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Sungtaek Cho

Selbstlosigkeit

Zu einer buddhistischen Sicht von sozialer Gerechtigkeit

 
English
Summary

The difficulty of developing a theoretical framework for Buddhism's engagement with contemporary social issues is rooted in the very nature of Buddhism as an ontological discourse aiming at individual salvation through inner transformation. It is my contention, however, that the concept of "selflessness" can become the basis of a Buddhist theory of social justice without endangering Buddhism's primary focus on individual salvation. In this article, I show how the key concept of selflessness can provide a viable ground for Buddhist social justice by comparing it with one of the most influential contemporary Western theories of social justice, that of the American philosopher John Rawls. Drawing on the bodhisattva ideal and the Buddhist concepts of "sickness" and "cure," I then demonstrate how selflessness can serve as a link that allows Buddhists to be socially engaged even while pursuing the goal of individual salvation.


Inhalt

english  

Einleitung
Selbstlosigkeit und soziale Gerechtigkeit
Die Selbstlosigkeit des Bodhisattvas: Sich selbst heilen, indem man andere heilt
Wer heilt?
Literatur



 Einleitung



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Der Beitrag erschien zuerst in:

polylog: Austrian print edition
Nr. 6 (2000) zum Thema:
Gerechtigkeit

1

  Das religiöse Ziel des Buddhismus ist das Erlangen inneren Friedens durch die Erfahrung des Erwachens; das wird häufig als Befreiung oder nirvāṇa beschrieben. Der Begriff nirvāṇa, wie er üblicherweise von den frühen Theravada-Buddhisten verwendet wurde, wird oft als Zustand des "Ausgelöschtseins" oder des "Verlöschens" wiedergegeben. Das bezieht sich auf das Verlöschen verschiedener geistiger Beschränktheiten, meist "Verunreinigungen" genannt, die im Wesentlichen von den drei Giften Gier, Hass und Unwissenheit herrühren. Demgegenüber ist dem Begriff der Befreiung, wie ihn die späteren Mahayana-Buddhisten bevorzugen, eine etwas weitere Perspektive eigen, die sich nicht so sehr auf die Beseitigung bestimmter Geisteszustände bezieht, sondern mehr auf das Erlangen von Weisheit, die sowohl als Befreiung von den Fesseln des Lebens und Sterbens (samsāra), wie auch als Befreiung von sozialen und historischen Fesseln interpretiert wird.

2

  Auf Grund der Betonung der individuellen Erlösung wird der Buddhismus oft als eine quietistische Religion gesehen, die es verabsäumt, sich sozialen Problemen zu widmen. Das ist natürlich eine grobe Übertreibung. Das Bodhisattva-Ideal des Mahayana-Buddhismus, die Lehren vom "Reinen Land" und von Maitreya (dem "Buddha der Zukunft"; Anm. d. Übers.), die in China oft gerade in Zeiten politischer Instabilität eine Rolle spielten, verknüpfen die buddhistische Soteriologie und das Gesellschaftliche zu einem Ganzen. Trotzdem ist es richtig, dass sich das buddhistische Denken auch heute nur selten – wenn überhaupt – Fragen der sozialen Gerechtigkeit im modernen Sinne, wie den Menschenrechten, der gerechten Verteilung von Rohstoffen, der unparteiischen Handhabung der Gesetze oder der politischen Freiheit zuwendet. Wie aus dem oft zitierten Satz des Vimalakirti-Nirdesa-Sūtras »Wenn der Geist von jemandem gereinigt wird, wird auch die Gesellschaft gereinigt«  1  hervorgeht, hat der Buddhismus einen eher naiven Begriff von sozialen Angelegenheiten; demnach kann das Gemeinwohl durch das Ausüben individueller Tugendhaftigkeit verwirklicht werden.  2 

3

  Natürlich steht der Buddhismus in dieser Hinsicht nicht alleine da. Beinahe alle alten Philosophien und Religionen schenkten sozialen Angelegenheiten im modernen Sinn kaum Beachtung. Sogar der Katholizismus, der sich schon sehr früh sozialer Anliegen angenommen hatte, beschäftigte sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit oder der Verwendung dieses Begriffes in offiziellen Dokumenten nicht vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich entstand die Frage der sozialen Gerechtigkeit, als einem wichtigen Anliegen der politischen und sozialen Philosophie des Westens, erst im 18. Jahrhundert. Zentrale Konzepte wie das der Bürgerrechte, der politischen Gleichheit und der fairen Verteilung wirtschaftlicher Güter reiften erst in den letzten drei Jahrhunderten heran.

