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Niels Weidtmann

Kann Schriftlichkeit fehlen?

Afrikanische Weisheitslehren im interkulturellen Dialog

 
English
Summary

Up to this century African philosophic sagacity has relied on the oral tradition of didactic wisdoms. In contrast to the prevailing view that oral tradition is inferior to literacy, I argue that it in fact has its proper meaning which is not overcome by literacy. A critical analysis of the particular arguments made by didactic wisdoms therefore requires an understanding of this proper meaning at first hand. The main characteristic of oral tradition is the fact that it does not lead to a break between the historical and the contemporary horizon which would make it necessary to hermeneutically reconcile them. Rather the historical horizon always is "co-present" with the contemporary one. On the one hand this fact gives greater authority to oral traditions, but on the other hand it also subjects the historical level of their meaning to a more constant reflection, critique and change.
The intercultural dialogue first of all has to be concerned with an understanding of the fundamental processes which structure any human life-world such as oral and literate tradition. This may help to overcome the strict dichotomy between these two ways of handing down traditions and can make all different cultures become conscious of the oral aspects of their own traditions.


Inhalt

Einführung
Oralität als eine Grundstruktur menschlicher Gesellschaft
Die Präsenz des geschichtlichen Horizonts
Autorität und Kritik mündlicher Überlieferungen
Die Situationsgebundenheit oraler Traditionen
Die Zauberkraft des Wortes
Die Oralität im interkulturellen Dialog



 Einführung



Der Beitrag erschien zuerst in:

polylog: Austrian print edition
Nr. 1 (1998)

1

  Hampâté s viel zitierter Ausspruch, dass mit jedem Alten, der in Afrika stirbt, eine ganze Bibliothek verbrenne, deutet an, welch riesigen Wissensschatz die mündlichen Überlieferungen Afrikas bergen. Die Bewahrung einmal gewonnener Einsichten, die in anderen Kulturregionen durch ihre schriftliche Fixierung in Texten sichergestellt ist, wurde in Afrika noch bis vor wenigen Generationen überwiegend durch mündliche Überlieferung geleistet. Mit der Einführung des Gebrauchs kolonialer Schriftsprachen sowie der Transkription afrikanischer Sprachen zu Beginn unseres Jahrhunderts hat das Interesse an diesen Überlieferungen stetig nachgelassen und schließlich dazu geführt, dass heute viele alte Menschen ihre Kenntnisse oraler Traditionen mit ins Grab nehmen. Damit drohen auch die oralen Zeugnisse philosophischen Denkens verlorenzugehen.

Henry Odera Oruka:
"Grundlegende Fragen der afrikanischen 'Sage-Philosophy'".
In: Franz Martin Wimmer (Hg.):
Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika.
Wien: Passagen, 1988, 35-53.
external linkArtikel

2

  Um dem entgegenzuwirken, hat Odera Oruka 1974 ein Projekt zur Sammlung von Weisheitslehren ins Leben gerufen.  1  Ziel dieses Projekts ist es, diejenigen Männer und Frauen, die in ihren jeweiligen Dörfern als besonders weise anerkannt sind, zu interviewen und ihre Aussagen schriftlich festzuhalten. So sollen die oralen Traditionen in eine schriftliche Form gebracht werden. Oruka möchte dadurch zugleich die Kontinuität philosophischen Denkens in Afrika herausstellen und die afrikanischen Denktraditionen trotz ihrer oralen Struktur in den philosophischen Diskurs der Gegenwart einbringen.

3

  Tatsächlich hat das Fehlen einer schriftlichen Tradition die Debatte um die Existenz einer afrikanischen Philosophie in den letzten Jahrzehnten nachhaltig beeinflußt. Kwasi Wiredu beispielsweise meint, daß der afrikanische Philosoph gar keine andere Wahl habe, als sich für seine eigenen Forschungen auf Texte anderer Völker zu stützen, da ihm seine eigenen Vorfahren keine solchen Texte überliefert haben.  2  Und Peter O. Bodunrin spricht aus demselben Grund von einem »späten Start« der afrikanischen Philosophie.  3  Hier möchte Oruka mit seiner Arbeit einspringen und helfen, die Lücke zwischen "afrikanischer Tradition" und "globaler Moderne" zu schließen.

»Die Schrift ist eine Sache und das Wissen eine andere. Die Schrift ist die Photographie des Wissens, aber nicht das Wissen selbst. Das Wissen ist ein Licht im Menschen. Es ist das Erbe all dessen, was die Vorfahren zu erkennen in der Lage waren und als Keim in uns legten, so wie der Affenbrotbaum sich potentiell in seinem Samenkorn befindet.«

Tierno Bokar Weisheitslehrer aus Bandiagara, Mali
(zit. nach A.H. (1993),
s. Anm. 7)

4

  Seiner Vorgehensweise liegt die Annahme zugrunde, dass orale Traditionen prinzipiell in Texte übersetzbar sind beziehungsweise dass die Kultur, deren mündliche Überlieferungsform durch eine schriftliche ersetzt wird, dennoch ihre Kontinuität bewahrt. Oralität wird demnach als das Fehlen von Schrift verstanden, in Bezug auf das Wesen von Kulturen erscheint sie als eine quantité négligeable. In den Dialog der Kulturen geht die Oralität afrikanischer Traditionen deshalb auch gar nicht mehr ein. Im Gegenteil, gerade die Teilnahme am "globalen philosophischen Diskurs" scheint die Verschriftlichung der afrikanischen Weisheitslehren zu erzwingen.

