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It is a little more than fifty years that African cultures have been the subject of open and widespread philosophical deliberation. It is even more recent that African philosophy has been a subject of academic learning, investigation and debate, both in Africa itself and abroad. The end of European colonization of Africa in the twentieth century has enabled African scholars generally and philosophers particularly to pursue consciously, and at times also vigorously, Africans' cultural freedom. As we know and debate them today, several of the key issues in African philosophy are a critical part of the wider postcolonial cultural critique which has occurred across the disciplines. At their gloomy end, many of these issues may continue to address what some continue to perceive as Africans' need for total cultural independence. On the heuristic side, Africans' practice of philosophy in the postcolonial period has made it possible to reconsider many philosophical issues and problems with the freshness of new comparative conceptual dimensions. This latter approach makes it possible for African philosophers to participate in a cross-cultural philosophical discourse without sacrificing the independence of African modes of thought. The essay reviews some of the recent works of various of those African philosophers who have particularly influenced the perception and reception of African philosophy both within and outside the continent. |
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Der Beitrag erschien zuerst in:![]() Nr. 10/11 (2004) zum Thema: Philosophie im 20. Jahrhundert |
1 | Das letzte Vierteljahrhundert war eine besonders produktive Phase für die afrikanische Philosophie, vor allem weil es die Stimmen afrikanischer Denker direkter und in größerer Anzahl als je zuvor einbezogen hat. Während dieser Phase haben die meisten afrikanischen Universitäten philosophische Institute etabliert, die in ihren personellen und intellektuellen Möglichkeiten beträchtlich gewachsen sind. Zur selben Zeit haben etliche Universitäten philosophische Gesellschaften gegründet, darunter einige mit hervorragenden Zeitschriften, die bereichernde Foren für den philosophischen Diskurs auf dem afrikanischen Kontinent boten. | ||
2 | Seit 1983, d.h. seit der Publikation der englischen Auflage von Paulin Hountondjis African Philosophy: Myth and Reality 1 hat afrikanische Philosophie ein immer größeres Publikum unter englischsprachigen Akademikern, vor allem in den USA, gefunden. Eine Reihe von Faktoren sind für diese Kehrtwendung verantwortlich. | |||
3 | Erstens hat afrikanische Philosophie in letzter Zeit bei amerikanischen Herausgebern Wurzeln geschlagen. Zweitens sind aus verschiedensten Gründen einige prominente afrikanische Intellektuelle, bedeutende afrikanische Philosophen eingeschlossen, während ihres Studiums zu akademischen Institutionen in die USA gewechselt oder blieben dort nach ihrem Studium. Drittens haben die steigende Zahl der Afro-Amerikaner in dem Fachgebiet und ihr Kampf um Aufmerksamkeit für einen afrozentrischen Diskurs oft ein Interesse oder ein Bedürfnis inkludiert, afrikanische Philosophie als Teil eines umfassenderen Africana-Horizonts in ihren Diskurs zu integrieren. Diese und vielleicht auch andere Faktoren haben zu der Sichtbarkeit beigetragen, die afrikanische Philosophie in den letzten Jahren in Nordamerika erlangt hat. | |||
Vom Mythos zur Realität |
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![]() Paulin J. Hountondji (*1942) ![]() |
4 | Hountondji ist nicht nur einer der produktivsten afrikanischen Philosophen, er ist auch einer der besten und der meist gelesenen und vielleicht einer der umstrittensten. Die Frage ist, ob die Kontroversen, die seine Schriften hervorgerufen haben, angemessen zeigen, wofür er als führender und einflussreicher Intellektueller steht: einerseits beschäftigt mit Afrikas Leistungen auf der globalen Ebene der Produktion und des Konsums von Wissen und andererseits mit der Rolle, die Wissen in Bezug auf soziale Transformation spielt. | ||
5 | Hountondjis Arbeit ist vielleicht am besten bekannt für seine Kritik an etwas, das als »Ethnophilosophie« traurige Berühmtheit und Verbreitung erlangt hat. Eingeführt durch die bahnbrechende Methodologie von Placide Tempels, hat »Ethnophilosophie« unter afrikanischen und westlichen afrikanistischen Intellektuellen, vorwiegend Theologen, als ein nützliches Werkzeug Verbreitung gefunden, das für die Autonomie und die Würde der afrikanischen Intellektuellen sprach – in einer Welt, die für ihren Skeptizismus gegenüber den Tugenden Afrikas bekannt war. | |||
6 | Unter dem Eindruck eines globalen anti-kolonialen Erwachens und der Entstehung einer post-kolonialen Bewegung, der Übereinstimmung von säkularen politischen und kulturellen Bewegungen der nationalistischen Befreier einerseits, und der neuen missionarischen Strategien, hervorgerufen durch einen Niedergang des ehemals riesigen und mächtigen Reichs der christlichen Missionskirche, andererseits, wurde die Wiederbelebung der nicht-westlichen Kulturen in ihrer Selbstdarstellung möglich. Aus diesem weiteren historischen Kontext ist Tempels Idee der Bantu-Philosophie entstanden. Indem sie ausdrücklich die Unentbehrlichkeit lokaler Kulturen für ihre eigene Verbreitung bejahte, fand die christliche Kirche einen Weg der Selbsterneuerung und wurde in lokalen Ausdrucksweisen heimisch. | |||
7 | Im afrikanischen Kontext wurde der Gedanke von der Verschmelzung des Universalen mit dem Partikularen zuerst durch Alexis Kagame zu einem philosophischen Projekt und bald danach durch eine steigende Zahl afrikanischer Philosophen und Theologen. Zu der Zeit, als Hountondjis Text erschien, war ein Skeptizismus hinsichtlich der Beziehungen zwischen dem Universalen und dem Partikularen schon verbreitet. Während Hountondji sich Tempels These anschloss, diese aber auch radikal verfeinerte, identifizierte Kagame den Ort der universalen Philosophie in der strukturellen Komplexität lokaler Sprachen. Er argumentiert, dass Struktur die Kategorien des Seins in ihrer Gesamtheit verkörpert, ähnlich wie in der aristotelischen Metaphysik. | |||
8 | Hountondjis Einwand gegen diese Sichtweise war sowohl vernichtend als auch belehrend. Er argumentierte, dass die Ergebnisse des Projekts bestenfalls ethnophilosophisch seien, getrieben von dem Ehrgeiz etwas zu verschmelzen, das sonst in entgegengesetzter Beziehung zueinander stünde – das Ethnographische und das Philosophische. Das Erstere ist kollektiv und passiv und seine Behauptungen sind anonym. Im Gegensatz dazu ist Letzteres dialektisch in einer radikal anderen Form von rationalem Prozess verortet. In der Tat scheint das Faktum, dass die Begriffe, in denen die Realität oder das Sein als die abstrakteste Form in der gewöhnlichen Sprache auftauchen, wie von Kindern zur Kommunikation erlernt, eine Übertreibung von Kagames ethnophilosophischer Methode zu sein. | |||
9 | Es ist offensichtlich, dass die Vertreter der Ethnophilosophie den verworrenen Charakter der Idee von Philosophie selbst ausnutzten, indem sie die zwei verwandten aber getrennten Ordnungen des Diskurses durcheinander brachten: einerseits die allgemeinen Gründe und die Hingabe, mit der Leute gewisse Dinge glauben und auf bestimmte Weisen handeln, und andererseits die verschiedenen Tätigkeiten, die als akademische Disziplin von Philosophieinstituten der Hochschulen verfolgt werden. Hountondjis hauptsächliches Bestreben zu dieser Zeit schien die Trennung zwischen den Netzen einer professionellen Tätigkeit und den relativ verstreuten Annahmen und Normen des Alltagslebens zu sein. Wenn solch eine Trennung die Disziplinen nicht schon außer Reichweite von den Belangen des gewöhnlichen Volks platzierte, war sie seiner Meinung nach vonnöten. | |||
10 | Hountondjis Hartnäckigkeit bestand nicht darin, dass es hier keine Philosophie erster Ordnung geben könnte, sondern darin, dass Ethnophilosophen fälschlicherweise weiterhin die Trennung zwischen den zwei Ordnungen durch eine Unterdrückung der Trennung in ihren Schriften verdunkelten, eine Anstrengung, die sich in der Menge der Publikationen, Doktorarbeiten u.a. widerspiegelt, die kollektiven kulturellen Glauben als Philosophie präsentieren. Er argumentiert vehement dagegen, dass Philosophie in kollektiven Glaubensansichten, Handlungsweisen oder anderen Gewohnheiten zu finden sei und nur darauf warte, entdeckt und für die Welt neu beschrieben zu werden. Solche neuen Beschreibungen hätten nichts Philosophisches an sich, außer dass ihre Autoren sie so nennen. | |||
Hountondji argumentiert vehement dagegen, dass Philosophie in kollektiven Glaubensansichten, Handlungsweisen oder anderen Gewohnheiten zu finden sei und nur darauf warte, entdeckt und für die Welt neu beschrieben zu werden. Solche neuen Beschreibungen hätten nichts Philosophisches an sich, außer dass ihre Autoren sie so nennen. | 11 | Außerdem beharrt er darauf, dass Ethnophilosophie nicht auf die Reflexion und Kritik einer afrikanischen Leserschaft abziele, was ein wahrer philosophischer Diskurs (zwischen jedem Volk, das eine Kultur von Ideen teilt, Afrikaner inbegriffen) tun sollte. Afrikanische Ethnophilosophie sei eher auf die Befriedigung eines westlichen Publikums gerichtet, besonders eines wenig oder gar nicht intellektuellen. | ||
12 | Hountondjis scharfe, beißende und kompromisslose Kritik der Ethnophilosophie brachte ihm bald Vorwürfe des Okzidentalismus, Idealismus, Elitismus und Aristokratismus ein. Die Kritiken an Hountondji waren unterschiedlich, von Tönen populistischer Rhetorik bis zu schwerwiegenden persönlichen Angriffen und Drohungen. Erstere wird zum Beispiel verkörpert durch Abdou Touré, letztere durch Koffi Niamkey. Ironischerweise wurde Hountondji in diesen Kritiken selbst beschuldigt, unkritisch die europäische Idee von Philosophie, die eine elitäre Idee und durch Exklusivität gekennzeichnet sei, zu übernehmen und dies auch von den Afrikanern zu verlangen. Diesen allgemeinen Vorwurf brachten z.B. von Olabiyi B. Yai und Pathé Diagne vor. Aber auch europäische Intellektuelle, bekannte Philosophen wie Heidegger eingeschlossen, die darauf aus waren, die Philosophie in eher vertrauter Art und Weise oder als vornehmlich europäischen Besitz zu schützen, folgten nach. | |||
13 | In Hountondjis Sichtweise wird der Okzidentalismus auch dann nicht eliminiert, wenn in Afrika Modi intellektuellen Schaffens gefunden werden, die als dieselben wie jene Europas gelten. Afrikanische intellektuelle Produktionen erhalten auch nicht mehr Wert, wenn für sie etwas geltend gemacht wird, das sie nicht sind, oder indem ihre Bedeutung oder ihre Geltung fernab jeder Proportion dargestellt wird. Ihr Wert muss darin liegen, aus ihnen effektive Werkzeuge zu machen, um Afrikas Zukunft zu formen, anstatt aus ihnen verarmte oder simplifizierte Formen des Denkens zu machen. Hountondji ist der Ansicht, dass lebhaftes Denken in der Vielfalt und Intensität der diskursiven Strömungen sichtbar wird, die es anregt. Einige dieser mögen untereinander sogar feindselig gesinnt sein. Im Gegensatz zu den Wünschen und Abstraktionen der Ethnophilosophen stellt wahres afrikanisches Denken solch eine Vielfalt und Intensität dar. | |||