Santikaro Bhikkhu:
Socially Engaged Buddhism & Modernity. What Sort of Animals are They?
external linkArtikel


Philip Russell Brown:
Socially Engaged Buddhism: A Buddhist Practice for the West.
external linkArtikel


Prayudh Payutto:
Helping Yourself To Help Others.
external linkArtikel


Donald Rothberg:
"A Thai perspective on socially engaged Buddhism: A conversation with Sulak Sivaraksa".
In: ReVision 15.3 (1993), 121-128.
external linkArtikel

4

  Wie auch immer, der Prozess der Modernisierung, der im Westen die Entwicklung einer Sozialphilosophie beschleunigte, verzögerte diese im Osten. Durch die verspätete Erfahrung der Modernisierung als "Verwestlichung", die ursprünglich von den militärischen und ökonomischen Berührungen mit den westlichen Kolonialmächten ausgegangen war, verloren die östlichen Intellektuellen ihr Vertrauen in ihre eigenen Traditionen, die sie zunehmend als Relikte der Vergangenheit ohne Relevanz für die Probleme der Gegenwart ansahen. In der Folge wurden deren eigene Philosophien und Religionen, wie der Buddhismus, zugunsten des Studiums westlichen Denkens vernachlässigt.

5

  Dieser Prozess beginnt sich erst neuerdings umzukehren. Indem der Osten sich des Wertes seiner eigenen kulturellen Identität mehr und mehr bewusst wird, entsteht eine neue Bewegung des Denkens, die nicht nur daran interessiert ist, traditionelle und moderne Anliegen zu verknüpfen, sondern die in einer Neubewertung der Tradition Lösungen für gegenwärtige gesellschaftliche Probleme sucht. Der sogenannte "engagierte Buddhismus", der versucht, sich auf Themen wie Umweltschutz, Ungleichheit der Geschlechter oder Armut einzulassen, stellt gegenwärtig eine der akzentuiertesten Bemühungen in diesem Bereich dar. Aber er ist zu vielschichtig, um als eine einheitliche Bewegung gelten zu können, und zugleich noch zu jung, um bereits einen theoretischen Rahmen für das Engagement des Buddhismus in sozialen Fragen entwickelt zu haben.

6

  Die Schwierigkeit, eine solche Theorie zu entwickeln, liegt nicht nur in der jahrzehntelangen intellektuellen Stagnation begründet, sondern grundsätzlicher in der ureigensten Natur des Buddhismus als einem ontologischen Diskurs, der auf die individuelle Erlösung durch eine innere Transformation zielt. Natürlich betrifft diese Schwierigkeit nicht allein den Buddhismus; alle Religionen stehen vor dem Dilemma, die Ansprüche auf individuelle Erlösung wie auch auf soziales Engagement ausgleichen zu müssen. Aus diesem Grund möchte ich einige vorläufige Vorschläge präsentieren, wie das Konzepts der "Selbstlosigkeit", ein Herzstück der buddhistischen Lehre, die Basis für eine buddhistische Theorie von sozialer Gerechtigkeit hergeben könnte, ohne zugleich das Hauptanliegen des Buddhismus – die individuelle Erlösung – zu gefährden. Ich werde den Aufweis, wie "Selbstlosigkeit" als tragfähige Grundlage für eine buddhistische soziale Gerechtigkeit dienen kann, mit einem Vergleich mit einer der einflussreichsten Theorien über soziale Gerechtigkeit, nämlich der des amerikanischen Philosophen John Rawls beginnen. Dabei stelle ich die These auf, dass im Buddhismus selbst das verborgene Potential zu einer Theorie sozialer Gerechtigkeit steckt, die den Bedürfnissen heutiger Gesellschaften gerecht wird. Danach werde ich zeigen, dass das Konzept "Selbstlosigkeit" als ein Zusammenhang zu sehen ist, der es Buddhisten sogar erlaubt, sich sozial zu engagieren, während sie das Ziel individueller Erlösung verfolgen.



 Selbstlosigkeit und soziale Gerechtigkeit

»Ich bin davon überzeugt, dass Rawls' Entwurf einer rationalen sozialen Verfahrenstechnik dem Buddhismus eine gute Gelegenheit bietet, das eigene unterentwickelte Verhältnis zu Fragen sozialer Gerechtigkeit zu klären.«