5

  Damit wird der Oralität afrikanischer Weisheitslehren und anderer Überlieferungen jedoch von vornherein eine eigene Bedeutung abgesprochen. Dann aber bleibt es unverständlich, weshalb sich im subsaharischen Afrika nicht schon viel früher eine Buchstabenschrift etabliert hat. Es ist bekannt, dass im westafrikanischen Raum mehrfach solche Schriften aufgekommen sind, sich aber nicht haben durchsetzen können.  4  Offenbar hat die Oralität Stärken, die sich unter gegebenen Umständen auch gegen eine Buchstabenschrift zu behaupten vermögen.

6

  Heinz Kimmerle weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die oralen Weisheitslehren, die Oruka sammelt und transkribiert, eigentlich situativ verstanden werden müssten, da sie ursprünglich an die konkrete Situation des Ratgebens gebunden waren.  5  In der schriftlichen Fixierung geht diese Situiertheit der Weisheitslehren jedoch verloren. Zudem macht Kimmerle entlang der Philosophie Derridas deutlich, dass Oralität und Schriftlichkeit mitnichten ein Gegensatzpaar darstellen.  6  Vielmehr geht die Oralität der afrikanischen Tradition mit einer bestimmten Form von Schriftlichkeit einher, ebenso wie die Kulturen, die über eine Buchstabenschrift verfügen, dennoch auch orale Elemente besitzen. In den afrikanischen Kulturen beispielsweise sind solche oralen Elemente nach wie vor sehr lebendig. Gerade die großen afrikanischen Erzähler, wie Chinua Achebe, Francis Bebey oder Hampâté , deren Werke mittlerweile auf der ganzen Welt gelesen werden, heben immer wieder die besondere Kraft hervor, die das gesprochene Wort in Afrika auch heute noch besitzt.



 Oralität als eine Grundstruktur menschlicher Gesellschaft

»Jedes Wissen wird als ein Privileg erfahren und die Eröffnung eines neuen Wissensbereichs bekommt die Bedeutung einer Einweihung in diesen Bereich, das heißt einer Initiation.«

7

  Ich möchte im folgenden versuchen, die eigene Bedeutung der Oralität afrikanischer Weisheitslehren in ihren Grundzügen aufzuzeigen. Dazu ist eine Vorüberlegung nötig: Die Oralität betrifft zum einen die Art der Tradierung und in dieser Hinsicht begegnet sie uns in der Diskussion um eine afrikanische Philosophietradition. Zum anderen darf die mündliche Überlieferungsform aber nicht isoliert gesehen werden, so als wäre Oralität einzig ein Merkmal von Traditionen und hätte weiter keine Bedeutung für die Gestalt einer kulturellen Lebenswelt. Tatsächlich findet sie sich jedoch in den verschiedensten Bereichen der Lebenswelt wieder. Nachrichten etwa wurden in den schwarzafrikanischen Kulturen bis in unser Jahrhundert hinein überwiegend mündlich verbreitet, die Regularien des gesellschaftlichen Zusammenlebens wurden mündlich festgehalten, Wissen wurde und wird auch heute häufig ohne Zuhilfenahme von Büchern vermittelt und so weiter.

8

  Das hat entsprechende Folgen für die jeweiligen Bereiche. Die Aneignung von oralem Wissen etwa trainiert das Gedächtnis in besonderem Maße, weil nur auf auswendig Gewusstes auch tatsächlich zurückgegriffen werden kann. Das bedingt wiederum ein eigenes Verhältnis zum Wissen und dem Umgang mit ihm: Es können nur relativ kleine Teilbereiche in ihrer Gänze auswendig gewusst werden und ebenso werden es immer nur relativ wenige sein, die dieses Wissen teilen. Da das Wissen nicht in Büchern dokumentiert ist, steht es dem einzelnen auch nicht jederzeit zur Aneignung zur Verfügung. Dagegen müssen Schüler persönlich von ihren Lehrern in ein Wissensgebiet eingeführt werden, das ihnen andernfalls verschlossen bleibt.

»Die Sprache, die das Wort verfälscht, beschmutzt das Blut dessen, der lügt.«

Dibi
Sänger des Komo aus Koulikoro, Mali
(zit. nach A.H. (1993),
s. Anm. 7)

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  So wird jedes Wissen als ein Privileg erfahren und die Eröffnung eines neuen Wissensbereichs bekommt die Bedeutung einer Einweihung in diesen Bereich, das heißt einer Initiation. Der Einzelne, der über Wissen verfügt beziehungsweise in einen bestimmten Wissensbereich eingeweiht wird, bildet dementsprechend ein anderes Verhältnis zu ihm aus, als er es bei einer breiteren Verfügbarkeit tun würde. Er ist persönlich für die Bewahrung und Weitergabe des Wissens verantwortlich, und er ist durch die Teilhabe an ihm auf eine bestimmte Weise aus der Gesellschaft herausgehoben. Die orale Struktur hat in diesem Fall folglich Einfluss sowohl auf die Art des Wissens und die Form des Gewussten als auch auf das Selbstverständnis und das gesellschaftliche Ansehen des Wissenden.