14 | Im neuen Vorwort zur zweiten Auflage von African Philosophy: Myth and Reality (1996) wiederholt Hountondji einige Antworten auf seine Kritiker, gibt aber auch gute und zeitgemäße Erläuterungen mancher Punkte, die Hauptziel der Kritik sowohl in der originalen französischen als auch in der ersten englischen Ausgabe wurden. In der Tat machen die Einleitung zur zweiten Auflage sowie andere jüngere Arbeiten deutlich, dass Hountondji kein Feind von Afrikas indigenen Wissenssystemen ist – und er erklärt, dass er es nie war –, wie fälschlicherweise von vielen angenommen wurde, die seine Kritik an der Ethnophilosophie ablehnten. In letzter Zeit ist er einer der stärksten und am meisten sichtbaren und hörbaren Verfechter von indigenem Wissen geworden. Wie wir kurz erklären werden, ist sein Punkt, dass in den meisten Gebieten indigenes Wissen dringend als kritischer zusätzlicher Anstoß gebraucht wird. | |||
Paulin J. Hountondji: Afrikanische Philosophie. Mythos und Realität. Berlin: Dietz, 1993. ![]() Dietz Verlag Berlin: ![]() Online-Bestellung: ![]() |
15 | Unbeabsichtigt hat die Kontroverse über Ethnophilosophie einer breiteren Debatte einen neuen Blickwinkel gegeben. Diese Kontroverse gab es schon, als afrikanische Philosophen und Politiker sich über den philosophischen Verdienst von lokal produziertem Wissen oder indigenen Wissenssystemen stritten. Wiederbelebt und kontextualisiert durch die Ethnophilosophie-Debatte, prüft sie nun die Beziehungen zwischen lokalen und universalen Wahrnehmungen von Wissen. Hountondji betonte die Idee von dialektisch fundiertem Wissen und die Idee von Philosophie als einer Form von »Diskurs und Geschichte des Diskurses«. Ihm zufolge ist Diskurs, in seiner internen Struktur wie auch seiner dialektischen Historizität, eine absolute Notwendigkeit für die Entwicklung von kritischer Philosophie und Wissenschaftskultur im Ganzen. Die mangelnde Ausführung dieser Sichtweise und die kompromisslose Art der Behauptung in der ersten Auflage ließ den Eindruck aufkommen, dass er eine scharfe Trennung zwischen professioneller Praxis und den sozialen Bedingungen zog, unter denen professionelle Praktiker lebten und arbeiteten. Kritiker meinten, Hountondji verunglimpfe besonders die indigenen oralen Traditionen als irrelevant für die Produktion von philosophischem Wissen. Obwohl Schreiben gegenüber Mündlichkeit in der Förderung und Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen Diskurses vergleichsweise privilegiert ist, folgt daraus nicht, wie einige Kritiker Hountondji falsch auslegten, dass orale Literatur allgemein an Bedeutung verliere oder dass oraler Ausdruck von Philosophie – philosophische »Mündlichkeit« – im Speziellen ipso facto als eine Ausdrucksform von Philosophie disqualifiziert sei. | ||
16 | Das Bestehen auf einer Theorie der Wissenschaft im Speziellen und einer Soziologie des Wissens im Allgemeinen – hier verstanden als dialektisch angetrieben durch die kritische Beschäftigung mit Problemen des Lebens – führt Hountondji zu einer Kritik an Afrikas intellektueller und wissenschaftlicher Abhängigkeit von der restlichen Welt und zu der Postulierung des Wertes von Afrikas eigenem lokalen Wissen. Mit nahezu unübertrefflicher Emphase rufen Hountondjis Schriften nach einer Rückkehr des afrikanischen Subjekts, das Verantwortung für sich selbst und Kontrolle über sein eigenes intellektuelles, soziales, politisches, wissenschaftliches und ökonomisches Schicksal übernimmt. Es ist der Weg zur Definition einer afrikanischen Subjektivität, die Hountondji durch die Anthropologie des Wissens führt, durch die Soziologie des Wissens und vor allem durch die marxistische Theorie und seine althussersche Artikulation. | |||
17 | So wie es vielfältige afrikanische Wege zum Sozialismus gab, gab es auch verschiedene Wege zu dem, was Afrikaner für sinnvolle und lokal nachhaltige Entwicklung halten. Hountondjis jüngste Aufmerksamkeit für das lokale Wissen als Basis für politisch sinnvolle und lokal nachhaltige Entwicklung steht in Beziehung zu dem, was er als Ungleichgewicht in der globalen Politik der Produktion, Distribution und dem Konsum von Wissen wahrnimmt. Ihm zufolge ist Wissen das Basiskapital für nachhaltige Entwicklung in jeder Gesellschaft. Afrikas lokales Wissen muss einer kritischen und konstanten Bewertung und Modifikation unterzogen werden, um zu einem legitimen Startpunkt für die Produktion von entwicklungsrelevantem Wissen und solchen Fähigkeiten zu werden. Afrikas Entwicklung muss mit einem Nettowachstum seines Wissens, insbesondere wissenschaftlichen Wissens, beginnen. Hountondji zufolge ist die Tatsache, dass eine große Anzahl afrikanischer Völker eine Welt bewohnen, die auf »dualer Sprache« aufgebaut ist, Grund genug für das wiederholte Bemühen zwei Formen von Rationalität zu integrieren und diese zusammen zu denken. In anderen Worten, weil sie in einer Welt leben und operieren, die durch die Koexistenz von »jüngeren« und »älteren« theoretischen und technologischen Ansätzen zur Lösung von alltäglichen Problemen definiert ist, sind sie gut platziert, um die Transformation von älterem indigenen Wissen als Antwort auf neue Bedürfnisse und Interessen zu verfolgen. | |||
So wie es vielfältige afrikanische Wege zum Sozialismus gab, gab es auch verschiedene Wege zu dem, was Afrikaner für sinnvolle und lokal nachhaltige Entwicklung halten. | 18 | Obwohl Hountondji Gewicht auf die Kategorien »wissenschaftlich« und »modern« als fortgeschrittene Stadien in der dialektischen Transformation von Wissen und technologischen Hilfsmitteln legt und betont, dass Afrikaner ihre Welt hin zu diesen Ebenen verwandeln müssen, ist es offensichtlich, dass er auch argumentiert, dass die Begriffe »wissenschaftlich« und »modern« nicht »ausländisch« bedeuten. Noch ist der Wunsch nach diesen Begriffen gleichbedeutend mit dem Wunsch nach etwas, das nicht afrikanisch ist, wie einige seiner Kritiker ihn nach der früheren Auflage seines Buchs falsch auszulegen scheinen. | ||
19 | In einer eher überraschenden Wendung erklärt Hountondjis jüngstes Buch The Struggle for Meaning (2002) nun, wie er zu den Positionen kam, für die er kritisiert wurde. Es wird für viele von Hountondjis Lesern überraschend sein, wie er seine intellektuelle Reise an Edmund Husserl knüpft, besonders an die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Es war seine Intention, Husserls Fußstapfen folgend, die Idee von Wissenschaft, die er als entscheidend für das Verständnis von afrikanischer Erfahrung in der postkolonialen Periode und dieser Verhältnisse betrachtet, auf die Idee und Struktur von Bewusstsein zu gründen. Die Verbindung zwischen der Anhängerschaft zu Husserl und der frühen antitraditionalistischen Stimmung ist nicht immer klar. | |||
Philosophie und die Wurzeln universaler Kategorien |
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20 | Während der deutsche Philosoph Immanuel Kant dachte, dass Menschen am besten und vollkommensten urteilen, wenn sie losgelöst von sozialen und anderen unmittelbaren Interessen sind, haben afrikanische Philosophen über die Jahre hinweg stark dahingehend argumentiert, dass Menschen außerhalb ihrer Beziehungen mit anderen nicht in der Lage sind, sich selbst zu verstehen und zu erkennen. Darüber hinaus sind sie dann auch nicht fähig, einen Sinn für die idealen moralischen und kognitiven Werte zu haben, die Kant ihnen zuschreibt. Damit haben afrikanische Philosophen einen großen Beitrag zu einem alternativen Weg der Betrachtung neuer und bereits bekannter philosophischer Probleme geleistet: die Wiederaufnahme dieser Probleme von einem gemeinschaftlichen Standpunkt aus. Niemand widmet sich dieser Aufgabe besser als Kwasi Wiredu in seinem jüngsten Buch Cultural Universals and Particulars (1996). | |||
21 | Eine der auffallenden Errungenschaften dieses wichtigen Buches ist Wiredus Fähigkeit, auf philosophische Probleme sowohl aus westlicher als auch aus afrikanischer, hier besonders der Akan-Perspektive, zu reflektieren. Unter Nutzung zusätzlicher sprachlicher und kultureller Quellen, derer sich verschiedene nicht-westliche Philosophen oft erfreuen, dehnt er das analytische Feld der Referenzen und Bedeutungen von Begriffen und Konzepten auf eine Art und Weise aus, die den Unterschied von Begriffen zwischen intellektuellen Traditionen aus verschiedenen Kulturen deutlich macht. Damit regt er zugleich eine frische Sicht auf alte ungelöste und problematische Theorien und Doktrinen an. Sichtbar wird hierbei Wiredus außerordentliche Fähigkeit, den universalen Charakter philosophischer Probleme vergleichend zu denken, ohne die Abhängigkeit der Philosophie von den Besonderheiten lokalen Wissens und lokaler Rahmenbedingungen aufzugeben. Ein solches Herangehen unterstützt indirekt den Pluralismus, d.h. die Auffassung, dass es konkurrierende Bewertungsansätze mit zwingenden inneren Werten gibt, die im Idealfall alle Menschen erkennen können und sollten. Das heißt, Multikulturalität, besonders wenn sie uns dazu befähigt, in mehreren Sprachen zu arbeiten, ist nicht der Luxus eines vollständigeren und vergleichenden philosophischen Unternehmens, sie befähigt uns vielmehr, begriffliche Einschränkungen aufgrund begrenzter Sprachmodelle zu erkennen. Es ist die Betrachtung des Inhalts von Begriffen in verschiedenen Sprachen, die das Gedeihen philosophischen Denkens im Westen erst möglich gemacht hat: die Analyse von ursprünglich in Griechisch, Latein, Persisch und anderen Sprachen geschriebenen Texten, die Lesern anderer Kulturen zugänglich gemacht wurden. | |||
![]() Kwasi Wiredu (*1931) ![]() |
22 | Während ein großer Teil der Studien originaler fremdsprachiger Texte im Westen eher auf exegetische Erklärungen hinausläuft, fordert Wiredu interkulturelle Vergleiche und die Entgegensetzung von Begriffen, und zwar so, dass Begriffsfelder weiter entwickelt und ausgedehnt werden. Der Begriff des Pluralismus muss seiner Auffassung nach sorgfältig gebraucht werden, um zu verhindern, dass irgendeine Art von Relativismus oder Inkompatibilität in die begriffliche und kommunikative Vielfalt der Gemeinschaften der menschlichen Spezies impliziert wird. Es ist Wiredus innerste Überzeugung, dass die Spezies des Menschen in all jenen Dingen verbunden ist, die für sie von Bedeutung sind, wie die Regeln des Denkens und der Kommunikation, die sich interkulturell und international unter und zwischen allen Menschen ergeben. | ||
23 | Die Grundlage seiner Idee eines kulturellen Universalismus ist ein Panpsychologismus, d.h. die Auffassung, dass das kognitive Vermögen und die Prozesse der Erzeugung von Wissen und anderen Formen des Bewusstseins, die entscheidende Basis der Idee vom Bewusstsein selbst, bei allen Mitgliedern der menschlichen Spezies dieselben sind. Dieser biologische Sachverhalt ist nicht nur die Grundlage der Ähnlichkeit zwischen allen Mitgliedern der menschlichen Spezies, sondern ebenso die der Antithese zum Relativismus oder jedes anderen Glaubens an ein fragmentiertes Bild vom Menschen. | |||