7

  Steckt im Buddhismus tatsächlich das verborgene Potential zu einer Theorie sozialer Gerechtigkeit, die den Bedürfnissen moderner Gesellschaften gerecht wird? Es ist interessant diese Frage im Lichte der Arbeit des amerikanischen Philosophen John Rawls zu erörtern, und zwar vor allem deshalb, weil dessen ungeheuer einflussreiches Buch Eine Theorie der Gerechtigkeit die Essenz all dessen zu beinhalten scheint, was der Buddhismus nicht ist. Obwohl sie ausdrücklich formuliert wurde, um soziale Gerechtigkeit zu befördern, ist Rawls' Theorie explizit amoralisch, in dem sie keinerlei bestimmte moralische Neigungen in den Individuen annimmt, und sich ebenso wenig darauf einlässt, den Begriff des sozial Guten durch eine transzendentale oder religiöse Autorität zu stützen. Sie versucht vielmehr zu zeigen, wie soziale Gerechtigkeit auf Eigeninteresse aufbauen kann und fasst daher weniger das individuelle Verhalten ins Auge, als die sozialen Institutionen, die dieses Verhalten regulieren. In ihrer Erklärungs- und Überzeugungskraft stellt sie einen Triumph westlicher Rationalität dar.

8

  Ich bin davon überzeugt, dass Rawls' Entwurf einer rationalen sozialen Verfahrenstechnik dem Buddhismus eine gute Gelegenheit bietet, das eigene unterentwickelte Verhältnis zu Fragen sozialer Gerechtigkeit zu klären. Doch dazu müssen wir Rawls' Theorie etwas mehr im Detail betrachten.

9

  Ganz allgemein gehen westliche Gerechtigkeitstheorien von der Intention aus, die individuelle Freiheit, seinen eigenen Interessen nachzugehen, zu legitimieren und zu sichern. Der Begriff eines solchen homo oeconomicus ist nicht bloß das Produkt sozialer und ökonomischer Theorien, die von einer kapitalistischen Gesellschaft herstammen und eine solche stützen, sondern er ist auch tief in der westlichen Tradition, die dem Kapitalismus voranging, verwurzelt. Das Individuum und die Gesellschaft, die als Hintergrund für Rawls' Theorie der Gerechtigkeit fungieren, repräsentieren Individuen, die ihre Eigeninteressen verfolgen und eine Gesellschaft, die aus solchen Individuen besteht. Für Rawls ist Gerechtigkeit keine Tugend, die den Menschen a priori zukäme, sondern eine allgemeine Bedingung, die von Nöten ist, um eine Gesellschaft zu erhalten. Laut Rawls ist »die Gesellschaft, obwohl sie ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil ist ... ebenso durch Interessenskonflikte wie durch Interessensharmonie gekennzeichnet« (Rawls 1979, 149). Um die Konflikte zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft zu ordnen braucht man »Grundsätze, um zwischen den verschiedenen Gesellschaftsordnungen zu entscheiden, die die Verteilung der Güter bestimmen, und um eine Übereinkunft über die richtigen Anteile zustande zu bringen« (Rawls 1979, 149).

Terry Hoy:
Rawls' Concept Of Justice As Political: A Defense Against Critics.
Paideia World Philosophy Conference Paper.
1998.
external linkArtikel


Antonio Perez-Estevez:
Intercultural Dialogue and Human Rights: A Latinamerican reading of Rawls The Law of Peoples.
Paideia World Philosophy Conference Paper.
1998.
external linkArtikel

10

  Jedenfalls ist Rawls der Ansicht, dass die Fairness dieser Grundregeln von der Fairness des Verfahrens abhängt, mittels welchem diese Grundregeln eingeführt und befürwortet werden können. Um die Fairness dieses Verfahrens zu garantieren, postuliert Rawls einen sogenannten "Urzustand" für jene, die damit befasst sind, Grundregeln einzuführen, was bedeutet, dass diese idealen Entscheidungsträger keinerlei Zwang durch »willkürliche Zufälligkeiten oder gesellschaftliche Kräfteverhältnisse ausgesetzt sind« (Rawls 1979, 142). Um dieses Fehlen von Zwang zu garantieren, nimmt Rawls weiter einen "Schleier des Nichtwissens" an, was so viel bedeutet, dass seine Entscheidungsträger über kein Wissen um ihre eigene Position innerhalb der Gesellschaft, die sie gerade gestalten, verfügen. Sie könnten gut oder schlecht ausgebildet sein, talentiert oder dumm, für den Wettbewerb gerüstet oder auch nicht. Rawls meint, dass diese Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Wettbewerbsposition innerhalb der sozialen Arena seine hypothetischen Entscheidungsträger ganz natürlich zu desinteressierten Spielregeln sozialer Gerechtigkeit führen würde, die die weniger wettbewerbsfähigen Mitglieder der Gesellschaft schützen und eine faire Verteilung aller Güter sichern würde. Sich so zu verhalten würde ihren eigenen Interessen entsprechen. Auf Grund des "Schleiers des Nichtwissens" ist die Möglichkeit, dass man innerhalb der Gemeinschaft irgendwer sein könnte, das stärkste Motiv für Fairness.