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  Ähnliches gilt, um ein zweites Beispiel wenigstens kurz zu nennen, etwa auch für Vereinbarungen über einen Handel oder dergleichen, die mündlich getroffen werden. Das Funktionieren der oralen Gesellschaft hängt daran, dass solche Vereinbarungen nicht beliebig gebrochen werden, obwohl sie nicht schriftlich festgehalten werden und deshalb auch nicht einklagbar sind. Mündliche Vereinbarungen erfordern daher eine gute Vertrauensbasis und können nur dann auch mit Fremden getroffen werden, wenn in einem solchen Fall größere gesellschaftliche Einheiten für die Gültigkeit der Vereinbarungen einstehen. Dies können beispielsweise Clangruppen sein, die ihrerseits aufgrund weiter ausgreifender und zurückreichender Verbindungen miteinander vertraut sind. Außerdem muss die Gesellschaft denjenigen, der sein Wort nicht hält, entsprechend ächten. berichtet, dass die Lüge in Afrika als »eine Art moralische Lepra« angesehen wird und derjenige, der nicht Wort hält, »besser tot als lebendig« wäre.  7  Das macht deutlich, wie sehr auch die Person des Einzelnen und seine Stellung in der Gesellschaft davon betroffen sind, ob ein einmal gegebenes Wort gehalten wird oder nicht. Derjenige, der sein Wort bricht, verstößt damit nicht bloß gegen ein Gesetz, sondern verletzt die Grundlage, auf der die Gesellschaft steht. Er wird deshalb auch nicht einfach bestraft, sondern geächtet, das heißt, ihm wird seine gesellschaftliche Daseinsberechtigung abgesprochen.

»Die Oralität ist kein einfacher Sachverhalt, sondern repräsentiert sowohl eine bestimmte Ebene der Selbstinterpretation der jeweiligen Gesellschaft als auch eine entsprechende Interpretation der Lebenswelt.«

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  An diesen beiden Beispielen, der Erlangung von Wissen und dem Treffen einer Vereinbarung, wird deutlich, dass Oralität nicht als ein bloßes – im Vergleich zur Schrift überdies minderwertiges – Werkzeug zur Vermittlung und Bewahrung von Informationen, Kenntnissen und Traditionen verstanden werden darf. Tatsächlich beeinflusst sie dagegen die Struktur des gesellschaftlichen Lebens und das Selbstverständnis der Menschen von Grund auf. Nicht nur das Werkzeug ist ein anderes, sondern dieses bekommt auch anderes anders zu fassen und lässt zugleich den Menschen, der es gebraucht, einen anderen sein, indem es ihm einen oralen Zugang zur Welt eröffnet. Die Bedeutung von Oralität liegt in dem lebensweltlichen Geflecht, das der einzelne Mensch, die Gesellschaft und die "Umwelt" mit ihrer Hilfe untereinander knüpfen.

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  Heinrich Rombach bezeichnet ein solches Geflecht als eine "Grundstruktur" beziehungsweise "Tiefenstruktur" des menschlichen Daseins, um hervorzuheben, dass die Konstitution dieses Geflechts nicht in der alleinigen Verfügung des Menschen steht, es ihn aber dennoch im Innersten betrifft.  8  Die Oralität ist deshalb gar nicht anders in den Blick zu bekommen als dadurch, dass man versucht, die verschiedenen durch sie bedingten Verstrebungen dieser Grundstruktur nachzuzeichnen. Um das Phänomen der Oralität verstehen zu können, ist also eine Analyse erforderlich, die in ihrer eigenen Logik der Logik der durch die Oralität begründeten Struktur folgt. Das ist der Sinn einer phänomeno-logischen Analyse: Sie unterwirft die Phänomene keinen von außen herangetragenen Verständniskriterien, sondern versucht, sie in ihrem jeweils eigenen Sinnzusammenhang ins Sehen zu bringen, indem sie den von den Phänomenen aufgestellten Verweisungen nachgeht und sich derart selbst um die Gewinnung des jeweiligen phänomeneigenen Blicks bemüht.

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  Zusammengefasst: Die Oralität ist kein einfacher Sachverhalt, sondern repräsentiert sowohl eine bestimmte Ebene der Selbstinterpretation der jeweiligen Gesellschaft als auch eine entsprechende Interpretation der Lebenswelt. Ihre Bedeutung für die Weisheitslehren kann deshalb auch nur vor dem Hintergrund dieses Interpretationsgeschehens adäquat erfasst werden.



 Die Präsenz des geschichtlichen Horizonts

»Alle Überlieferung ist folglich vermittelt, das Wort der Vorväter erreicht die Jüngeren durch den Mund ihrer Väter.«

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  Wenden wir uns nun zunächst der Bedeutung zu, die die Oralität für die Art und Weise der Tradierung von historischen Ereignissen, religiösen wie gesellschaftlichen Werten, praktischen Kenntnissen und eben auch von Weisheitslehren besitzt. Die mündliche Überlieferung wird in den meisten Fällen durch das "Weitersagen" dieser Kenntnisse von einer an die nächste Generation getragen. Der Prozess des Weitersagens kann nicht unterlaufen werden, indem auf ältere Quellen rekurriert wird, denn jede solche ältere Quelle ist ihrerseits mündlich überliefert. Alle Überlieferung ist folglich vermittelt, das Wort der Vorväter erreicht die Jüngeren durch den Mund ihrer Väter.