24 | Die Grundfrage seines Buches kann meiner Meinung nach wie folgt rekonstruiert werden: Wie würden die philosophischen Theorien, wie wir sie kennen gelernt haben, aussehen, wenn man die darunterliegenden soziologischen Annahmen verändern würde, auf denen sie aufgebaut wurden? Die westliche Philosophie, zumindest das, was als ihre dominanten Grundzüge im Laufe der Geschichte anerkannt wurde, baut auf einem Verständnis vom menschlichen Intellekt als autonomem Werkzeug auf. Auch die einzelne Person ist eine autonome und unabhängige Entität. Eine solche Ansicht muss eine Weltanschauung entwickeln, die moralische (was ist gut) und kognitive Werte (was ist wahr) ebenfalls als unabhängige Entitäten setzt, die der menschliche Verstand unter Beachtung spezifischer Verfahrensregeln auf unabhängigem Wege erlangen kann. Liegt der Schwerpunkt auf dem Individuum, richtet sich nicht nur das Verständnis des Begriffs der Person an dieser Annahme aus. Auch die Definitionen dessen, was von Bedeutung ist und wie diese Bedeutung erreicht und geschützt werden soll, sind gleichermaßen daran ausgerichtet. Feine kulturelle Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen menschlichen Gemeinschaften können auf der alltäglichen und praktischen Ebene des Lebens sowie bei der theoretischen Idealisierung der Ziele des menschlichen Strebens anhand des Verständnisses vom Individuum oder anhand des Begriffs der Person deutlich werden. 2 Wie kann man dann von einer moralisch richtigen Handlung sprechen, oder, im Rahmen der Erkenntnistheorie, von Wahrheit, wenn vom Vorrang des Individuums ausgegangen wird, so wie in der westlichen Philosophie? | |||
Wie würden die philosophischen Theorien, wie wir sie kennen gelernt haben, aussehen, wenn man die darunterliegenden soziologischen Annahmen verändern würde, auf denen sie aufgebaut wurden? | 25 | Eine der Kritiken an seinem Buch Philosophy and an African Culture richtete sich gegen seine Definition von Philosophie als ein universales Unternehmen, auf Kosten der von Afrikanern behaupteten Besonderheit und Differenz. Wiredu geht davon aus, dass Kulturen gleichzeitig partikular und universal sind und dass kulturelle Universalität nicht nur möglich ist, sondern wirklich existiert. Das Problem wird zunächst anhand von Überlegungen zur Natur von Bedeutungen entwickelt, wobei ein Vorrang der menschlichen Kommunikation angenommen wird. Ist das grundlegende Ziel menschlicher Kommunikation das Teilen von Bedeutungen oder Signifikanten (significations), dann müssen Bedeutungen oder Signifikanten objektiv für alle Menschen zugänglich sein, die diese grundlegenden und erklärenden menschlichen Handlungsweisen in Anspruch nehmen. Bedeutungen übersteigen die Endlichkeit des Referenzobjekts oder die Formen ihres kulturell spezifischen sprachlichen Ausdrucks. Sie sind objektiv und können so von jedem erreicht werden, der in der Lage ist, zu kommunizieren. Laut Wiredu ist die Geschichte der Philosophie voller Fehler hinsichtlich der Idee, dass Bedeutungen objektiv seien. Der Platonismus und nachfolgende Theorien nehmen an, dass Bedeutungen, wenn sie objektiv sind, auch »Entitäten« sein müssen, die abgetrennt und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existieren. In einer Argumentation ähnlich derjenigen von Aristoteles gegen Platons Ideenlehre, behauptet Wiredu, dass Bedeutungen nicht erklärt werden könnten, wenn sie Entitäten wären, denn das würde den Rückgriff auf eine dritte Entität erfordern und so weiter ad infinitum. | ||
26 | Aber die Widerlegung von Bedeutung als Entität gibt auch dem Nominalismus nicht Recht. Während dieser zwar richtigerweise ablehnt, dass Bedeutungen Entitäten seien, gehen die Vertreter des Nominalismus so weit, die Kategorie der Bedeutung ganz aus der semantischen Analyse zu eliminieren. | |||
27 | Für Wiredu liegen die Objektivität der Bedeutung und damit die Universalität der Kommunikation genau in der Differenz zwischen Bedeutung und Referenzobjekt, eine entscheidende Differenz, die vom Nominalismus übersehen wurde. Für ihn liegt die Objektivität von Bedeutungen in ihrer Rolle beim Erklären der universalen menschlichen Natur begründet. Wir weisen die Unterscheidungsmerkmale, die uns als Menschen auszeichnen, aufgrund unseres universalen biologischen Systems auf, welches es uns ermöglicht, Informationen mittels der Schaffung von Bedeutungen als allgemeinen kommunikativen Inhalt von intelligiblen Äußerungen Anderer zu empfangen und zu verarbeiten. Bedeutungen übersteigen damit das besondere kommunikative Medium, durch das sie übermittelt und empfangen werden. Das heißt, dass sie allgemeiner als die unterschiedlichen und idiosynkratischen menschlichen Sprachen sind. Menschen sind biologisch »verdrahtet«, um Bedeutungen in der Kommunikation mit anderen zu verarbeiten und zu nutzen, ungeachtet des zugrunde liegenden kulturellen Mediums, mit dem sie das tun. Mit seiner Argumentation fügt Wiredu eine afrikanische Stimme zu einem der vielleicht einflussreichsten philosophischen Probleme des 20. Jahrhunderts (vgl. die analytischen Theorien zum Verhältnis von Sprache, Bedeutung und Bewusstsein) hinzu. Sein Beitrag besteht in der Theorie, dass Bedeutung nicht nur in rein logischen Termini verstanden werden kann, ohne das Fundament der kollektiven und sozialen Beziehungen einzubeziehen, die die Idee von Bedeutung aller erst möglich machen. Bedeutungen, und damit Bewusstsein, sind objektiv in dem Sinne, dass sie biologisch möglich gemacht werden, und nicht in dem Sinne, dass sie als Entitäten unabhängig vom kommunikativen Akt existierten. Menschen, der Fähigkeit zur Kommunikation beraubt, kann deshalb der Besitz von Bewusstsein oder der Fähigkeit, Bedeutungen zu entwickeln, wie vom Standpunkt der Kommunikation aus verstanden, nicht zugeschrieben werden. Und da Kommunikation hilft, die Grundlage der Rolle des Individuums als Handelnder aufzubauen, d.h. ausgestattet mit dem Vermögen und der Fähigkeit, Rollen (kognitive, moralische und gesellschaftliche) kompetent auszufüllen, die uns als Mitglieder der Spezies zukommen, ist sie die Grundlage unserer Persönlichkeit. | |||
Kommunikation löst im Gehirn der Empfänger kommunikativer Bedeutungen bestimmte Reize aus und schafft so die Bedingung für die Bildung von Bedeutungen – d.h. die Möglichkeit und den Akt der Entschlüsselung komplexer Symbolsysteme einer anderen Person. | 28 | Diese Diskussion der Natur der Kommunikation und der Objektivität von Bedeutungsverweisen führt Wiredu zur Erörterung der Natur des Bewusstseins. In ausdrücklicher Verteidigung des Monismus lehnt er die Auffassung ab, dass das Bewusstsein eine Entität sei, die von anderen Komponenten der Persönlichkeit unterschieden werden kann. Seiner Meinung nach beruht das Konzept vom Bewusstsein als Entität, wie wir es z.B. in der zweiten Cartesianischen Meditation finden, auf einer falschen Annahme des Realismus, die davon ausgeht, dass etwas unabhängig vom Bewusstsein existieren muss, um objektiv zu sein, wobei das Bewusstsein wiederum unterscheidbar ist von anderen Entitäten. Für Wiredu kann Bewusstsein nur ein komplexer Zustand sein, der im Prozess und als Resultat der Bildung von Ideen oder Bedeutungen während der Kommunikation entsteht. Damit ist Bewusstsein ein Zustand, der zugleich mit der Entwicklung der Fähigkeit, Ideen als Bedeutungen zu formulieren, entsteht oder sich ereignet. Kommunikation, die Übertragung von Bedeutungen zwischen Gesprächspartnern, löst im Gehirn der Empfänger kommunikativer Bedeutungen bestimmte Reize aus und schafft so die Bedingung für die Bildung von Bedeutungen – d.h. die Möglichkeit und den Akt der Entschlüsselung komplexer Symbolsysteme einer anderen Person. Es ist diese Bedingung für die Bildung von Bedeutungen, die wir Bewusstsein nennen: eine systemische (biologische) Disposition, auf diese Art von Lärm zu reagieren, die wir Sprache nennen. Menschen werden anhand der Funktion dieses prototypischen Merkmals definiert, ein Merkmal, dass sie deskriptiv als »kommunikativ füreinander geschaffen« ausweist. Das Bewusstsein ist ein funktionales Vermögen des Gehirns, eines Organs, dessen Funktion u.a. darin besteht, auf eine Vielzahl von Reizen zu reagieren, eingeschlossen die Kommunikation mit anderen. Von der Kindheit an werden menschliche Gehirne darauf trainiert, auf die kommunikativen Reize der Laute der sie umgebenden Sprache zu reagieren. | ||
29 | Wiredu bringt in die Debatte um die Natur des Bewusstseins die typisch afrikanische relationale Natur der Persönlichkeit als physische Grundlage des Bewusstseins ein. Für ihr Überleben und ihre Selbstverwirklichung sind Menschen in ihren Beziehungen von einander abhängig. | |||
30 | Interessant wäre es nun, Wiredus Auffassung mit anderen afrikanischen Konzepten der Person zu vergleichen, um zu sehen, ob diese Konzepte sich auf Körper, Bewusstsein und mögliche andere Elemente als verschiedene Wesenheiten beziehen oder nur als Vermögen und Disposition, die durch den besonderen organischen Typ des (menschlichen) Körpers entstehen. | |||
31 | In den letzten Jahren haben die Forschungen auf dem Gebiet der Neurologie und der kognitiven Wissenschaften, die die atomistische Auffassung von der Persönlichkeit im Allgemeinen und vom Bewusstsein im Besonderen deutlich unterstützen, stärker als bisher gezeigt, dass die geistige Aktivität des Menschen früher beginnt als bisher angenommen. Es wird z.B. offensichtlich, dass bei Kindern beobachtete elektrophysiologische Prozesse und kognitive Fähigkeiten eher die organischen als die sozialen Anfänge der Reaktion auf die Umgebung und der Wissensbildung von Menschen zeigen. Wiredus These von der Kommunikation als Geburt des Bewusstseins negiert diese neurophysiologischen Ansichten nicht, sondern ist vielmehr ein klares Beispiel für die Trennung zwischen Wissen als System von Begriffen, das sozial begründet ist, und neurologischen Reaktionen als rein physischen oder organischen Ereignissen. | |||
32 | Es gibt eine interessante Ähnlichkeit zwischen Wiredus Position und der John Lockes. Dem britischen Philosophen des 17. Jahrhunderts kommt das Verdienst zu, darauf hingewiesen zu haben, dass kein Widerspruch in der Vorstellung liegt, dass Gott dem Stoff die Kraft des Denkens hinzugefügt hat. Viele westliche materialistische Theorien vom Bewusstsein gründen auf der Identitätstheorie, die behauptet, dass Bewusstsein und Körper (Gehirn) ein und dasselbe Ding sind. Wiredus eigene Theorie trennt beide, jedoch ohne einen Dualismus zu setzen. | |||
»Auf dieser Basis sei bekräftigt, dass das Prinzip der freundlichen Unvoreingenommenheit eine menschliche Universalie ist, die Kulturen, also gesellschaftliche Formen, den gewohnten Glauben und die gewohnten Handlungsweisen, übersteigt. Da es allen menschlichen moralischen Gewohnheiten gemeinsam ist, ist es eine Universalie jeder nicht-brutalen Form des menschlichen Lebens.« Kwasi Wiredu (1996, 29) |