11

  Im Rahmen ihrer Methodologie basiert Rawls' Theorie der sozialen Gerechtigkeit auf einem ethischen Konstruktivismus; indem er der westlichen philosophischen Tradition – vor allem Kant – folgt, entwickelt er eine Reihe von ethischen Grundannahmen und bewegt sich zugleich strikt im Rahmen des Empirismus. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass Rawls' Arbeit einige überraschende Hinweise für eine Konstruktion eines theoretischen Rahmens einer buddhistischen Theorie sozialer Gerechtigkeit liefert. Es ist natürlich nicht so, dass die buddhistische Sichtweise mit der Theorie von Rawls übereinstimmt, aber die Arbeit dieses westlichen Philosophen eröffnet uns eine herausfordernde Möglichkeit, die zeitlosen ontologischen Überlegungen des Buddhismus mit den Phänomenen in der Welt des gesellschaftlichen Interagierens in Verbindung zu bringen. Man kann sagen, sie hilft uns innerhalb des Buddhismus das Verhältnis zwischen ontologischen Angelegenheiten – wie der Perspektive, die sich auf die Natur der Dinge und das persönliche Erwachen richtet – und notwendigen Erwägungen hinsichtlich des täglichen Verhaltens eines praktizierenden Buddhisten innerhalb der Gesellschaft zu klären.

12

  Auf den ersten Blick scheint der amoralische Rationalismus, auf den Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit aufbaut, vom Buddhismus so weit wie nur möglich entfernt zu sein. Sieht man näher hin, so ergeben sich einige erstaunliche Berührungspunkte. Denkt man die buddhistische Theorie der "Selbstlosigkeit" in Begriffen der Individualität und ihres Platzes in der Gemeinschaft, so wird diese wirklich zu etwas wie einer großen sozialen Kraft: einer erweiterten Interpretation des Selbstseins. Das ist deshalb so, weil das Selbst im Buddhismus so neu definiert wird, dass es nach der Theorie der wechselweisen Durchdringung alle andern Selbste in sich einschließt. Und das führt uns zu einer interessanten Überschneidung mit Rawls. Denn wenn der hypothetische "Schleier des Nichtwissens" und die Möglichkeit, dass "ich irgendjemand in der Gemeinschaft sein kann" der Ausgangspunkt für seine Konzeption von Fairness ist, so eröffnet der Buddhismus mit dem Konzept der Selbstlosigkeit eine überraschende Parallele, und zwar in der Idee, dass "ich jeder in der Gemeinschaft bin".

»Für den Buddhismus muss letztendlich auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit zurück auf den Weg zur Erleuchtung führen. Die Theorie der Selbstlosigkeit könnte als theoretischer Weg vom ontologischen Diskurs zum phänomenalen dienen, aber sie müsste zugleich als Zugang und als Durchgang dienen.«

13

  Es ist meine feste Überzeugung , dass die buddhistische Theorie der Selbstlosigkeit daher als Ausgangspunkt für eine Theorie rationaler sozialer Gerechtigkeit dienen kann, die ebenso überzeugend ist wie jene, die Rawls vorschlägt. Aber um dies zustande zu bringen, wird der Buddhismus sich von den traditionellen ontologischen Diskursen der Sūtras und der klassischen Lehren – deren Hauptakzent auf der Selbsttransformation und der individuellen Suche nach persönlicher Erleuchtung liegt – wegbewegen müssen, hin zu einem Diskurs der Phänomene im Bereich des Sozialen, der Politik, der Ökonomie und des Rechts. In diesem Sinne kann die Theorie der Selbstlosigkeit, die Idee, dass ich jeder innerhalb der Gemeinschaft bin, der theoretische Zugang sein, durch welchen sich der Diskurs buddhistischer Denker von der ontologischen Ebene zur Ebene der Phänomene bewegt.

14

  Natürlich werden die Unterschiede zwischen Rawls' Modell von sozialer Gerechtigkeit und jedmöglichem buddhistischen Modell signifikant sein. Ziemlich sicher würde das buddhistische Modell weniger Wert auf soziale Institutionen und mehr Wert auf persönliches Verhalten, vor allem auf persönliche Qualitäten wie Mitleid und Wohlwollen legen, – Qualitäten, die auch auf dem Weg zur Erleuchtung als hilfreich gelten. Tatsächlich weist diese Tatsache auf eine endgültige und unhintergehbare Differenz zwischen Rawls' Entwurf einer rationalen Sozialtechnik und dem Buddhismus hin. Für Rawls ist das Erreichen von sozialer Gerechtigkeit ein Selbstzweck, seine philosophischen Überlegungen enden hier. Wenn soziale Gerechtigkeit einmal etabliert ist, gibt es nichts mehr darüber zu sagen. Selbstverständlich kann das nicht der Standpunkt des Buddhismus sein, der im Grunde auf die persönliche Erleuchtung ausgerichtet bleibt. Für den Buddhismus muss letztendlich auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit zurück auf den Weg zur Erleuchtung führen. Die Theorie der Selbstlosigkeit könnte als theoretischer Weg vom ontologischen Diskurs zum phänomenalen dienen, aber sie müsste zugleich als Zugang und als Durchgang dienen. Das Sich-Einlassen auf die erscheinungshafte Ebene der sozialen Gerechtigkeit muss den Buddhismus zurück zum ontologischen Diskurs und der Suche nach Erleuchtung führen.



