechtsystem.
84 Die vorherigen Analysen haben Entwicklungslinien im Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissen im Horizont europäischer Theoriedynamik aufzuzeigen versucht. Von der Anähnlichung der Philosophie an die Ziele der Religion, über die Einverleibung der Religion in den Horizont der Philosophie, bis hin zur völligen Auflösung der Geltungsansprüche der Philosophie gegenüber der Religion wurde eine Entwicklungsdynamik greifbar, die an den verschiedensten Stellen Anschlüsse an gemeinsame Suchbewegungen auch innerhalb der verschiedenen außereuropäischen Traditionen schafft. Dabei könnte dann sehr schnell deutlich werden, wie sich etwa das Bemühen des platonisch-neuplatonisches Denkens eher in der Nähe zum Einheitsstreben der Advaita-Vedanta-Philosophie oder des Islam betrachten lässt als etwa zum Buddhismus oder Taoismus; wie Hegels Philosophie in eine innere Verbindung zur Kyoto-Schule tritt sowie der Dekonstruktivismus in größerer Nähe zum Buddhismus als etwa zu Positionen des Hinduismus steht.
85 Doch diese Diskussionslinien sind – für unseren Rahmen – bloße Ausblicke. An dieser Stelle müssen wir uns auf diese Vorarbeiten beschränken.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 4 (2003).
Online: http://them.polylog.org/4/fbc-de.htm
ISSN 1616-2943
© 2003 Autorin & polylog e.V.

Anmerkungen

1
Vgl. Platon: Parmenides, 137 c ff. go back
2
A.a.O., 141 d. go back
3
Vgl. Plotin: Enneade VI, 9. go back
4
Ebd. go back
5
Platon: Politeia, 509 b. go back
6
Vgl. dazu Platon: Parmenides, 130 e ff. go back
7
Vgl. Platon: Parmenides, 137 c ff. go back
8
Vgl. Platon: 7. Brief, 342 a ff; Politeia, 506 b ff. go back
9
Vgl. Platon: 7. Brief, 342 a ff. go back
10
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik II, darin: "Die Idee". In: Werke, Bd. 6. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/M. 1979, 548. go back
11
Ebd. go back
12
Vgl. G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik I. In: Werke, Bd. 5, 69. go back
13
A.a.O., 251. go back
14
A.a.O., 69. go back
15
Vgl. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, darin: § 481: "Der freie Geist". In: Werke, Bd. 10, 300. go back
16
Jacques Derrida (1976): Randgänge der Philosophie, darin: "Die Différance". Frankfurt/M. – Berlin – Wien, 6-37, hier: 10. go back
17
Ebd. go back
18
A.a.O., 9. go back
19
A.a.O., 6. go back
20
A.a.O., 7. go back
21
A.a.O., 9. go back
22
Ebd. go back
23
A.a.O., 10. go back
24
Ebd. go back
25
A.a.O., 36. go back
26
Ebd. go back
27
A.a.O., 12. go back
28
A.a.O., 33. go back
29
Friedrich Nietzsche (1954): Die fröhliche Wissenschaft. In: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta. München, 26. go back

Autorin

Claudia Bickmann (geb. in Aachen) ist Professorin für Philosophie an der Universität zu Köln. Sie studierte an der Philipps-Universität in Marburg Philosophie, Germanistik, Politikwissenschaften und Erziehungswissenschaften, wo sie in Literaturwissenschaften promovierte. Ihre Habilitationszeit verbrachte sie an den Universitäten Bremen, Hamburg und München. Danach folgten Gastprofessuren an der Karls-Universität in Prag, der Delhi-University sowie der Ain-Shams-University und Cairo-University in Cairo sowie Gastvorträge und Forschungsaufenthalte in den verschiedensten europäischen und außereuropäischen Ländern. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Metaphysik, Ontologie und Erkenntnistheorie, der antiken Philosophie wie der Philosophie Kants und des nachkantischen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel), der philosophischen Ästhetik, der Hermeneutik, Sprach- und Texttheorien des 20. Jahrhunderts sowie der interkulturellen Philosophie.
Prof. Dr. Claudia Bickmann
Universität zu Köln
Philosophisches Seminar
Hauptgebäude, 1. Etage
Albertus-Magnus-Platz
50923 Köln
Deutschland
emailClaudia.Bickmann@uni-koeln.de
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