33 | Eine mögliche Frage, die diese Position aufwirft, ist, ob die Universalität eines solchen Vermögens ein ausreichender Grund ist anzunehmen, dass Begriffe bei jedem in einer identischen Weise verarbeitet werden. Nutzen wir zur Erläuterung dessen den Vergleich mit der Posho-Mühle, einer in Afrika weit verbreiteten Maschine, um Korn zu Mehl zu mahlen. Nehmen wir an, dass alle Posho-Mühlen mit einem identischen Typ an Mahlzähnen Mehl mit demselben Grad an Feinheit für alle Arten von Korn liefern, vorausgesetzt, die Arbeitsbedingungen für die Kornarten sind nicht verschieden. Die Frage ist, ob »Bewusstseins-Mühlen« Begriffe, erhalten aus der Kommunikation, mit einer derartigen Uniformität verarbeiten, wie die Posho-Mühle Korn zu Mehl macht. Oder anders gefragt: Können wir annehmen, dass das menschliche Denken ähnlich wie eine Maschine funktioniert, die sich nach den Strukturen und Wirkungen physikalischer Ursachen verhält? | ||
34 | Ich möchte diese Frage hier negativ beantworten. Verschiedene Arten der Kommunikation können zu verschiedenen Varianten des Kommunikationsvermögens der Teilnehmer führen. Solche Varianten negieren nicht ipso facto die Idee einer universalen Rationalität. Während solche Varianten, wie die Sprachen, das verursachen können, was wir kulturelle Idiosynkrasien im menschlichen Glauben und in menschlichen Handlungsweisen nennen, bleibt ihre fundamentale Basis, und das betrachtet Wiredu als entscheidender, universal für alle Mitglieder der Spezies. Eine solche Universalität spiegelt sich in der Universalität der Form wider, d.h. in den Regeln des Denkens, in denen menschliche Kommunikation stattfindet. Die Universalität der Form macht es den Mitgliedern der Spezies möglich, sich nicht nur an verschiedene Sprachvarianten anzupassen, sie können zwischen ihnen auch übersetzen, denn Begriffe sind genauso wie die Regeln des Denkens, durch die sie produziert werden, universal. | |||
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Auch in der Ethik nimmt Wiredu seinen Kampf gegen die (westliche) atomistische Betrachtungsweise des Bewusstweins und Kants Moraltheorie auf. Er argumentiert, dass er Kants kategorischem Imperativ nur dann zustimmen könne, wenn »eine Dosis Mitleid diesen in das Prinzip einer mitfühlenden Unparteilichkeit umwandeln würde«(1996, 29). Seiner Meinung nach ist es nicht schwierig, die praktische Stärke eines solchen Prinzips zu sehen, denn »es braucht wenig Vorstellungsvermögen, um vorauszusehen, dass das Leben in einer Gesellschaft, in der jeder offen das Gegenteil dieses Prinzips anerkennen und danach handeln würde, unvermeidlich ›einsam, arm, gefährlich, brutal‹ und wahrscheinlich kurz wäre«(29). |
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Wiredus Ansicht nach würde Kants kategorischer Imperativ mehr Sinn ergeben, wenn er offen auf dem Prinzip der menschlichen Biologie begründet worden wäre, welches »eine menschliche Universalie ist, die Kulturen, also gesellschaftliche Formen, den gewohnten Glauben und die gewohnten Handlungsweisen, übersteigt. Da es allen menschlichen moralischen Gewohnheiten gemeinsam ist, ist es eine Universalie jeder nicht-brutalen Form des menschlichen Lebens«(29). |
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37 | Hier zielt Wiredus Kritik auf eine bekannte Schwäche der kantschen Theorie: Sein kategorischer Imperativ beruhe auf der unzureichenden Übertragung unabhängig erlangter moralischer Prinzipien auf andere Personen. Wiredu schließt diese Lücke, indem er vorschlägt, dass die Einheit zwischen dem Individuum und dem Universalen nicht im Abstrakten liegt, sondern in der biologischen Einheit (einer relationalen gegenseitigen Abhängigkeit) der Spezies. Für Wiredu liegen beide, die kognitive und die moralische Fähigkeit des Menschen, rein im spezifischen organischen Typ ihrer Existenz begründet. Beides, die Tätigkeiten des Gehirns und die Entwicklung moralischer Prinzipien zum Selbstschutz mittels der Beherrschung des Verhaltens, sind Teil des physiologischen Mechanismus des Menschen. Ihre Entstehung und Entwicklung sind bedingt durch die soziale Natur des menschlichen Lebens. Wenn eine Person von Geburt an von der Gesellschaft isoliert werden würde, blieben ihre kennzeichnenden menschlichen Fähigkeiten unbekannt, und es würde keinen Sinn machen anzunehmen, dass sie ein Bewusstsein oder eine Moral hätte. Mit anderen Worten, sie wäre keine Person. | |||
Die Debatte über den Begriff der Persönlichkeit |
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»[D]as dualistische Konzept von Körper und Geist, das den Afrikanern oft zugeschrieben wird, setzt eine Art von Begrifflichkeit voraus, die schlecht mit traditionellen afrikanischen Denkgewohnheiten zusammen passt, die meist empirisch sind, im Unterschied zu empiristisch.« Kwasi Wiredu (1998, 139) |
38 | Wiredus Arbeit wirft zwei grundlegende Probleme auf. Das eine ist seine materialistisch-monistische Auffassung von der menschlichen Natur. Diese steht in scharfem Kontrast zum weithin angenommenen pluralistischen Persönlichkeitsbegriff in Afrika. Das ist sicherlich eine große theoretische Herausforderung für einige afrikanische Philosophen, die dazu neigen anzunehmen, dass zahlreiche Ausdrücke der Natur des Selbst in afrikanischen Sprachen und Religionen eher dahin tendieren, menschliche Fähigkeiten oder das menschliche Handeln regulierende Talente, sowohl kognitive als auch moralische, nicht einfach auf die Ausweitung der Funktionen des Körpers zu reduzieren. | ||
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Die zweite Frage ist, ob die verschiedenen Varianten von Glauben und Handlungsweisen, die die menschlichen Kulturen konstituieren, wirklich nur äußere Erscheinungen der zu Grunde liegenden Einheit der Spezies sind (vgl. 1996, Kap. 3 u. 4). Wiredus Ansicht nach »setzt das dualistische Konzept von Körper und Geist, das den Afrikanern oft zugeschrieben wird, eine Art von Begrifflichkeit voraus, die schlecht mit traditionellen afrikanischen Denkgewohnheiten zusammen passt, die meist empirisch sind, im Unterschied zu empiristisch«. Und, wie er selbst sagt: »… diese und andere Probleme in der Interpretation und Bewertung des Akan-Begriffs der Person bleiben Gegenstand der Kontroverse zwischen den Akan-Philosophen.«(1998, 139). |
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So eröffnet z.B. die Arbeit von Anthony Ephirim-Donkor (1997), eine ebenfalls jüngere Arbeit über den Akan-Begriff der Person, eine wesentlich komplexere Perspektive. Laut seiner Analyse können die Bestandteile der Persönlichkeit im Denksystem der Akan in zwei verschiedene Kategorien eingeteilt werden: Fähigkeiten, die durch die genetischen Prozesse der Biologie übermittelt wurden, und Fähigkeiten, die auf die göttliche (geistige) Natur des Menschen verweisen. Ziel eines tugendhaften weltlichen Lebens ist es, erklärt Ephirim-Donkor, Zugang zur »unsterblichen Gemeinschaft der Ahnen zu erlangen, die Nananom Nsamanfo genannt wird. Dieses Modell gründet auf einer Theorie der Person, die ihre ontologische Basis in Gott hat (Nana Nyame), und in der archetypischen Frau und ihren Kindern, die ideale abusua oder Mutterlinie«(1997, 4). |
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Wiredus Ansicht nach sind die afrikanischen dualistischen Beschreibungen der Natur der Person durch die Lehren des christlichen Dualismus beeinflusst, der von vielen afrikanischen Gelehrten der Jahrhundertwende allzu unkritisch und begierig aufgenommen wurde. Ephirim-Donkor ist ein gutes Beispiel für Wiredus Kritik. Er schreibt von einem evangelischen Hintergrund aus und mit dem Ziel zu zeigen, wie der Akan-Begriff der Person im Verhältnis steht zu einem idealen Leben, welches »auf einem gottgegebenen existentiellen Plan mit dem Namen nkrabea [Schicksal] gründet«(4). Er behauptet, dass der Glaube der Akan in das größere christliche Schema der religiösen Weltsicht passe. Aus diesem Grund beschränkt sich Ephirim-Donkor sorgfältig auf diejenigen Referenzen, die seine dualistische Annahme unterstützen, und vermeidet vollständig jene Texte, eingeschlossen diejenigen bereits genannter Akan-Gelehrter, die andere Schlussfolgerungen ziehen. |
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Kwasi Wiredu: Cultural Universals and Particulars: An African Perspective. Bloomington: Indiana University Press, 1996. ![]() Indiana University Press: ![]() Online-Bestellung: ![]() |
42 | Kommen wir zurück zu Wiredus Cultural Universals and Particulars und besonders zu seiner monistischen Auffassung von der biologischen Einheit aller Menschen als Grundlage kultureller Universalien. Bei der Formulierung von Bedeutungen folgen die Menschen »begrifflichen Schemata« und benutzen diese. Das heißt, die Erfahrung selbst mündet in die Formulierung von Bedeutungen und anderen begrifflichen Repräsentationen der gelebten Welt, die wiederum zum Objekt der Kommunikation wird. Die Frage, zu der diese Position führt, ist, ob es irgendwelche Probleme gibt, die sich kulturellen Beschränkungen widersetzen. Laut Wiredu können Menschen über alle Kulturen hinweg über alles kommunizieren, vorausgesetzt, Kommunikation ist die Übermittlung von Bedeutungen, die allgemein sind. Und da das Bewusstsein eine Funktion spezieller Reize des Gehirns ist, die durch die Kommunikation und in deren Verlauf erzeugt werden, ist das Bewusstsein selbst ein unbegrenzter Zustand durch den die Menschen kommunikativ miteinander verbunden werden. Daraus folgt, dass unsere biologische Beschaffenheit die Grundlage inter-personaler Beziehungen innerhalb und durch alle Kulturen hindurch ist. Das Bewusstsein, das ein universaler Zustand der menschlichen Funktionen ist, arbeitet auf der Grundlage spezifischer Prinzipien bzw. dessen, was wir allgemein die Gesetze der Logik nennen: reflexive Wahrnehmung, Abstraktion, Deduktion, Induktion und dem Gesetz des ausgeschlossenen Widerspruchs und den aus ihnen folgenden Ableitungen (1996, 22). Die kognitiven Funktionen aller Menschen folgen diesen Gesetzen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem spezifischen kulturellen Milieu. Sie sind genauso universal wie alle anderen Begabungen, die instinktive (emotionale), körperliche und andere Prozesse im Menschen antreiben und leiten. Sie sind die grundlegenden Prinzipien, die die Formierung des Denkens aller erst möglich machen, in dem sie den so gebildeten Begriffen Form und Struktur geben. Sie sind für das Bewusstsein und seine kognitiven Funktionen das, was die Gravitationskraft für alle Körper ist, die in der Luft schweben. | ||
43 | Die Frage nach der Natur des Bewusstseins und seiner Rolle für die Persönlichkeitskonstitution ist eine der besten Untersuchungen in Wiredus Buch, aber sie wirft auch weitere grundlegende Fragen auf. Da bleibt z.B. das Problem der interkulturellen Kommunikation, auch wenn Wiredu schnell als ohnehin außer Frage stehend darüber hinweg geht. Was im Bewusstsein während der Kommunikation geschieht, ist nicht so offensichtlich und kann nicht mit der einfachen Annahme gelöst werden, dass es ein gemeinsames Verstehen geben muss, wie minimal auch immer, damit Kommunikation erfolgen und fortdauern kann. Verstehen basiert eher auf dem, was in Menschen geschieht als zwischen ihnen, was uns zurück zu unserer Posho-Mühlen-Analogie bringt. Nehmen wir das Beispiel einer Diskussion zwischen zwei oder mehr Menschen. Oft bedeutet das Bejahen von Ausdrucksweisen oder Erklärungen anderer Menschen hier etwas anderes als die Zustimmung zu ihren »Bedeutungen«. Vielleicht wirft hier Russells Idee, dass wir ein anderes Bewusstsein nur in Analogie zu unserem eigenen kennen, ein besseres Licht auf Wiredus Theorie. Sagen wir z.B. »Tisch«, haben wir normalerweise nur ein allgemeines Verständnis von diesem Wort im Sinn, und meinen ein allgemeines Feld möglicher Referenten, zu denen das Wort in Bezug stehen mag, aber kein spezifisches Objekt. Innerhalb dieses Feldes werden die mentalen Bilder, welche das Wort im Bewusstsein verschiedener Menschen, die es verwenden, hervorruft, niemals dieselben oder ähnlich sein, denn sie werden durch die Erinnerung an spezifische Referenten, spezifisch für jeden Teilnehmer der Diskussion, geschaffen. In Wiredus Auffassung nutzt Kommunikation nur »Felder möglicher Referenten«, aber keine wirklichen Referenten. | |||