»Die Oraltradition begünstigt die Konsolidierung von Wissen als dogmatische, unbestimmte Systeme, während die archivarische Übertragung eher die Möglichkeit der Kritik des Wissens zwischen den Individuen und den Generationen fördert.«

Paulin J. Hountondji
(Anm. 9)

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  Das bedeutet, dass nur das überliefert wird, was in der vorangehenden Generation in lebendiger Erinnerung ist. Die mündliche Überlieferung spiegelt daher die Interessen und Interpretationen der jeweils überliefernden Generation viel stärker wider, als das in einer schriftlichen Tradition, in der einzelne Texte zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten können, der Fall ist. Es wird immer irgendwie "Verstandenes" tradiert, selbst der Überlieferung bloßer Fakten geht eine Auswahl dieser Fakten voraus. Ebenso bedeutet die Aufnahme, Erinnerung und die erneute Weitergabe der Überlieferungen zu einem späteren Zeitpunkt, dass diese von der jüngeren Generation eigens interpretiert, das heißt, angeeignet werden. Mündliche Überlieferungen sind so gesehen immer sinnvoll. Es bildet sich keine Differenz zwischen einem historischen und einem gegenwärtigen Horizont heraus, die durch einen Zirkel hermeneutischen Verstehens und eine daraus resultierende Verschmelzung dieser beiden Horizonte überwunden werden müsste.

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  Daraus ist nun allerdings nicht abzuleiten, dass das geschichtliche Selbstverständnis einer Gesellschaft mit mündlicher Überlieferung weniger veränderlich und entwicklungsfähig ist als das einer solchen mit Schrifttradition, wie beispielsweise Paulin J. Hountondji meint.  9  Vielmehr wird es bei jedem Überlieferungsschritt an den gegenwärtigen Horizonten gemessen, und der Wandel ist auf Grund dieser Kontinuität lediglich weniger offensichtlich. In jeder einzelnen Überlieferung steht auch das gesellschaftliche Selbstverständnis im Ganzen mit zur Diskussion, da sowohl die bloße Tatsache, dass, als auch die Art und Weise, wie eine bestimmte Kenntnis überliefert wird, dieses Verständnis mitgestalten beziehungsweise repräsentieren.

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  Für die mündliche Überlieferung lassen sich immer mindestens diese zwei Dimensionen unterscheiden: Zum einen die konkrete überlieferte Kenntnis und zum anderen das gesellschaftliche Selbstverständnis, das darin mitgesagt und mitgestaltet wird. Diese Tiefenschärfe oraler Tradierung bedingt nun einerseits, dass Erzählungen, Heldenmythen und Preislieder vom Vortragenden nur, soweit es der Steigerung der rhetorischen Brillanz dient, verändert oder ergänzt werden können. Weicht der Vortrag dagegen stärker vom bekannten Vorbild ab, dann wird er vom Publikum korrigiert.  10 

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  Andererseits begründen unterschiedliche Interpretationen von Überlieferungen dann, wenn sie tatsächlich beide über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden, in der Folge auch auseinander driftende Traditionsstränge. Sie können nicht zu einem späteren Zeitpunkt an einer Originalquelle gemessen und wieder zusammengeführt werden. Die mündliche Überlieferung ist also nicht bloß die Wiedergabe einer einfachen Kenntnis, sondern vor allem die Aktualisierung und "(Re-)Präsentierung" jenes geschichtlichen Horizonts einer Gesellschaft, der in Kulturen mit schriftlicher Tradierung erst in einem hermeneutischen Zirkel aufgedeckt werden muss. Das bedeutet, es geht in ihr immer auch um das Sinnganze des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, das entsprechend präsent ist.

Interview von
Kai Kresse:

"Gespräch mit Henry Odera Oruka: Zur Lage der Afrikanischen Philosophie".
In: Widerspruch. Zeitschrift für Philosophie 16.29 (1996), 162-171.
external linkInterview

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  Die Tatsache, dass jede einzelne Überlieferung den geschichtlichen Horizont mitsagt und so das gesellschaftliche Selbstverständnis mitgestaltet, ist auch für die weitgehende Anonymität der Autoren dieser Überlieferungen verantwortlich. Was der Einzelne lehrt, wird nur dann tradiert, wenn es dem gesellschaftlichen Gesamthorizont entspricht oder zu dessen Veränderung beiträgt. Dann aber spricht diese Lehre eben das gemeinsame Verständnis aus und wird entsprechend auch als Gemeingut empfunden. Orukas Unterscheidung zwischen sogenannten "Volksweisheiten", die weithin bekannt sind, ohne im Einzelfall kritisch reflektiert zu werden, und "philosophischen Weisheitslehren", die das Ergebnis eben einer solchen kritischen Auseinandersetzung mit den Überlieferungen sind,  11  sagt deshalb nichts über den Wert der jeweiligen Lehren aus. Vielmehr kennzeichnet er damit lediglich unterschiedliche Phasen in der Entstehung und oralen Tradierung von Weisheitslehren, die aber tatsächlich jede einzelne von ihnen immer wieder durchläuft.