 Die Selbstlosigkeit des Bodhisattvas:
 Sich selbst heilen, indem man andere heilt


Jeffrey Samuels:
"The Bodhisattva Ideal in Theravaada. Buddhist Theory and Practice: A Re-evaluation of the Bodhisattva-Śraavaka Opposition".
In: Philosophy East and West 47.3 (1997), 399-415.
external linkArtikel


Walpola Rahula Thera:
Das Bodhisattva-Ideal im Buddhismus.
external linkArtikel


Hans-Günter Wagner / Franz-Johannes Litsch:
Bodhisattva-Ideal und engagierter Buddhismus.
external linkArtikel

15

  Wie schon erwähnt, glaube ich, dass das Konzept "Selbstlosigkeit" als Brücke zwischen den offensichtlich widerstreitenden Zielen der sozialen Gerechtigkeit auf der einen, und der individuellen Erleuchtung auf der andern Seite dienen könnte. Aber um zu zeigen wie, müssen wir einen Schritt weiter zurück gehen und die buddhistische Ansicht von Leid, der Heilung dieses Leidens und dem Bodhisattva-Ideal betrachten. Nur dann kann deutlich werden, wie soziale Gerechtigkeit und die Suche nach der individuellen Erleuchtung sich tatsächlich gegenseitig stützen können.

16

  Im Buddhismus wird der Prozess geistigen Wachstums häufig mit dem Heilen einer Krankheit verglichen. Die erste der Edlen Wahrheiten hält fest, dass "Leben Leiden ist", aber nach Ansicht des Buddhismus kann dieses Leiden mit einem geeigneten Heilmittel kuriert werden. Das Leiden kommt von unserem unterbewussten Begehren, das häufig als "Durst" bezeichnet wird, um dessen blinde und vehemente Triebkraft zu veranschaulichen. Auf Grund seiner wesensmäßigen Blindheit wird das Begehren, der "Durst", der das Grundübel menschlichen Leidens verursacht, im Allgemeinen mit Unwissenheit gleichgesetzt. Alle anderen Übel sind nichts als Symptome dieser fundamentalen Unwissenheit. Das wichtigste Symptom ist das Anhaften an äußeren Objekten und das Anhaften an einem Etwas in unserem Inneren, dem sogenannten Selbst.

17

  Auf der Basis dieser Diagnose, stellte der Buddha die Möglichkeit einer Heilung in Aussicht. Er war der Ansicht, dass Erleuchtung oder Glückseligkeit als dem Gegenteil von Leid, dem Individuum innewohnt, was bedeutet, dass Glückseligkeit erlangt werden kann, wenn wir das Grundübel in uns selbst heilen.

18

  Wie schon eingangs erwähnt, ist die Betonung der Selbstheilung – der Suche nach Erleuchtung – der Hauptgrund, warum der Buddhismus keine ausgereifte Sozialphilosophie entwickelt hat. Und doch hatte Buddha, obwohl er nie beabsichtigt hatte, eine politische Ideologie zu schaffen, sicherlich nicht auf andere Menschen vergessen. Nachdem er seine Schüler unterwiesen und ihnen in ihrem Erwachen geholfen hatte, drängte er sie, andere zu lehren: »Geht, ihr Mönche, zum Heil vieler Menschen, zum Glück vieler Menschen aus Mitleid mit der Welt, zum Heil, zum Wohle, zum Glück der devas und der menschlichen Wesen. Nicht zwei von euch sollen denselben Weg gehen.« (Horner 1966, IV, 28; mit kleinen Abänderungen)

19

  Die frühen Buddhisten verstanden diese Passage in dem Sinn, dass Buddha von seinen Schülern zwar verlangt hatte, für andere zu arbeiten, sie wurde aber auch so interpretiert, dass man, um anderen zu helfen, zuerst selbst erleuchtet, d.h. geheilt sein müsse – eine Ansicht, die explizit in dem buddhistischen Diktum "Wer krank ist, kann andere nicht heilen." zum Ausdruck kommt. Das Ergebnis war, dass Buddhisten, die mit dem Werk der Selbst-Heilung beschäftigt waren, in der sozialen Arena verhältnismäßig passiv wurden.