»Es gibt im Akan kein Äquivalent zum existentiellen ›to be‹ oder ›is‹ im Englischen, und es gibt deshalb in diesem Medium keine Möglichkeit zu behaupten, man spräche über die Existenz von etwas, das nicht im Raum ist.« Kwasi Wiredu (1996, 49) |
44 | Der eigentliche Sinn seiner Theorie der Persönlichkeit im Allgemeinen und des Bewusstseins im Besonderen liegt in der Kritik des kulturellen Partikularismus. Dieser drohte während seiner jüngsten Auferstehung in der Philosophie zeitweise, die Möglichkeit eines intellektuellen oder sogar alltäglichen Dialoges und von Debatten über kulturelle Grenzen hinweg gänzlich auszuschließen. Obwohl es wahr ist, dass Kulturen sich, manchmal sogar sehr, in ihrer Wahrnehmung und in den Handlungsweisen unterscheiden, verhindern solche Differenzen jegliche Kommunikation als gesundes Mittel zur Entdeckung und Aufrechterhaltung der Weltgemeinschaft nicht. Außerdem erweitert die interkulturelle Kommunikation den analytischen Horizont in der Praxis der Philosophie – ein enormer Gewinn für die Disziplin. Wiredus eigener Text ist ein ausgezeichneter Beweis für den Wert interkultureller Kommunikation und der Analyse, der Entgegensetzung und des Vergleichs von Begriffen durch die Kulturen. | ||
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Die relationale Untermauerung in Wiredus Philosophie wird evident in seiner Behandlung anderer Begriffe, wie dem Seins- oder dem Wahrheitsbegriff. In Bezug auf den ersten verteidigt Wiredu die Ansicht, dass »es im Akan kein Äquivalent zum existentiellen ›to be‹ oder ›is‹ im Englischen gibt und es deshalb in diesem Medium keine Möglichkeit gibt zu behaupten, man spräche über die Existenz von etwas, das nicht im Raum ist«. Dem ist so, da »in der Sprache des Akan ›existieren‹ wo ho heißt, was in freier Übersetzung bedeutet ›an einem Platz sein‹«(49). In der Sprache der Akan ist Existenz also immer örtlich bestimmt. Existenz ist ein Attribut der Dinge in ihrer Beziehung zu anderen Dingen oder zum Ort. Der Begriff eines absolut autonomen Selbst, wie er von Descartes und Kant in ihren jeweiligen Philosophien angenommen und vorausgesetzt wird, ist im Akan also kaum verständlich. Im Akan den Begriff einer abstrakten Existenz oder der Erschaffung ex nihilo auszudrücken, wäre also umständlich und bedarf weiterer Erklärungen auf der Basis metaphysischer Begriffe aus der westlichen philosophischen und religiösen Tradition sowie der epistemologischen Theorien und Konzepte, die aus ihnen hervorgingen. Eine interessante Untersuchung in diese Richtung nimmt Wiredu am Begriff der Wahrheit vor. 3 |
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46 | Besonders die Korrespondenztheorie der Wahrheit nimmt eine privilegierte Stellung des Individuums an. Sie betrachtet die Übereinstimmung einer Behauptung mit der Realität als ausreichende Bedingung für Wahrheit. Das ist eine objektivistische Auffassung von Wahrheit, da sie impliziert, dass es unabhängige und zeitlose Zustände gibt, die von allen, die es nur wollen, erkannt werden können. Um dieser Definition der Wahrheit zu genügen, müsste der kognitiv Handelnde unheimlich abstrakt denken können. | |||
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In der realen Welt jedoch ist, was auch immer Wahrheit genannt wird, stets die Wahrheit von jemandem. Damit eine Aussage als »wahr« qualifiziert werden kann, muss sie von einem menschlichen Wesen irgendwo und irgendwann entdeckt, gewusst oder verteidigt werden. Wiredu lehnt also die objektivistische Wahrheitstheorie ab und ersetzt sie durch seine Theorie von der Wahrheit als Meinung. Wahrheit ist eine Funktion des menschlichen Strebens, sowohl in seiner individuellen als auch in seiner gesellschaftlichen Dimension. Wiredu versucht, die individuelle und private von der gesellschaftlichen und öffentlichen Dimension der Wahrheit zu unterscheiden. Auf dem individuellen, privaten oder rein kognitiven Niveau nehmen wir die Realität in Übereinstimmung mit den universalen anreizenden oder physikalischen Gesetzen unserer biologischen Beschaffenheit wahr. So ist die Wahrnehmung, als rein kognitiver Prozess, eine private und individuelle Angelegenheit, aber doch wesentlich entscheidend für den Begriff der Wahrheit. Ebenfalls wesentlich für die Kognition, als einer rein biologischen, spezifisch menschlichen Eigenschaft, sind die formalen Gesetze, mit denen wir Überzeugungen schaffen. »Zumindest impliziert dieser Status [als homo sapiens], dass wir Organismen sind, die über den Instinkt im Bestreben nach Gleichgewicht und Selbsterhaltung hinausgehen, und zwar auf spezifischen Wegen: nämlich durch reflexive Wahrnehmung, Abstraktion, Deduktion und Induktion …«(22) Diese Gesetze machen es uns möglich, die Beziehungen von Begriffen so zu formulieren und zu behandeln, wie es für unser Überleben nötig ist. Das Streben nach Wahrheit ist ein Teil dieser entscheidenden menschlichen Bemühung. Wir streben immer nach Wahrheit. Dieses Faktum beinhaltet allerdings auch, dass Wahrheit, als ein grundlegender Antrieb allen menschlichen kognitiven Handelns, ein rein privates Unternehmen ist. Aber der Sinn des Wahrnehmungsinhalts oder der Bedeutung, das Fundament dessen, was als Wissen zählt, ist keine gänzlich private Angelegenheit. So wie wir als bio-kognitiv Handelnde konstituiert sind, kann unser Wissen von der Welt nur von unserer Perspektive aus, von unserem Standpunkt aus, erlangt werden. |
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48 | In der Kommunikation übermitteln wir unsere Ansichten anderen. Wir werden ihnen wahrheitsgemäß übermitteln und beschreiben, wie wir die Welt wahrnehmen, es sei denn, wir wollen unehrlich zu uns selbst sein und auch zu denen, mit denen wir kommunizieren. Von etwas zu sagen, dass es ist, heißt also zu sagen, dass ich glaube, dass es ist bzw. so ist, wie ich es sage. Diese Position, obwohl viel diskutiert und nur allmählich von Wiredus Lesern akzeptiert, behält das Streben nach Objektivität bei, während zugleich betont wird, dass Objektivität unabhängig von Meinungen nur ein Ideal ist. Wissen ist dann laut Wiredu ein stetiges gesellschaftliches Streben, das die besten verfügbaren und am Besten angepassten Werkzeuge benötigt, sowohl intellektuell als auch instrumentell oder technologisch. | |||
Es wird deutlich, dass Wiredu den Relativismus in all seinen Varianten ablehnt, eingeschlossen die Ansicht, dass, was als »wahr« zählt, durch kulturelle Institutionen verschieden bestimmt wird. | 49 | Wiredus Position darf nicht vermischt werden mit den Behauptungen des sozialen Konstruktivismus. Letzterer kann wie folgt beschrieben werden: Es gibt kein solches Ding wie objektive Wahrheit. Was wir als »wahr« bezeichnen, ist einfach das, dem wir zustimmen. Sogenannte Wahrheiten oder Fakten sind nur ausverhandelte Überzeugungen, Produkte einer gesellschaftlichen Konstruktion, aber keine »objektiven« Merkmale der Welt. | ||
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Wiredus Position jedoch lehnt weder Objektivität ab, noch stellt sie Wahrheit in Abrede. Er behauptet nur, dass ein Anspruch auf Objektivität die kognitive Beschaffenheit des Menschen als erkennenden Handelnden und den Prozess der Wissensaneignung in Betracht ziehen muss. Objektivität, als ein Zustand der Welt, der unabhängig davon ist, wie er wahrgenommen oder gewusst wird, oder Wahrheit, als nicht-personale Aussage über den objektiven Zustand der Welt, sind nur als Ideale fassbar, nicht aber durch Menschen zu erreichen. Wiredu schreibt: »… jeder Anspruch, etwas so zu wissen, wie es selbst ist, wäre ein Widerspruch insofern als es auf den Anspruch hinaus laufen würde, etwas zu wissen, wie es nicht gewusst werden kann«(113). |
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51 | Es wird deutlich, dass Wiredu den Relativismus in all seinen Varianten ablehnt, eingeschlossen die Ansicht, dass, was als »wahr« zählt, durch kulturelle Institutionen verschieden bestimmt wird. Seiner Ansicht nach ist Wahrheit ein zentrales Bestreben vieler Kulturen, die afrikanischen eingeschlossen. Was seine Position in einer neuen Art und Weise einführt, ist die gesellschaftliche Dimension, die seiner Meinung nach die menschliche Natur so stark determiniert, dass alle menschlichen Bestrebungen, eingeschlossen die Phänomene der Erkenntnis, entscheidend in diese gesellschaftliche Abhängigkeit unseres Seins verwickelt sind. | |||
52 | Das Unternehmen des Wissens handelt vom Vergleichen, Gegenüberstellen, Wieder-Evaluieren und Testen von Ansichten, weshalb das Nachforschen, insbesondere das wissenschaftliche Nachforschen, seiner Meinung nach wichtig bleibt. Wissen benötigt sowohl die private kognitive als auch die öffentliche gesellschaftliche Dimension. Wahrheit ist nicht einfach eine Laune, ob nun subjektiv oder kollektiv. Sie ist vielmehr das grundlegende Ziel rationaler Forschung. Wenn wir Aussagen machen, glauben wir, dass sie wahr sind, es sei denn wir scherzen. Aber statt bei der Wahrheit zu verweilen, schlägt die Theorie der Wahrheit als Meinung vor, so wie im Denken der Akan, »Wahrheit« als entscheidende Tugend zu betrachten, auf deren Grundlage sich viele menschliche Bestrebungen, moralische, soziale und kognitive, konzentrieren. | |||
Afrikanisches Erbe in der Gegenwartsphilosophie |
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»Versuche, in deiner eigenen afrikanischen Sprache zu denken, und überprüfe auf der Grundlage der Ergebnisse die Verständlichkeit des damit verbundenen Problems bzw. die Plausibilität der Lösungen, die für dich offensichtlich waren, als du sie in einer Sprache der Metropolen durchdacht hast.« Kwasi Wiredu (1996, 137) |
53 | Der Kolonialismus hat zwei Dinge dazu beigetragen, auf welche Weise sich einige von uns das philosophische Unternehmen vorstellen: Erstens haben einige afrikanische Philosophen geglaubt, dass das Postkoloniale die totale und unkritische Entgegensetzung zwischen dem, was wir als indigen afrikanisch betrachtet haben, und dem, was als westlich identifiziert worden war, diktiert. Zweitens betrachteten einige das Koloniale als eine Art Requiem auf die indigenen Werte und das Postkoloniale als eine Form der afrikanischen Aufklärung, einen neuen Zustand, bewohnt nur von neuen Kategorien des Denkens. In Wirklichkeit sind beide Auswirkungen des Kolonialismus ähnlich darin, koloniale Kategorien zu reproduzieren und das kritische und unkritische Denken sowohl geographisch als auch rassisch aufzuteilen. Wir können Opfer des kolonialen Diskurses werden: Entweder durch das unkritische Tragen philosophischen Ballasts aus unseren eigenen vergangenen Traditionen oder durch die unkritische Akzeptanz der kolonialen Überlagerungen fremder begrifflicher Kategorien und Werte. | ||