 Autorität und Kritik mündlicher Überlieferungen

»Vielmehr rührt die größere Autorität überlieferter Aussagen daher, dass diese sich qua ihres Überliefertseins auf das geschichtliche Selbstverständnis der Gesellschaft berufen können und sich somit als Sprachrohr gemeinschaftlicher Ansichten präsentieren.«

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  Die Tatsache, dass in mündlichen Überlieferungen das geschichtlich gewachsene Selbstverständnis der Gesellschaft mitschwingt, verleiht ihnen eine besondere Autorität. In einem Streitfall versuchen die verschiedenen Konfliktparteien deshalb häufig, ihre jeweiligen Argumente dadurch zu bekräftigen, dass sie sich auf Aussagen der "Ahnen", das heißt gemeinsamer, zum Teil nicht mehr namentlich bekannter Vorfahren, berufen. Eine überlieferte Lehre oder ein Sprichwort haben mehr Gewicht als ein Argument, das nicht für sich in Anspruch nehmen kann, überliefert zu sein. Der Grund dafür ist keineswegs der, dass die Autorität der Ahnen unkritisch anerkannt wird; in Wirklichkeit ist jede Lehre in der Form, in der sie überliefert wird, bereits irgendwie interpretiert und kritisch angeeignet worden. Vielmehr rührt die größere Autorität überlieferter Aussagen daher, dass diese sich qua ihres Überliefertseins auf das geschichtliche Selbstverständnis der Gesellschaft berufen können und sich somit als Sprachrohr gemeinschaftlicher Ansichten präsentieren. In dieser Rückbindung an die Ebene der Intersubjektivität liegt der eigentliche Ausweis ihrer Objektivität.

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  Nun sind solche gemeinschaftlichen Ansichten, die das Zusammenleben einer Gesellschaft regeln, aber nicht schriftlich niedergelegt. Es gibt keinen Gesetzestext (sei er weltlicher, religiöser oder anderer Natur), an Hand dessen in einer konkreten Auseinandersetzung die Relevanz einander entgegenstehender Argumente, die sich beide auf Überlieferungen stützen, beurteilt werden könnte. Vielmehr sind die Überlieferungen in der Form, in der sie in die Auseinandersetzung eingebracht werden, immer bereits auf bestimmte Weise aufgenommen und repräsentieren entsprechend auch eine bestimmte Interpretation des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Sie können die Ebene gemeinsamer Ansichten also nur ansprechen, nicht aber aussagen. Demnach sind auch solche Argumente anfechtbar, die sich darauf berufen, überliefert zu sein, wenngleich auch nur durch weitere Überlieferungen beziehungsweise abweichende Interpretationen der bereits vorgebrachten Überlieferungen.

Lisa McNee:
"Le cadastre de la tradition: Propriété intellectellectuelle et oralité en Afrique occidentale". In: Mots Pluriel 8 (1998).
external linkArtikel





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  Worum dann aber gestritten wird, ist das Selbstverständnis der Gesellschaft, innerhalb welcher der Streitfall aufgetreten ist. Das bedeutet also, dass nun nicht mehr eigentlich gegeneinander, sondern vielmehr miteinander um eine gemeinsame Sache gestritten wird. Zwar werden die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft den Boden, auf dem diese gründet, immer etwas unterschiedlich verstehen, aber es muss doch derselbe Boden sein. Sie können verschiedene Meinungen überhaupt nur dann haben, wenn sie diese zu einer Sache haben, die sie gemeinsam verorten können. Deshalb werden die Konfliktparteien, gerade um ihre eigene, persönliche Position profilieren zu können, bemüht sein, auf der Ebene des gesellschaftlichen Selbstverständnisses eine Einigung zu erzielen.

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  Die Autorität oraler Traditionen beruht folglich darauf, dass diese eine Ebene ansprechen, die in der gemeinsamen Verantwortung der Konfliktparteien steht und deren eigenes Selbstverständnis mitbestimmt. Sie darf nicht als Zeichen eines unkritischen Bewusstseins missverstanden werden. Im Gegenteil, Kritik läuft beständig auf einer sehr fundamentalen Ebene ab, insofern sich die Konfliktparteien des geschichtlichen Horizonts der Überlieferungen immer wieder von neuem vergewissern müssen und dieser deshalb laufender Korrektur ausgesetzt ist.

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  Die Tatsache, dass ein grundlegendes Einverständnis sozusagen als anerkanntes Regularium einer jeden Auseinandersetzung beständig neu gefunden beziehungsweise erstellt werden muss, weil es nicht in Gesetzesform oder dergleichen schriftlich festgelegt ist, ist – das sei hier nur erwähnt – wohl auch der Grund dafür, dass das afrikanische Streitgespräch, das Palaver, mit einem Konsens endet. Durch die gemeinsame Vergewisserung der gesellschaftlichen Grundlagen werden die verschiedenen Positionen im Ganzen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses verortet. Die einander entgegenstehenden Meinungen werden also nicht aufgehoben, sondern lediglich gemeinsam in den Blick genommen. Der Con-Sensus meint eigentlich diesen gemeinsamen Wahrnehmungssinn und nicht eine "einheitliche Meinung". Konsens in diesem Sinne gibt es deshalb nur im Zusammenhang mit Oralität.



 Die Situationsgebundenheit oraler Traditionen

»Das entscheidende Merkmal mündlicher Überlieferung ist, dass sich keine Differenz zwischen historischem und gegenwärtigem Horizont ausbildet.«

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  Das entscheidende Merkmal mündlicher Überlieferung ist, dass sich keine Differenz zwischen historischem und gegenwärtigem Horizont ausbildet. Kenntnisse müssen, um überliefert werden zu können, auch tatsächlich angeeignet und irgendwie verstanden werden. Mündliche Überlieferungen stellen folglich im Unterschied zu Texten kein Quellenmaterial dar, das einer späteren kritischen Interpretation offensteht. Sie sind immer schon verstanden. Und doch lässt sich der geschichtliche Horizont, der den Boden dieses Verständnisses bereitet, nicht selbst und nicht unmittelbar ausdrücken. Er wird in der konkreten Überlieferung lediglich mit-gesagt und ist unterschwellig als Grundlage für ihr Überliefert- und Verstandensein mit-gegeben. Dementsprechend ist er in der konkreten Form der Überlieferung zunächst keineswegs offensichtlich oder gleichsam verfügbar.