20

  Wie schon gesagt wäre es eine grobe Simplifizierung zu behaupten, der Buddhismus vernachlässige die interpersonale Dimension der menschlichen Erfahrung. Die ursprüngliche Ansicht, dass jemand, der krank ist, andern nicht helfen könne, erfuhr durch das Bodhisattva-Ideal, das in einer späteren Phase – dem Mahāyāna-Buddhismus – auftauchte, eine radikale Wandlung. Der Bodhisattva, diese neue religiöse Figur, verkörperte die neue sozio-religiöse Atmosphäre zu der Zeit, in welcher der Mahāyāna-Buddhismus in Indien in Erscheinung trat.



 Wer heilt?

»Ich bin krank, weil alle lebenden Wesen krank sind. Wenn die Krankheit aller Lebewesen geheilt sein wird, wird auch meine geheilt sein.«

Vimalakīrti
(T 475, 544b)

21

  Ein Bodhisattva ist – per Definition – ein Anwärter auf die Buddhaschaft, auf ihn nehmen frühe buddhistische Texte, die von den vorangegangenen Leben des Buddha erzählen, häufig Bezug. In seinen vielen Wiedergeburten, erscheint der Bodhisattva in verschiedenen Existenzformen, als Tier oder als menschliches Wesen, als ein Adeliger oder als jemand aus dem Volk. Die exemplarischen Lebensgeschichten des Bodhisattva sind in den Jātaka gesammelt. Mahāyāna-Buddhisten haben gegenüber diesen Erzählungen die Empfindung, dass die Geschichten von den vorangegangenen Leben des Buddha nicht nur von der Vergangenheit berichten, sondern dass diese als exemplarische Muster für die Gegenwart zu verstehen sind. Diejenigen, die den heroischen Taten des Buddha in der Vergangenheit nacheifern, können ebenfalls zu Bodhisattvas werden.

22

  In unserem Zusammenhang liegt die zentrale Bedeutung des Bodhisattva-Ideals im Mahayana-Buddhismus darin, dass der Bodhisattva sich selbst heilt, indem er andere heilt. Die folgende Passage findet sich im Vajradhvaja-Sūtra:

23

  »Ein Bodhisattva beschließt: Ich nehme die Last alles Leidens auf mich, das gelobe ich zu tun, ich werde es ertragen ... Und warum? Ich muss um jeden Preis die Last aller Lebewesen tragen ... Ich muss die ganze Welt der lebenden Wesen von den Schrecken der Geburt, des Alterns, des Krankseins, des Todes und der Wiedergeburt retten.« (Übers. nach Conze et al. 1964, 131)

24

  Hier geht es nicht einfach um Mitleid mit anderen, die in Not sind. Sondern das Wesentliche der Nicht-Selbst Lehre liegt, wie seit den Anfängen des Buddhismus immer wieder betont wurde, für einen Bodhisattva in der Tatsache, dass zwischen ihm selbst und den anderen kein Unterschied besteht. "Nicht-Selbst" bedeutet im Buddhismus nicht bloß die Verneinung eines substanziellen "Selbst", vergleichbar mit der "Seele" in der Tradition des Westens; es schließt auch eine nicht-dualistische Sicht von mir selbst und anderen ein, und behauptet ein Hinausreichen der eigenen Existenz über Grenzen des Selbst, um jenes der Anderen zu umfassen. Die Anderen sind für den Bodhisattva nichts als die Erweiterung seiner eigenen Existenz.

25

  Das Konzept der Selbstlosigkeit eröffnet so einen Weg zur sozialen Achtsamkeit und der Notwendigkeit des sozialen Engagements. Vimalakīrti, eine typische Boddhisattva-Figur des Mahāyāna, identifiziert die Krankheit aller Lebewesen mit seiner eigenen: »Ich bin krank, weil alle lebenden Wesen krank sind. Wenn die Krankheit aller Lebewesen geheilt sein wird, wird auch meine geheilt sein.« (T 475, 544b) Aus diesem Grund stellt er seine eigene Erleuchtung zurück und entschließt sich, wieder und wieder geboren zu werden, bis auch alle anderen das Heil erlangt haben. Der spirituelle Wert dieser Entscheidung liegt in dem aktiven Sich-Einlassen auf das Soziale und in der Idee, dass die Gesellschaft eine Erweiterung der eigenen Existenz darstellt. Tatsächlich fordert Vimalakīrti die Bodhisattvas auf, die Erfahrung des Krankseins in etwas Positives zu wandeln, in etwas, das eine heilsame und antreibende Kraft hervorbringt:

26

  »Wegen seiner eigenen Krankheit, sollte er mit allen anderen, die krank sind, Mitleid haben. Er sollte um das Leid der zahllosen Äonen der vergangenen Leben wissen, und daher auf das Wohlergehen aller Wesen bedacht sein. Er sollte auf ein reines Leben achten. Statt Trauer und Verdruss hervorzubringen, sollte er stets die Kraft der Strebsamkeit nähren. Er sollte der König des Heilens werden und alle Übel kurieren.« (T 475, 544c)

Thich Minh Chau:
Five Principles for a New Global Order.
external linkArtikel


Sander H. Lee:
Notions of Selflessness in Sartrean Existentialism and Theravadin Buddhism.
Paideia World Philosophy Conference Paper.
1998.
external linkArtikel


Sulak Sivaraksa:
A Buddhist Response to Global Development.
external linkArtikel


Medagoda Sumanatissa:
Buddhism and Global Economic Justice.
external linkArtikel


James Whitehill:
"Buddhist Ethics in Western Context. The Virtues Approach".
In: Journal of Buddhist Ethics 1 (1994).
external linkArtikel

27

  Hier sehen wir, dass die Erfahrung des Leidens sich in die Fähigkeit, andere zu heilen, verwandelt: Ohne die Erfahrung des Krankseins kann man einander nicht heilen. Dazu heißt es im glänzenden Kommentar Raoul Birnbaums:

28

  »Für Bodhisattvas ... wird die Erfahrung des Krankseins nicht zum Hindernis, sondern zu einem Katalysator, zum einem elementaren Impuls, der zu einer erneuten und verstärkten Hingabe an die spirituelle Arbeit anregt. Anstatt den Bodhisattva dazu zu veranlassen, die Erlösung von seinen körperlichen Schmerzen durch den Eintritt in die Seligkeit des Nirvana zu suchen, soll Krankheit für ihn der große Gleichmacher sein, der ihn im Teilen der leidvollen Erfahrung des Krankseins an die essentielle Brüderlichkeit aller Menschen erinnert. Im Bewusstsein seiner Verbundenheit mit allen Wesen, sollte er seinen Entschluss bekräftigen, ihnen helfend beizustehen.« (Birnbaum 1979, 14)

29

  Es sieht so aus, als heiße der wahre Bodhisattva die Erfahrung des Leidens tatsächlich willkommen, oder als suche er sie. So lesen wir es im Vajradhvaja-Sūtra:

30

  »Ich will alle Zustände von Leid, die in irgendeinem Weltsystem anzutreffen sind, alle Ebenen des Leidens bis zu der Grenze meiner Belastbarkeit durchleben ... Ich bin entschlossen in jedem einzelnen dieser Zustände für zahllose Äonen auszuharren. Und so will ich allen Wesen auf allen Ebenen des Leidens zur Befreiung verhelfen.« (Übers. nach Conze et al. 1964, 131)

31

  Warum entscheidet sich der Bodhisattva dafür, die Leiden anderer auf sich zu nehmen? Auf welche Weise befähigt ihn das, anderen zu helfen und sie, und letztlich auch ihn selbst zur Erleuchtung zu führen? Das ist möglich, weil er sich nur im vollständigen Sich-Hingeben an die Erfahrung der Anderen, was natürlich auch ein Teilen der Erfahrung von Krankheit und Leid bedeutet, als vollkommen mit ihnen identisch erlebt. Die Erfahrung, selbst ganz in deren Leid aufzugehen und so seine wesentliche Identifikation mit ihnen zu verwirklichen, ist das einzige Werkzeug, mittels welchem der Bodhisattva seine Weisheit und sein Mitgefühl entwickeln kann, – Qualitäten, die er braucht, um Anderen die Wurzel ihres Krankseins zu enthüllen. Zugleich mag er dieselben Qualitäten von Weisheit und Mitgefühl nützen, um zu entdecken, warum er selbst leidet.

32

  Diese Überlegungen sind offenkundig auf der Ebene der Soteriologie angesiedelt und nicht in der Sozialphilosophie. Der Bodhisattva versucht, sich selbst vor dem Leid zu retten, indem er Erleuchtung erlangt, aber auf Grund seiner tiefen Einsicht in die Lehre von der Selbstlosigkeit erkennt er, dass er dafür zuerst allen anderen Wesen zur Heilung verhelfen muss. Das schließt in der Folge ein aktives Sich-Einlassen in deren Leiden ein, und weiters den Willen, eine persönliche Inspiration im Kampf gegen das Leiden im Allgemeinen zu erlangen.

Sungtaek Cho
ist Assistenzprofessor für Buddhismus und ostasiatische Religionen an der State University of New York in Stony Brook.