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Was ist Wiredus Gegenvorschlag? »… die Ressourcen unserer eigenen indigenen Begriffsschemata, soweit es sinnvoll ist, in unseren philosophischen Meditationen [auszuschöpfen] und selbst auf die speziellsten Probleme der Gegenwartsphilosophie anzuwenden«(136). Afrikanische Philosophen sollten, statt unkritisch Begriffe zu übernehmen, die sie durch das Medium der Sprachen der Metropolen ererbt und als die leitenden Begriffe kennen gelernt haben, mittels derer unsere indigenen Erfahrungen zu übersetzen und zu beschreiben sind, sich auf das Folgende einlassen: »Versuche, in deiner eigenen afrikanischen Sprache zu denken, und überprüfe auf der Grundlage der Ergebnisse die Verständlichkeit des damit verbundenen Problems bzw. die Plausibilität der Lösungen, die für dich offensichtlich waren, als du sie in einer Sprache der Metropolen durchdacht hast.«(137) 4 Das ist auf jeden Fall das, was Wiredu selbst so hervorragend in den Essays seines Buches getan hat. In Abwandlung der allgemeinen Aufforderung postkolonialer Gelehrter, besonders in der afrikanischen Literatur, fordert Wiredu die »Notwendigkeit einer begrifflichen Dekolonisation in der afrikanischen Philosophie«. |
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Afrikanische Philosophie und die Welt |
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![]() Okot p'Bitek (1931–1982) ![]() |
55 | Mit der Arbeit am Begriff der Universalität betont Wiredus Philosophie den globalen Nutzen und die globale Anwendbarkeit afrikanischer Tugenden. Besonders seine philosophische Position, dass kein Individuum selbstgenügsam ist oder sich selbst in Isolation von anderen vollenden kann, unterstützt demokratische Prinzipien und die friedliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern einzelner Gesellschaften und zwischen den Nationen der Welt in ihrer Suche nach dem, was der Menschheit dient. Dem Relativismus wird nicht nur widersprochen, weil er rational unhaltbar ist, sondern auch auf einem gesellschaftlich-globalen Niveau, weil er ein Hindernis für gegenseitiges Verstehen zwischen den Kulturen und Nationen der Welt ist. Zu diesem Zweck setzt Wiredu Begriffe aus westlichen und afrikanischen Traditionen des Denkens in Kontrast zueinander und argumentiert gegen jeglichen Relativismus, sei es der Kulturrelativismus oder der philosophische Relativismus. Obwohl bestimmte Begriffe nur in einer begrenzten Anzahl von kulturellen Systemen entstehen können, ist eine solche zufällige Begrenzung kein gültiger Grund für die Behauptung irgendeiner Form von Relativismus. Wiredu warnt vor dem Trugschluss, wie er bei einigen afrikanischen Philosophen unserer Tage und afrikanischen Staatsmännern üblich ist, dass ein philosophisches Thema oder eine Position dann keinen Platz in der gegenwärtigen afrikanischen Philosophie habe, wenn es keine Verbindung zu afrikanischem traditionellen Denken hat. In Cultural Universals and Particulars (Kap. 7) setzt sich Wiredu mit Okot p'Bitek und seiner Behauptung auseinander, dass die metaphysische Idee der Schöpfung eine westlich-christliche Idee sei, die dem begrifflichen Schema der Acholi völlig fremd (und unbegreiflich?) ist. P'Biteks Argument ist, dass die Niloten (zu denen die Acholi gehören), genauso wie die Juden, nicht metaphysisch denken. Aber laut Wiredu hindert die Acholi und jedes andere Volk, das den christlichen Glauben nicht teilt, nichts daran, solche Begriffe wie Schöpfung oder Logos in ihre Theorien vom Ursprung der Welt aufzunehmen. In seiner Antwort auf p'Bitek betont er noch einmal die zentrale Rolle der Kommunikation. Evangelisierung und Kolonisierung sind zwei Formen eines historischen Prozesses, durch den ein interkultureller Transfer von Bedeutungen möglich gemacht wurde. 5 Und man darf nicht vergessen, dass das auf beiden Wegen passiert ist. Wenn dem so ist, kann jeder der Prozesse eine nützliche Quelle für die Assimilation neuer, guter und hoffentlich nützlicher Bedeutungen sein, um unsere eigenen neu zu beleben. | ||
56 | Wiredu argumentiert (91), dass indigene Ausdrücke, die in ihrem ursprünglichen Rahmen keine Bedeutungen hatten, neue Bedeutungen erhalten und neue Referenten gewinnen können. Oder sie können, als Resultat interkultureller Kommunikation mit und zwischen verschiedenen sprachlich-begrifflichen Traditionen, zusätzliche Bedeutungen erhalten zu denen, die sie bereits besitzen. Während z.B. Lubanga im Acholi »der bucklige Geist« bedeutet, ist absolut nichts Befremdliches daran, dass Lubanga bei den heutigen Acholi-Sprechern einfach »Gott« im christlichen Sinne bedeutet. Die Geschichte der Wandlung des Begriffs Lubanga im Acholi wird Teil der Kulturgeschichte der Acholi, so dass solche Wandlungen eines Tages ein interessantes Untersuchungsobjekt für Linguisten, Philologen, und warum nicht auch für Historiker und Philosophen sein werden. | |||
Indigenes Denken und analytische Vergleiche |
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57 | Wenn ein Satz den Kern der Arbeit von Barry Hallen und J. Olubi Sodipo beschreiben müsste, würde ich es mit folgendem Satz wagen: Die Komponenten analytischer Netze sind nicht auf das individualistische cartesianische Modell der epistemologischen Praxis limitiert; sie sind eher auch in die Art von Wissen eingebaut, das allgemeine kulturelle Normen und Werte durchdringt. Genauso wie Wiredu haben auch Hallen und Sodipo in ihrem Buch Knowledge, Belief, and Witchcraft elegant eine philosophische Analyse über Kulturen hinweg vergleichend vollzogen. Erstmals veröffentlicht 1986, stellt Hallen und Sodipos Buch ausgehend vom spezifisch afrikanischen Kontext einige bedeutende Fragen, die in letzter Zeit auch von einem der heute herausragendsten amerikanischen Philosophen gestellt wurden. | |||
58 | In seiner Methodologie baut das Werk auf einem Sockel auf, der nun im weiteren Sinne dem kenianischen Philosophen Odera Oruka zugeschrieben wird: Die philosophisch bedeutenden und sensiblen Konzepte, die in die Erklärung traditionellen Wissens von kulturellen Experten eingebettet sind. Hallen und Sodipo gingen weiter als Oruka, indem sie die ausgewählten kulturellen Experten, die onisegun der Yoruba, als gleichwertige Kollegen sahen, mit denen sie Diskussionen und Debatten über die philosophischen Implikationen einiger Konzepte führen konnten, die vorherrschend in ihren Lehren und ihrer Praxis als Heiler waren, besonders wenn sie mit ihren Gegenstücken in Englisch verglichen werden. Die Autoren präsentieren das Buch als eine getreue Transkription dieser Diskussionen. Der bedeutendste unter den Yoruba-Englisch-Vergleichen ist die Unterscheidung zwischen Wissen (mo) und Glauben (gbagbo). Der Analyse zufolge fordert das Yoruba Konzept von mo strengere Bedingungen, unter denen Glauben (gbagbo) sich als Wissen (mo) qualifizieren kann oder zu Wissen wird. Im Yoruba ist es nicht ausreichend, wohl aber in der angloamerikanischen Wiedergabe dieses epistemologischen Problems, dass jemand z.B. legitimer Weise glaubt, dass p ist, selbst wenn p wahr ist. | |||
Barry Hallen / J. Olubi Sodipo: Knowledge, Belief, and Witchcraft: Analytic Experiments in African Philosophy. Stanford: Stanford University Press, 1997. ![]() Stanford University Press: ![]() Online-Bestellung: ![]() Besprechung in polylog: ![]() |
59 | Im Gegensatz zu seinem Gegenstück in der englischsprachigen epistemologischen Theorie verlangen Behauptungen im Yoruba-System einen (verifizierbaren) Erfahrungsbeweis aus erster Hand und nicht bloß eine Rechtfertigung. Das Yoruba-System zeichnet eine viel kleinere Landkarte von Wissensbehauptungen. Während die angloamerikanische Epistemologie außerdem annimmt, dass Wissen immer eine Form von Glauben unter speziellen Bedingungen ist, beinhaltet im Yoruba-System mo nicht gbagbo. Die zwei Ausdrücke sind einfach verschieden, und jeder Versuch, sie in der Yoruba-Sprache zu verbinden, verursacht Widersprüche. Also sind die Yoruba-Einstellungen zu diesen Satzinhalten radikal unterschiedlich von ihren Gegenstücken in der angloamerikanischen Tradition. Man kann in Yoruba nicht sagen: »Ich glaube p und weiß auch p.« Entweder glaubt man (nur) oder man weiß etwas, aber man kann nicht glauben und wissen, dass p ist. Das alles ist eine sehr schöne Analyse und eine gute vergleichende Anwendung des quineschen Zweifels an der Möglichkeit von Übersetzungen zwischen oder sogar innerhalb von Sprachen. Innerhalb der afrikanischen Philosophie im Allgemeinen könnte solch eine schöne Arbeit ein materielles Problem für das Fortschreiten der Debatte über die Sprachgemeinschaften hinaus, auf die man sich bezieht, darstellen. Um die Debatte über die Behauptungen, die auf dieser Analyse basieren, aufrecht zu erhalten, müsste Sprachkompetenz eine Minimalvoraussetzung der Analyse sein. Ohne eine solche Kompetenz, die weit über die muttersprachlichen oder angelernten Sprecher unserer Sprachen hinausgeht, bleiben die Türen für ein fruchtbares philosophisches Unternehmen nur frustrierend schmal offen. Trotzdem müssen wir es versuchen, und diese Bemühung muss mit solch einer exzellenten Arbeit wie der von Hallen und Sodipo beginnen. | ||
60 | Da Wahrheit, die eine signifikante Komponente von Wissen darstellt, eine Eigenschaft von Aussagen ist, kann das Einbeziehen von Sekundärquellen nicht möglich sein. In anderen Worten, Wahrheit ist nicht kommunizierbar. Sie kann nur direkt erfahren werden. Kommunikation kann nur überbringen, was viele, die die Information erhalten, glauben, aber kein Wissen (zumindest wenn es eine Wahrheitsbedingung beinhaltet). So scheint es, dass dann für die Yoruba, wie für alle Leute, die die beschränkte menschliche Fähigkeit, alles aus erster Hand zu bezeugen, berücksichtigen, die große Mehrheit von Alltagsaussagen nicht auf Wissen (mo), sondern auf Glauben basiert (gbagbo). | |||
61 | Hallen und Sodipos Erläuterungen zufolge kann die Behauptung westlicher Kritiker zur epistemischen Welt der Afrikaner nicht ärger fehlgeleitet sein: die Behauptung, jene werde geleitet von Bräuchen als Kriterium für Wahrheit, so dass jede Behauptung von späteren Generationen »geglaubt oder aufrecht erhalten wird«, einzig deswegen, »weil es die Vorfahren so gesagt haben«,. Hallen und Sodipo zufolge ignoriert solch eine Beschuldigung die massiven Unterschiede zwischen englischsprachigen analytischen und Yoruba-Definitionen von Wissen. Sie nimmt fälschlicherweise an, dass die Yoruba Glauben und Wissen vermischen (vorausgesetzt, Ersteres ist von einer Rechtfertigung begleitet, sich als Letzteres zu qualifizieren), wie es in dem Fall der englischsprachigen analytischen Definition ist. Daher meinen die Kritiker, dass alles für »Wissen« gehalten wird, was der Tradition zugeschrieben wird. | |||