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  Auch mündliche Überlieferungen stellen daher gewisse Anforderungen und Bedingungen, die erfüllt sein müsen, damit sie das, was sie mit-sagen, auch deutlich machen können. Wie sehen diese Anforderungen aus und wie können sie erfüllt werden? Während sich die verschiedenen Teile eines Textes zu einem Ganzen zusammenfügen und durch wiederholtes Lesen rückwirkend sinnvoll werden können, verlangt der Rückgriff auf früher Gesagtes, es erneut zu sagen – und dann wird, wenn überhaupt eine Bewegung stattgefunden hat, eben anderes gesagt. Weder erlaubt die mündliche Überlieferung deshalb, den geschichtlichen Horizont erst noch aufzudecken, noch erfordert sie dies. Der geschichtliche Horizont ist immer gerade so präsent, wie er in der konkreten Überlieferungsform mitgesagt wird. Das heißt aber auch, dass er immer gerade so deutlich ist wie die konkrete Form der Überlieferung selbst.

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  Hier kommt nun die Situationsgebundenheit mündlicher Überlieferungen ins Spiel. Ihr tieferer Sinn kann nur dann deutlich werden, wenn ihre konkrete Aussageform vollkommen klar ist. Und das ist eben dann der Fall, wenn sie ganz genau die Situation trifft, in der die Überlieferung vorgetragen wird. Die Überlieferung hält dieser konkreten Situation dann sozusagen den Spiegel ihrer (der Situation) eigenen geschichtlichen Tiefendimension vor. Gerade weil die mündliche Überlieferung immer schon verstanden und auf bestimmte Weise interpretiert ist, kann sie nur dort ihren tieferen Sinn deutlich machen, wo die konkrete Form, in der sie überliefert ist, eine Aussage transportiert, die ganz genau auf die augenblickliche Situation passt. Ihr "Bereits-Verstandensein" legt sie auf bestimmte Situationen fest.

»So wird das Wort, eine natürliche Lebensäußerung, jetzt durch eine Erfahrung ersetzt, die Gemeingut der Menschen geworden ist: die Schrift. Daraus ergibt sich, dass das Leben selbst ein wenig an Gewicht verliert ...«

Francis Bebey
(Eine Liebe in Duala. München: dtv, 1993, 22)



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  Es geht in mündlichen Überlieferungen also nicht um ein hermeneutisches Verstehen des in ihnen Gemeinten, sondern darum, die Präsenz tieferer Sinnebenen zur Erfahrung zu bringen. Damit ist allerdings keineswegs gesagt, dass die mündliche Überlieferung nicht verstanden wird. Im Gegenteil, es geht gerade deshalb nicht um Verstehen, weil sich die mündlichen Überlieferungen immer schon im Feld des Verstehens bewegen. Das bedeutet umgekehrt aber auch, dass die mündlichen Überlieferungen gar nicht zu einem besseren Verständnis der konkreten Situation beitragen, in denen sie vorgebracht werden. Dagegen verorten sie die konkrete Situation gleichsam in der Mehrdimensionalität der Lebenswelt.

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  Darin liegt auch die eigentliche Bedeutung der afrikanischen Weisheitslehren und der verborgene Sinn ihrer Mündlichkeit. Der Weise hält den Problemen und Fragen, die der Ratsuchende an ihn heranträgt, den Spiegel der weiteren Horizonte des Lebens vor, so wie mündlich überlieferte Traditionen der Gesellschaft den Spiegel des geschichtlichen Horizonts vorhalten. Dem Ratsuchenden wird gerade dadurch geholfen, dass seinem Problem ein Platz im größeren Gesamtgeschehen, in dem es steht, zugewiesen wird, sei dieses Gesamtgeschehen nun das Leben eines einzelnen, das gesellschaftliche Wohlergehen, die Geschichte, die Natur o.a.

»Dabei machen die Weisheitslehren die tieferen Sinnschichten, auf die sie hinweisen wollen, gerade nicht explizit.«







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  Eben diese Erfahrung des "Drin-seins" steht im Mittelpunkt afrikanischer Weisheitslehren: Die Ebene konkreter Aussagen respektive entsprechender konkreter Situationen wird an Hand der Weisheitslehren als Präsentation der Ebene weiter ausgreifender Lebenszusammenhänge und damit in ihrem eigenen tieferen Sinn erfahren, aber nicht von dieser anderen Ebene her verstanden oder geklärt. Diese Erfahrung gibt zugleich einen gewissen Halt und weckt ein größeres Verantwortungsbewusstsein. Dabei machen die Weisheitslehren die tieferen Sinnschichten, auf die sie hinweisen wollen, gerade nicht explizit. Sie haben dagegen häufig eine bildliche Form oder bedienen sich der Sprichwörter. Die Ursache dafür liegt in der Art der Bewahrung oraler Kenntnisse: Sie müssen auswendig erinnert werden und erfordern deshalb eine konkrete Darstellungsweise. Die besondere Bedeutung dieser bildhaften, oralen Form ist jedoch die, dass die Weisheitslehren dem Ratsuchenden so die Tiefendimension seiner eigenen Situation vor Augen führen, während sie, könnten sie die tieferen Sinnschichten direkt ausdrücken, lediglich eine hilfreiche Belehrung darstellen würden.