33

  Obwohl die soteriologische Ausrichtung hier unzweifelhaft ist, ist auch die Basis für eine beginnende Theorie sozialer Gerechtigkeit klar erkennbar. Alles, was wir tun müssen, ist, uns von der ontologischen oder soteriologischen Ebene hinunter auf die Ebene der Erscheinungen zu bewegen. Wenn wir dies vollzogen haben, liefert uns die Theorie der Selbstlosigkeit die Grundlage, die wir brauchen, indem sie die wechselweise Abhängigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft und die uns gemeinsam betreffende Natur allen Leidens, des geistigen, körperlichen, emotionalen und ökonomischen hervorhebt. Anders gesagt: Genau wie Rawls' Gründerväter gezwungen sind, sich vorzustellen, dass sie möglicherweise irgendwer innerhalb der Gesellschaft sein könnten, um die Fairness ihrer Gesetze zu gewährleisten, so verlangt die Lehre von der Selbstlosigkeit, dass sich Buddhisten tatsächlich als jeder innerhalb der Gesellschaft sehen. Die sozialen Implikationen dieser Haltung sind natürlich durchschlagend: Ihre Armut wird meine Armut, seine Tragödie wird meine Tragödie. Und im Zusammenhang mit dem Modell eines aktiven Engagements, wie es das Bodhisattva-Ideal vorgibt, indem das persönliche Heil in der Hilfe für andere besteht, stoßen wir auf einmal auf eine solide rationale Basis für das soziale Handeln.

34

  Wie würde eine Theorie buddhistischer sozialer Gerechtigkeit im Detail aussehen? Wie würde eine gerechte Gesellschaft aus dem Blickwinkel des Buddhismus aussehen? Das sind offensichtlich sehr komplexe Fragen, die weit über den Rahmen dieses Artikels hinausreichen. Mein Ziel war es hier zu zeigen, dass diese Fragen vom Standpunkt des Buddhismus gestellt werden können – ja dass sie dringend gestellt werden müssen – und dass der Versuch, sie zu beantworten, wie vorläufig auch immer, tatsächlich längst überfällig ist.


Literatur


Primärquellen

T 475 "Wei mo ch'i so shuo ching", gesammelt in Taishō shinshū daizōkyō, Vol. 14, 537-557.


Sekundärquellen

Raoul Birnbaum (1979): The Healing Buddha. Boston: Shambala.

Edward Conze et al. (eds.) (1964): Buddhist Texts Through the Ages. New York – Evanston: Harper Torchbooks.

I.B. Horner (trans.) (1966): The Book of the Discipline. Vol. IV. London: Pali Text society (Sacred Books of the Buddhist 30).

John Rawls (1971): A Theory of Justice. Cambridge/Mass.: Harvard University Press. (deutsch: (1979). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.)

Anmerkungen


 1   

T 475 "Wei mo ch'i so shuo ching", 538c. Ich gebe den Terminus fo t'u (buddhakṣetra) oder Buddha-Land als "Gesellschaft" wieder, was – wie ich glaube – nicht weit von der ursprünglichen Bedeutung entfernt liegt und den ursprünglichen Sinn dieses Begriffes besser in den Kontext unserer Diskussion einfügt. 

 2   

Man könnte das als "Perfektionismus" bezeichnen, eine Kategorie, unter welche auch Konfuzius' Begriff von Gerechtigkeit fällt. Ein perfektionistischer Begriff von Gerechtigkeit birgt die Gefahr in sich, persönliche Freiheiten einzuschränken und eine soziale Hierarchie zu rechtfertigen. Der Perfektionismus scheint mir eines der Charakteristika des klassischen Gerechtigkeitsbegriffes im Osten wie im Westen zu sein. In Übereinstimmung mit Plato sah das brahmanische Indien den Zweck des Kastensystems in der Verwirklichung von angemessener sozialer Gerechtigkeit. Ein extremer Fall eines perfektionistischen Begriffs von sozialer Gerechtigkeit kann in der Bhagavad Gītā, einem Klassiker des brahmanischen Indien, gesehen werden. Mitten in der Schlacht ringt Arjuna verzweifelt mit der Frage, ob er seinen Bruder töten muss, auch wenn es um der Gerechtigkeit willen sei. Die Inkarnation von Krishna (Kṛṣṇa) sagt ihm, dass seine Verpflichtung als ein Mitglied der Kshatriya-Kaste (Kṣatriya) vor der individuellen Ethik käme. Es ist bemerkenswert, dass das Sanskrit-Wort Dharma sowohl "Gerechtigkeit als Rechtschaffenheit" als auch "Verpflichtung" bedeutet. 



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