62 | Aber zumindest für die Yoruba könnten sie falsch liegen, denn die orale Tradition gehört zum Genre von Behauptungen, die eher von anderen gehört als direkt bezeugt werden. Deshalb wird sie nur geglaubt, im Yoruba-Sinn des Begriffs »Glauben«. Als ein Korpus von Behauptungen, den man empfängt, kann (von der Tradition) kaum behauptet werden, dass man »Wissen« darüber hat, denn die Behauptungen könnten falsch sein. | |||
Philosophie und die Idee der Nation |
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Im Gegensatz zu Ansichten einiger Denker des 18. Jahrhunderts, wie dem deutschen Romantiker Johann Gottfried Herder, argumentiert der ghanesische Philosoph Kwame Gyekye, dass Nationen wie die meisten Gemeinschaften sind: Sie sind vorgestellte soziale Konstrukte, deren Realität »vom Ethos des Zusammenhangs, der Solidarität, des Zusammengehörigkeitsgefühls und der gegenseitigen Anerkennung, der Sympathie und des Verstehens«(1997, 79) geprägt wird. Diese Auffassung von Nation als konstruierter Vorstellung statt natürlicher Entität muss keine territoriale Determination beinhalten und überschreitet sie sogar. Denn sie kann gelebt werden mit der Vorstellung und Annahme von einer Einwilligung in kulturelle Spezifika, die für charakteristisch gehalten werden. Nationen in diesem Sinn sind eher »Ethnogemeinschaften«, wie Gyekye sie bevorzugt bezeichnet. Er nennt es die »erste Bedeutung von Nation« und drängt darauf, diese nicht, wie öfter geschehen, mit einer anderen Bedeutung von Nation zu vermischen, die als größere Einheit entwickelt und jede bestimmte Anzahl Nationen des ersten Sinns unter einer anderen Gruppe geteilter Interessen zusammen bringen kann. Gyekye nennt letztere den »multinationalen Staat« und behauptet, dass er gleichzeitig mit dem früheren aufrechterhalten werden kann. Ihre Koexistenz hängt jedoch von einer angemessenen Loyalität ab, die vor allem die Ethno-Nation nicht auf Kosten des multinationalen Staates überbetont. Über die Zeit hinweg reift eine solche Loyalität zu einem Niveau, auf dem verschiedene Ethno-Nationen Zusammenhalt und Einheit erreichen, während sie den verschiedenen konstituierenden Einheiten erlauben zu koexistieren. Dieses Niveau führt zur Geburt einer Nationalität als Produkt moralischer und politischer Evolution. |
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Kwame Gyekye: Tradition and Modernity: Philosophical Reflections on the African Experience. New York – Oxford: Oxford University Press, 1997. ![]() Oxford University Press: ![]() Online-Bestellung: ![]() Besprechung in polylog: ![]() |
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Gyekyes Diskussion des afrikanischen Ringens um Nationenbau und die Lösungen, die er vorschlägt, sind vertraute Töne. Sein Punkt, und auch das ist keine Neuigkeit, ist, dass die Realität der afrikanischen Multiethnizität kein Hindernis ist für die Geburt einer Nation nach westlichem Modell oder für Demokratie als Modell eines politischen Systems, das auf offener Partizipation der Bürger baut – egal ob es, wie im Westen, repräsentativ ist oder parteilos wie in Wiredus ideal(istisch)er Form. Während des Beginns der jüngsten und noch anhaltenden Versuche der Re-Demokratisierung des öffentlichen Raumes in Afrika, wurden einige der politischen Führer leider dafür bekannt, wie altmodische und jüngere Kolonialisten dahingehend zu argumentieren, dass die Fortdauer der Ethnizität in Afrikas sozialer Landschaft Demokratie nicht begünstigt. Auch wenn territoriale Grenzen von Nationen der ersten Bedeutung weniger sichtbar werden, wenn die Meta-Nationalität (die gegenwärtigen politischen Nationalstaaten) wächst, bleiben sie laut Gyekye die konstituierenden Elemente von Afrikas einzigartigen pluralistischen soziokulturellen Formationen. In diesem Sinne würde die Meta-Nation auf einer anderen Bedeutung von Kultur, der Nationalkultur, basieren, die ähnlich definiert ist wie das, was Frantz Fanon in seinem klassischen Werk Die Verdammten dieser Erde vorschlägt. Das ist nicht schädlich für die ethnischen Kulturen, die sie konstituieren und von unten her stützen. Darüber hinaus beobachtet Gyekye, dass die Kenntnis afrikanischer traditioneller politischer Prinzipien deutlich macht, dass zumindest die traditionellsten Regierungen stark demokratisch waren, da »in traditioneller afrikanischer Politik das Volk – das gewöhnliche Volk – und nicht die Anführer oder Könige die Basis jeder richtig konstituierten Autorität sind«(117-118). |
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65 | Das Versagen, Wege einzuschlagen, die angemessen für eine werdende Demokratie sind, ist laut Gyekye den eigenen afrikanischen Führern zuzuschreiben. Wie Wiredu argumentiert er, dass Demokratie, die auf einem breiteren Konsens basiert als eine reine Mehrheitswahl, ein besserer Weg für Afrika ist. Auch er wendet sich gegen das repräsentative (parlamentarische) System als ausreichender Form von Demokratie, wobei diese als Regierung »durch das Volk« und »des Volkes« verstanden wird. Beide Aspekte von Demokratie entsprechen mehr dem moderaten Kommunitarismus der afrikanischen indigenen Gesellschaften als der westlichen repräsentativen Demokratie. | |||
66 | Verwandt mit der Diskussion um die bestmöglichen Formen von Regierung im heutigen Afrika sind das bekannte Konzept und die soziopolitische Bewegung, die allgemein als afrikanischer Sozialismus bekannt wurde. Obwohl eigentlich ein erschöpftes Gebiet unter afrikanischen Sozialtheoretikern, bringt Gyekye die Debatte über afrikanischen Sozialismus mit einer erfrischenden philosophischen Widerlegung alter Sichtweisen des Subjekts zurück ins Leben. Er beginnt mit der Widerlegung der kommunistischen Kritik an der grundlegenden Idee eines afrikanischen Sozialismus. Gegen die Vertreter der Idee, dass Sozialismus eine wissenschaftliche – und deshalb universale – Sicht der ökonomischen Antriebskräfte soziopolitscher Evolution ist, argumentiert Gyekye, dass die Analogie von Sozialismus und z.B. Biologie nicht nur falsch ist, sondern auch eine falsche Vorstellung von dem darstellt, wie Marx selbst den »Realismus« seiner materialistischen Idee der Geschichte verstand. Er fügt hinzu, dass auch jene Afrikaner falsch lagen, die eine Gleichsetzung zwischen afrikanischem Kommunitarismus (oder Kommunalismus) und Sozialismus herstellten, denn im Gegensatz zu ihren Behauptungen, wurden einige der Schlüsselfaktoren des letzteren in indigenen afrikanischen Gesellschaften weder geglaubt noch praktiziert. Es gibt Unterschiede, behauptet er, zwischen traditionellem Kommunitarismus und dem Sozialismus marxistischer Überzeugung. Ersterer war eine sozialethische Lehre und keine ökonomische – wie afrikanische Politiker fälschlicherweise interpretierten und umzusetzen versuchten. Afrikanische Gesellschaften haben den Besitz von Privateigentum immer ermutigt und unterstützt, manchmal sogar in Form von Land, derjenigen Ware, die so oft als im Zentrum der sozialistischen Praxis in traditionellen Gesellschaften stehend erachtet wurde. | |||
67 | Das experimentelle Verfolgen des marxistischen Sozialismus durch afrikanische Intellektuelle und Politiker hat deshalb einige wichtige Werte vergessen, für die indigene Gesellschaften standen und die mit ihrem Verständnis von Menschsein übereinstimmten, faires Streben nach persönlichen Leistungen durch harte Arbeit eingeschlossen. Als Ergebnis ist das Experiment gestrandet und kam zu einem traurigen Stillstand, wobei es die afrikanischen Gesellschaften in den Nationen, die es sich zu eigen gemacht hatten, ausnahmslos noch verarmter hinterließ als am Beginn dieser ideologischen Bewegung. | |||
Moderne und Tradition: Wie nützlich sind diese Begriffe? |
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68 | Afrikas jüngste Diskurse, besonders jene, die sich in der Periode, die zur Unabhängigkeit vom Kolonialismus geführt hat, und in der Zeit danach entwickelt haben, waren vor allem erfüllt von der Sorge um den Gegensatz zwischen allem Europäischem auf der einen Seite und deren afrikanischen Alternativen auf der anderen. Es scheint, als hätten die Wissenschaftler sowohl Zeit als auch Einbildungskraft und die performative Praxis der Afrikaner im Pausenmodus angehalten, bis die Veränderungen durchgeführt und vollendet waren. Als Bestandteil des postkolonialen Wortschatzes ist die Unterscheidung zwischen dem, was als »modern« oder »traditionell« zählt, Teil der theoretischen und kritischen Strategien, deren Ziel u.a. die Untersuchung der Kulturen der früheren Kolonien des europäischen Imperiums ist. | |||
Afrikanische Philosophen stimmen heute überein, dass das Ziel der Veränderungen im Rahmen der europäischen Kolonisation das Aufpfropfen westlicher Begriffe, Werte und Gewohnheiten war, und zwar auf eine Art, die die afrikanische kulturelle Kontinuität und Regeneration zum Stillstand brachte. | 69 | Die afrikanischen Philosophen waren nicht weniger mit dem Dekolonisierungsdiskurs beschäftigt als z.B. Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, Historiker und Politiker. Der Beitrag der philosophischen Literatur besteht darin, bzw. wir haben versucht zu zeigen, dass er darin besteht, dass sie dem Rest der Welt neue Begriffe für die philosophische Analyse vorschlägt. Afrikanische Philosophie überwindet die entgegensetzende Position, die charakteristisch für einen großen Teil der postkolonialen Gelehrten ist, indem sie Alternativen für eine neue Überprüfung der schon bekannten oder neuer philosophischer Themen in den erkenntnistheoretischen, moralischen und soziopolitischen Bereichen vorschlägt. Mit anderen Worten, es ist jetzt an Europa, eine Offenheit des Geistes, wie sie die Philosophie erfordert, zum Zwecke einer Selbstüberprüfung und Selbstkritik mit den Mitteln nicht-westlicher Begriffe des Denkens zu zeigen. | ||
70 | Diese Strategie weicht die als wesenhaft verstandene Entgegensetzung von Moderne und Tradition im afrikanischen Diskurs auf, indem sie beide Begriffe als dialektisch miteinander verbundene begreift, die jeden historischen Moment jeder lebenden Kultur bestimmen. Und sie öffnet die Tür für einen globalen vergleichenden philosophischen Dialog. Ihrer Auffassung nach wurde die Moderne in die Geschichte jeder Gesellschaft durch einen beständigen Prozess des Einführens, Überarbeitens und Anpassens des Bekannten und des Neuen eingeleitet. Die Unterscheidung von Tradition und Moderne als getrennte Begriffe erfolgt dann nicht mehr durch das Ziehen ausschließender Grenzen und Verschärfen des Wettstreits zwischen dem, was afrikanisch ist auf der einen Seite und dem, was typisch europäisch ist auf der anderen Seite. Es nimmt eher die Form einer bewussten Organisation und Verwaltung der Veränderungen an. | |||
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Afrikanische Philosophen stimmen heute überein, dass das Ziel der Veränderungen im Rahmen der europäischen Kolonisation das Aufpfropfen westlicher Begriffe, Werte und Gewohnheiten war, und zwar auf eine Art, die die afrikanische kulturelle Kontinuität und Regeneration zum Stillstand brachte. Eine begriffliche Dekolonisation sollte deshalb das Folgende verbinden: »ein Rückgängigmachen der unkritischen Assimilation begrifflicher Rahmen fremder philosophischer Traditionen in unser Denken (das heißt, in das Denkens der gegenwärtigen afrikanischen Philosophen) mittels kritischer begrifflicher Selbstwahrnehmung«mit »einem Ausschöpfen der Ressourcen unserer eigenen indigenen Begriffsschemata, soweit es sinnvoll ist, in unseren philosophischen Meditationen und die Anwendung auf selbst die speziellsten Probleme der Gegenwartsphilosophie«(Wiredu 1996, 136). |