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  Die Situationsgebundenheit der Weisheitslehren ist demnach keineswegs auf eine größere "Unmittelbarkeit" oraler Traditionen zurückzuführen. Sie ist dagegen der Tatsache geschuldet, dass die eigentliche Bedeutung der Weisheitslehren in ihrer Übersetzungsfunktion liegt, also darin, die konkrete Situation in der Vielschichtigkeit der Lebenswelt zu verorten, und nicht darin, eine bestimmte Aussage zu machen oder einen besonderen Rat zu erteilen oder auch irgendeine abstrakte Idee zu vermitteln. Diese Übersetzungsfunktion wird aber verunmöglicht, wenn den Weisheitslehren durch ihre Verschriftlichung die Ebene der konkreten Situation des Ratsuchens genommen wird. Der Grund dafür, dass die Weisheitslehren durch die Verschriftlichung nivelliert werden, ist also nicht der, dass sie dadurch aus ihrem Kontext gerissen werden (schon der Begriff des "Kon-Texts" ist in Bezug auf orale Traditionen unpassend). Das Problem ist vielmehr, dass sie in Schriftform als feststehende Aussagen interpretiert werden, was sie gar nicht sein wollen.



 Die Zauberkraft des Wortes

»Proverbs may be better than food. If a man tells you good proverbs, he has done something ... if he gives you a lot of ugali (bread made from maize meal or millet), that may be nothing ... you won't be equally satisfied. Proverbs are big messages in small words.«

Simiyu Chaungo
Weisheitslehrer aus Kenia
(zit. nach H.O. Oruka (1990),
s. Anm. 1).

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  Die Anmerkungen zur Situationsgebundenheit afrikanischer Weisheitslehren zeigen bereits, dass sich die für die mündliche Überlieferung beschriebenen Grundzüge der Oralität in anderen Bereichen wiederfinden lassen. Ich möchte an dieser Stelle lediglich einen Aspekt nochmals etwas schärfer herausstellen. Die Kraft der Weisheitslehren beruht darauf, dass sie konkrete Situationen und Probleme in die Vielschichtigkeit der Lebenswelt zurückstellen. In der Weise, wie die Lebenswelt derartige konkrete Probleme auffangen kann, können diese sie umgekehrt aber ebenso verändern. Die Weisheitslehren verorten nicht nur die konkrete Situation in einem größeren Lebenszusammenhang, sondern korrigieren zugleich diesen selbst an Hand der jeweiligen Situation. Sie müssen deshalb auch in ihrem gestalterischen Moment gesehen werden. Sie übersetzen die verschiedenen Ebenen der Lebenswelt ineinander und bewirken so, dass Änderungen auf einzelnen Ebenen der Lebenswelt Einfluss auf die Gestaltung aller anderen Ebenen nehmen können.

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  Auch dieser Zug der Oralität findet sich an anderer Stelle wieder. So kennzeichnet die Durchschlagskraft von Erneuerungen, die konkret zunächst nur in einem einzelnen Bereich stattfinden, vor allem Initiationen. Die Übersetzungsfunktion der Weisheitslehren übernimmt bei Initiationen die Verleihung eines neuen Namens. Durch ihn wird die Erneuerung in andere Bereiche übersetzt, was in diesen vergleichbare Veränderungen motivieren kann. Ähnlich wie die Weisheitslehren haben die Namen deshalb die Form von Sprichwörtern, das heißt, sie zeichnen ein Bild des im jeweiligen Prozess der Erneuerung Gemeinten.  12  Tatsächlich werden in jedem einzelnen gesprochenen Wort immer mehrere Horizonte mitgesagt und stehen in ihm mit auf dem Spiel. Daher rührt die eigentliche »Zauberkraft des Wortes«, von der Janheinz Jahn spricht,  13  dass nämlich das einzelne Wort Brennpunkt der gesamten menschlichen Lebenswelt ist.



 Die Oralität im interkulturellen Dialog

»Gerade die Oralität ist deshalb der eigentliche Beitrag, den die afrikanischen Weisheitslehren zum interkulturellen Dialog leisten.«






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  Die Oralität afrikanischer Weisheitslehren gibt diesen einen eigenen Sinn, was zur Folge hat, dass sie nicht ohne weiteres in eine Buchstabenschrift übertragen werden können. Die Weisheitslehren entsprechen in ihrer Gestalt einer Interpretation des menschlichen Daseins, die nicht nur durch die Art und Weise, wie Traditionen überliefert werden, sondern im ganzen oral strukturiert ist. Damit die Weisheitslehren einen wirklichen Beitrag zum philosophischen Dialog der Kulturen leisten können, müssen sie deshalb im Sinnzusammenhang dieser oralen Grundstruktur gesehen werden. Dementsprechend müssen sich die anderen Teilnehmer des Dialogs zunächst um ein Verständnis der Oralität bemühen, erst dann ist auch eine Kritik am Inhalt der einzelnen Weisheitslehren möglich. Das motiviert diese Kulturen andererseits dazu, nun die Schriftlichkeit des Diskurses ihrer eigenen philosophischen Traditionen zu reflektieren. Eine derartige Reflexion macht bewusst, dass die für selbstverständlich erachtete Schriftlichkeit selbst eine bestimmte Interpretation des menschlichen Daseins darstellt und folglich den eigenen Wert der Oralität gar nicht antastet. Im interkulturellen Dialog geht es zunächst um die Klärung und das Verstehen solcher Grundstrukturen wie beispielsweise der der Oralität oder der Schriftlichkeit. Gerade die Oralität ist deshalb der eigentliche Beitrag, den die afrikanischen Weisheitslehren zum interkulturellen Dialog leisten, und stellt keineswegs ein Hindernis für deren Einbringung in den Dialog dar.