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Die Moderne muss Afrikas eigene Schöpfung sein. Das bedeutet, wie Valentin Y. Mudimbe in seiner jüngsten Arbeit schreibt, dass jede Moderne von einem existentiellen Standpunkt aus eine Art »kulturelle ›Hybridisierung‹ ist, die die gegenwärtige Dynamik des Dialogs zwischen Menschen und Geschichten bezeugt«(1997, XII). |
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73 | Wiredu teilt mit Hountondji und Mudimbe die Ansicht, dass eine afrikanische Moderne ein Projekt oder System (des Denkens und Handelns) sein muss, das nach innen schaut und nach den besten lokalen Ressourcen sucht. Diese werden entsprechend den Anforderungen der neuen Zeiten angepasst und kritisch auf Elemente von außerhalb angewandt, von diesem oder einem anderen Kontinent, einer anderen Region, einem anderen Land oder einer anderen Gemeinschaft. Hountondjis These ist, dass man Wissenschaft in ihrer Struktur und Geschichte nicht denken kann, ohne die Strukturen und Geschichten der Gesellschaften zu berücksichtigen, in denen sie entstehen und Form annehmen. | |||
Valentin Y. Mudimbe: Tales of Faith: Religion as Political Performance in Central Africa. London: Athlone Press, 1997. ![]() Athlone Press: ![]() Online-Bestellung: ![]() |
74 | Mudimbe geht davon aus, dass Afrikas Moderne schon da ist, und zwar als Ergebnis der stürmischen historischen Ereignisse mehrerer Jahrhunderte, die sich in den historischen Transformationen der afrikanischen Gesellschaften widerspiegeln. Wie in seinen früheren sehr einflussreichen Werken (1988), macht Mudimbe sich erneut auf die Reise in die Entstehungsgeschichte der Moderne Afrikas. Diesmal widmet er sich einem der Stränge des Kolonialismus, der bereits in The Invention of Africa identifiziert wurden: der christlichen Missionierung als Vermittlungsstelle für das Projekt der Modernisierung durch Bekehrung. In Tales of Faith argumentiert Mudimbe erneut, dass Fachdisziplinen nicht immun gegenüber Ideologien sind, unter deren Fittichen ihre Gegenstände bestimmt werden und ihre Ziele die spezifische historische Bedeutung erlangen. Unter dem mächtigen Einfluss der Gegenstände der westlichen Disziplinen und der westlichen Ideologie wurde die afrikanische Moderne zu einem Ereignis und nahm ihr Charakter Form an: hybridisiert und mestiziert als beides zugleich, Zustand und Prozess. | ||
75 | Auch Philosophie und Wissenschaft können nicht neutral gegenüber den Ideologien der Menschen und Gesellschaften bleiben, die sie entwickeln. Alles Wissen ist entweder gut oder schlecht, abhängig davon, wie es den vielgestaltigen Interessen derjenigen dient, die es entwickeln. 6 Wissen hilft uns, das zu wollen und auszudrücken, von dem wir glauben, dass es gut für uns ist. Es ist die Grundlage unseres Verhältnisses zu uns selbst und zum Anderen, ob das nun die Welt ist oder andere Menschen. Wissen ist deshalb untrennbar von der Idee der Macht. Die Geschichte der Ideen ist zum Teil die Geschichte dessen, wie Menschen, Individuen oder Gruppen, auf die Ausformung der Macht, an die sie glauben oder dazu gebracht wurden zu glauben, reagieren oder daran teilnehmen. Aus diesem Grund muss die Geschichte des Wissens und seines Verhältnisses zu den Institutionen der Macht, in seinem Fortschreiten und seinem Widerstand, bis zu biographischen Geschichten mit all ihren Erfolgen und Fehlern, Tragödien und Feiern verfolgt werden. Um den Ereignissen in der menschlichen und gesellschaftlichen Geschichte Sinn zu geben, muss man einen Blick auf die epistemologischen Mutationen werfen, die sie geformt haben, und auf die Politik, die den Kontext geliefert hat. Und umgekehrt. | |||
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Die Geschichte der Definitionen und der Anwendung des Begriffs »Primitivismus« zeigt klar, wie dieser manipuliert wurde, um den besonderen Zielen der Studien von Gemeinsamkeiten und Unterschieden menschlicher Gesellschaften zu genügen. Obwohl die Anthropologen eine Ambiguität des Begriffs zulassen, behaupten sie weiterhin, dass der »Primitive« der Gegenstand ihrer Disziplin bleibe. Mudimbe bemerkt dazu kurz: »… eine ›wahre primitive Gesellschaft‹ kann nichts anderes sein, als eine erfundene, konstruierte, und reine Vollendung.«(1997, 21) Die politische und erzieherische Allianz zwischen Kolonialismus und Christentum und zwischen Kolonialismus und Anthropologie vervollständigt das Macht-Wissen-Verhältnis in der Praxis der Bekehrung und in der afrikanischen Anthropologie (vgl. 148–154). In dialektischer Negation der anthropologischen Schöpfung können wir die Entstehung des Afrozentrismus beobachten, einer Bewegung, welche in Mudimbes Worten »ihr Ziel aus einer Position erhält, die behauptet, afrikanischer Geschichte und ihrer Kultur eine genuine Wirklichkeit wiederzugeben«(30). Die Gegensatzbeziehung, die so hinsichtlich des »wirklichen afrikanischen Selbst« geschaffen wurde, wird von Mudimbe kritisiert, indem er beider Ziel, das der Anthropologie und das des Afrozentrismus, als Fehlinterpretationen der Nicht-Stabilität der Existenz und der Kulturen kontrastiert. Während das Selbst in dialektischer Weise existenziell begründet ist, wie es Sartre ausdrückt, sind Kulturen als die Modi dieser Begründung Projekte der Existenz. Mudimbe schreibt: »Die Bedingung, um selbst als Selbstbewusstsein sein zu können, ist, sich selbst als ein Selbst zu begreifen, dass nicht mit sich selbst zusammen fallen kann. Oder wie Sartre es ausgedrückt hätte: ›Eine Freiheit, die selbst nach Freiheit verlangt, ist ein Sein-das-nicht-ist-was-es-ist und das-ist-was-es-nicht-ist und das als Ideal des Seins gewählt hat zu-sein-was-es-nicht-ist und nicht-zu-sein-was-es-ist.‹«(30) |
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»Es ist jetzt möglich, von jeder Kultur, jedem Individuum und jeder Sprache zu sprechen und sie auf der Grundlage der Rationalität ihrer eigenen Normen, inneren Regeln und innerhalb der Logik ihres eigenen Systems zu analysieren und zu verstehen. In den Afrikastudien bedeutet dieser Wechsel den radikalen Übergang vom Entwurf der Differenzen einer ›erfundenen‹ Genesis zum Entwurf der kulturellen Individualität.« Valentin Y. Mudimbe (1997, 40) |
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Es gibt hier einen doppelten Sinn, auf den sich Mudimbe bezieht. Auf der einen Seite schaffen beide Projekte, das anthropologische und das afrozentrische, es in ihren jeweiligen Ansprüchen, die »wahre Identität« eines afrikanischen Selbst zu begründen, nicht, ihre eigenen Projekte als Praxis innerhalb des Wissen-Macht-Spiels wahrzunehmen. Mit anderen Worten, sie wollen etwas fixieren, was nicht fixiert werden kann. Auf der anderen Seite setzt die Gegensatzbeziehung ihrer Behauptungen und Ziele, trotz der zweifelhaften Annahmen und Behauptungen, denn sie sind fiktional, die dialektischen Bedingungen der Realpolitik als Bedingung und Praxis. In diesem Sinne könnte Afrozentrismus trotzdem eine politisch rationale Wahl sein. Mudimbe fasst das wie folgt zusammen: »Gottes Auferlegungen erzählen die Politik des Lesens der Schriften, die behaupten, diese zu erfüllen als Wissen, Meditation oder Vision. Diese Darstellungen reflektieren Gedächtnisse der Vergangenheit als von der Gegenwart erhalten: Dinge und Ereignisse finden statt, quartieren sich ein in rationalen Rastern und ihren eigenen Bestimmungen.«(35) |
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78 | Der Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart kann nicht nur auf die Beschreibung der Historizität menschlicher Erfahrungen angewandt werden. Vergangenheit und Gegenwart wurden hierbei zu Begriffen, um soziokulturelle Differenzen zwischen Menschen zu ziehen und um Veränderungen zu entwerfen und zu beschreiben oder um diese zu fordern und aufzuzwingen. Mittels der Anpassung der Theorie der Differenz von Lévy-Bruhl an einen historischen Rahmen haben Anthropologen versucht, eine Theorie soziokultureller Unterschiede mit evolutionären Begriffen aufzustellen oder die Religion als ein Indiz für evolutionäre Unterschiede zwischen Menschen und Kulturen zu nutzen. Die Religion wurde zum Erklärungsmodell für den allgemeinen Anfang und den Unterschied im zeitlichen Abweichen solcher Anfänge. So wird das Heidentum dem Christentum durch die Annahme gegenübergestellt, dass es Verharren in der Ursprünglichkeit repräsentiere. Das Christentum hingegen steht für den historischen Abstand dazu, und zwar aufgrund seiner Erhebung auf ein scheinbar überlegenes kognitives Niveau, das nur mit den Wissenschaften des Abstrakten vergleichbar ist. Es war die westliche Idee der Politik der Differenzen, die am Beginn des 20. Jahrhunderts Kolonisierung, Christianisierung und die Anthropologie rechtfertigte. | |||
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Aber zwischen 1950 und 1960 entstand eine andere Auffassung, die damit begann, die bisherigen politischen und epistemologischen Annahmen des Kolonialismus, des Christentums und der Anthropologie zu hinterfragen und zu modifizieren. Die entscheidenden Resultate dieser Umkehr wurden durch die Politik der Unabhängigkeit, im neuen und anti-lévy-bruhlschen anthropologischen Herangehen bekannt, das mit den Arbeiten von Claude Lévi-Strauss und der Bewegung der »schwarzen Theologie« begann. Was an ihnen wichtig und bemerkenswert ist, sind die Modelle, die eher Gemeinsamkeiten, Verbindungen und Anpassungen nachzeichnen als polarisierende Differenzen. In noch jüngeren Arbeiten, wie denen von Golden, Mauss und Dumézil, bedeutet diese Umkehr, dass es »jetzt möglich ist, von jeder Kultur, jedem Individuum und jeder Sprache zu sprechen und sie auf der Grundlage der Rationalität ihrer eigenen Normen, inneren Regeln und innerhalb der Logik ihres eigenen Systems zu analysieren und zu verstehen. In den Afrikastudien bedeutet dieser Wechsel den radikalen Übergang vom Entwurf der Differenzen einer ›erfundenen‹ Genesis zum Entwurf der kulturellen Individualität«(40). |
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80 | Es ist fast unmöglich, einen Schluss für diesen Text zu schreiben. Es ist selbst ein Text ohne ein Ende und ohne Schlussfolgerungen. Dafür gibt es einen Grund: Der Diskurs entfaltet sich weiter – selbst wenn wir willkürlich beschließen sollten, diese Erzählung zu stoppen. Diejenigen, die Freude daran haben und die Geduld, Nuancen biographischer Reisen zu verfolgen, werden sich auch an der autobiografischen Suche nach den Wegen der Selbst-Konstitution erfreuen. Und auch alle, die sich entschieden haben, das permanent zu tun, werden dieselben Wege nutzen, um eine größere Struktur des afrikanischen Raumes, von dem sie selbst ein Teil sind, zu entwerfen. |
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