Niels Weidtmann
ist als wissenschaftlicher Referent bei der Studienstiftung des deutschen Volkes tätig.


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  Im interkulturellen Dialog wird zunächst auf die Grundstrukturen des menschlichen Daseins reflektiert. Insofern es diesen allen um dieselbe "Sache" geht, schließen sie sich auf der Ebene einer solchen Reflexion gerade nicht aus. Tatsächlich kommen in jeder einzelnen Kultur eine Vielzahl verschiedener Grundstrukturen zum Tragen, ohne dass die Kultur selbst jedoch einfach die Summe all dieser Grundstrukturen ist.  14  Eine Kultur ist kein monolithischer Block, eher ließe sie sich als die je besondere Gestalt verstehen, in der die verschiedenen Grundstrukturen in ihr zusammengehören. Der besondere Charakter einer Kultur ergibt sich gerade aus der Weise, wie sie die verschiedenen, je die ganze Lebenswelt betreffenden Gestaltungen miteinander in Einklang bringt. Oralität und Schriftlichkeit beispielsweise schließen sich nicht gegenseitig aus, aber die jeweilige Gewichtung dieser beiden Grundstrukturen verleiht einer Kultur ein besonderes Gesicht. Im interkulturellen Dialog werden sich die Kulturen ihres jeweilig eigenen Charakters bewusst und können dadurch, dass sie die verschiedenen Grundstrukturen in den anderen Kulturen auf andere Weise aufgenommen finden, im Einzelfall auch zu Korrekturen motiviert werden. Durch eine derartige Korrektur wird eine Kultur aber nicht in ihrer Gesamtkonzeption nivelliert, sondern gerade in ihrem eigenen Interpretationsgeflecht geklärt und gefördert.

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  Die Frage, welche Rolle die Oralität heute in den afrikanischen Kulturen spielt, vermag ich hier nicht zu beantworten. Die Oralität wird durch die Einführung einer Buchstabenschrift jedenfalls nicht obsolet. Gerade weil sie eine Grundstruktur menschlichen Daseins beschreibt, stellt sich zu keinem Zeitpunkt die Frage, ob eine Kultur oral ist oder ob sie es nicht ist. Die Frage ist dagegen, welchen Gestaltungswert die Oralität für eine Kultur hat. Eine Beschäftigung mit den überlieferten Weisheitslehren kann nicht nur den afrikanischen Kulturen bei der Beantwortung dieser Frage helfen.


Anmerkungen


 1   

Vgl. Henry Odera Oruka (1990): Sage philosophy. Indigenous thinkers and modern debate on African philosophy. Leiden: Brill. 

 2   

Kwasi Wiredu (1980): Philosophy and an African culture. London: Cambridge University Press, 48. 

 3   

Peter O. Bodunrin (1984): "The question of African philosophy". In: Richard A. Wright (ed.): African philosophy. An introduction. 3rd ed. Lanham: University Press of America, 19. 

 4   

Vgl. Janheinz Jahn (1995): Muntu. Die neoafrikanische Kultur. 2nd ed. München: Diederichs, 197. Außerdem Wiredu (1980), 40. 

 5   

Heinz Kimmerle (1993): "Afrikanische Philosophie als Weisheitslehre?" In: R.A. Mall / D. Lohmar (Hg.): Philosophische Grundlagen der Interkulturalität. Amsterdam: Rodopi, 164. 

 6   

Heinz Kimmerle (1991): Philosophie in Afrika – Afrikanische Philosophie. Frankfurt/M.: Campus, 60-66. 

 7   

Amadou Hampâté (1993): "Von Mund zu Ohr. Initiation, Oralität, Gedächtnis: Afrikas lebende Tradition". In: Lettre International Berlin 21, 47. 

 8   

Vgl. Heinrich Rombach (1980): Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins. Freiburg: Alber, 283-332. 

 9   

Paulin J. Hountondji (1993): Afrikanische Philosophie. Mythos und Realität. Berlin: Dietz, 117-118. 

 10   

Finnegan sieht in der Möglichkeit, dass die Zuhörerschaft korrigierend in eine Erzählung eingreift, den wesentlichen Unterschied zwischen oraler und schriftlicher Überlieferung. Ruth Finnegan (1970): Oral literature in Africa. Oxford: Oxford University Press, 11. 

 11   

Vgl. Oruka (1990). 

 12   

Didier Njirayamanda Kaphagawani (1987): "The philosophical significance of Bantu nomenclature: A shot at contemporary African philosophy". In: Guttorm Fløistad (ed.): Contemporary philosophy. Vol. 5: African philosophy. Den Haag: Martinus Nijhoff, 147 ff. 

 13   

Jahn (1995), 131-165. 

 14   

Die vielschichtige und lebendige Gestalt einer jeden Kultur, die ich hier nur andeute, hat Rombach in einer Analyse der "sozialen Ordnungen" ausgearbeitet. Vgl. Heinrich Rombach (1994): Phänomenologie des sozialen Lebens. Grundzüge einer phänomenologischen Soziologie. Freiburg: Alber, 31-145. 



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