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Oliver Kozlarek

Narrative Aneignung des Universalen als Aufgabe
der globalen Moderne

English
Summary

The article argues that the »postcolonial condition« – that is, the situation after the undisputed European world hegemony – underscores the necessity of the narrative appropriation of universal values and/or norms. That means that the problem facing postcolonial societies cannot be reduced to the question of identity (»Who are we?«) but has to do more importantly with the narrative means of disclosing universal values and/or norms. Thereby it is imperative to come to terms with the abstract universalism the European world-system imposed. Two examples from contemporary Latin American philosophy are discussed in order to exemplify different strategies for the narrative appropriation of the universal. While Enrique Dussel addresses the problem of universal values, Bolívar Echeverría proposes a critique of modernity by telling different stories of modernity.

Inhalt

1. Einleitung

Das Prinzip der Rivalität impliziert den permanenten Vergleich des Eigenen mit dem Fremden. Da, wer vergleicht, bereits Unterschiede und Differenzen voraussetzt und anerkennt, ist Vergleichen mit dem verwandt, was »Kritik« im etymologischen Sinne meint. 1 Der Postmodernismus hat zu Recht das Ende der »Metanarrativen« deklariert und darauf bestanden, dass die Zukunft den »kleinen Erzählungen« gehöre (Lyotard). Er schießt aber dort am Ziel vorbei, wo er behauptet, dass letztere nur noch unvermittelt nebeneinander stünden. Der Zusammenhang der Vielzahl moderner Erzählungen besteht nämlich darin, dass sie sich tatsächlich aufeinander über nationale Grenzen hinweg beziehen. Sie bilden ein internationales Netzwerk von Diskursen, die ihre Rechtfertigungen und Antriebe auch der Rivalität verdanken. Das Prinzip der Rivalität hat Pascale Casanova für den Fall der modernen Literatur sogar als konstitutiv angenommen. »Die internationale Konkurrenz«, so schreibt sie, »[…] signalisiert den Anfang des Vereinigungsprozesses des internationalen Raums« (Casanova 2001, 79).
2 Ich möchte behaupten, dass sich dieses Prinzip nicht auf Literatur im engeren Sinne beschränkt, sondern sich grundsätzlich auch für andere »Erzählungen« annehmen lässt. Und als »Erzählungen« verstehe ich hier auch philosophische und sozialtheoretische Texte. Auch wenn sie es sich nicht primär zur Aufgabe machen, Geschichten zu erzählen, können sie doch an narrative Strukturen anschließen, diese gegebenenfalls integrieren oder ergänzen. Sie ergießen sich in die polyperspektivische Geschichte der Moderne, indem sie danach trachten, eine besondere Perspektive, nämlich die eigene, durch den immer schon impliziten Vergleich mit einer bzw. mehreren fremden Perspektiven permanent neu zu konstituieren.
3 Das Prinzip der Rivalität impliziert den permanenten Vergleich des Eigenen mit dem Fremden. »Fremdes« und »Eigenes« sind diejenigen Kriterien, die der Vergleich als Beziehungsprinzip von sich aus schafft. Da, wer vergleicht, bereits Unterschiede und Differenzen voraussetzt und anerkennt, ist Vergleichen mit dem verwandt, was »Kritik« im etymologischen Sinne meint. Der Vergleich von Eigenem und Fremden hat also nicht die Konstituierung essentialistischer Identitäten zum Ziel, sondern Kritik, das heißt, das Offenhalten von Ermessensspielräumen, in denen die Geschichte der jeweils eigenen Moderne sich von anderen abhebt, ohne sich freilich über diese zu erheben bzw. sich radikal von ihnen abzusetzen.
4 Besonders postkolonialen Gesellschaften stellt sich die Aufgabe, dem modernen Universalismus, das heißt, jenem Diskurs, der den Alleinvertretungsanspruch des Universalen postuliert (Punkt 2), zu trotzen, ohne aber die Verpflichtung auf das Universale preiszugeben (3). Hilfreich ist die Besinnung darauf, dass es darum geht, wie das Universale durch eigene Geschichten narrativ angeeignet werden kann (4). Dies soll an zwei Beispielen lateinamerikanischer Philosophie exemplifiziert werden (5).

2. Abstrakter Universalismus und zwei Arten der Entfremdung

2.1 Tendenz zur Abstraktion

Aber gerade wenn die Moderne als Bewusstsein der Welt verstanden werden kann, darf letztere mit all ihrer Vielfalt weder durch Abstraktion noch durch strategische Indifferenz herausgekürzt werden. 5 Auf Berichte von Reisenden in die »Neue Welt« reagierte Montaigne begeistert. Er wusste gleich, »daß dasjenige, was wir durch die Erfahrung von jenen Völkern wissen, nicht nur alle Malereien übertreffe, womit die Dichtkunst das goldne Zeitalter ausgeschmückt hat, nebst allen den Erfindungen, um einen glücklichen Zustand der Menschen zu erdichten; sondern selbst die spekulativen Begriffe der Philosophie und sogar ihre Wünsche« (Montaigne 2001, 88). Gerade die spekulativen Begriffe der Philosophie waren es aber, die dank ihrer Abstraktheit und Flexibilität die gesamte Welt in sich begreifen und ihren normativen Rahmen abstecken sollten und die vor allem den Montaigne folgenden Generationen unentbehrlich werden sollten. Wovon hier die Rede ist, ist jene Tendenz zur Abstraktion, in der sich der Blick für die konkrete Vielfalt menschlicher Wirklichkeiten zusehends verlor.
6 Dabei war zunächst die Einsicht, dass mit der Entdeckung anderer, den Europäern bisher nicht bekannter Völker und Kulturen auch für die Europäer einiges anders geworden war, durchaus offenkundig. Dass zum Beispiel ethische Fragen neu diskutiert werden mussten, dass also die europäischen Diskurse nicht auf die neue Situation vorbereitet waren, davon legt der Disput von Valladolid zwischen Ginés de Sepúlveda und Bartolomé de las Casas in den Jahren 1550-51 Zeugnis ab. Zwar stand dabei die Frage, wie die Einwohner der »entdeckten« und eroberten Gebiete behandelt werden sollten, im Vordergrund. Für unseren Zusammenhang ist aber interessant, dass sich hier bereits ablesen lässt, wie auch in Zukunft mit dem unerwarteten Einbruch von Andersartigkeit und Fremdheit umgegangen werden soll: nämlich mit Hilfe eines abstrakten Universalismus.
7 Das bedeutet nicht, dass dem Rückmarsch ins Dickicht der Gemeinschaften und ihren nur lokal oder regional gültigen Geschichten Vorrang gegeben werden soll. Denn das globale Erfolgsrezept der Geschichte der Moderne besteht auch darin, dass sie eine Geschichte der Menschheit, eine tatsächlich globale Geschichte sein will und damit auf eine nicht mehr rückgängig zu machende Realität reagierte, die heute unter dem Schlagwort »Globalisierung« in aller Munde ist. Aber gerade wenn die Moderne als Bewusstsein der Welt verstanden werden kann, darf letztere mit all ihrer Vielfalt weder durch Abstraktion noch durch strategische Indifferenz herausgekürzt werden. Abstraktion und Rückzug in die sichere Sphäre des Eigenen stellen dennoch die wesentlichen Antworten dar, mit denen der Diskurs der Moderne auch auf ihre normativen Herausforderungen geantwortet hat. Beide Antwortversuche diskutieren längst nicht mehr an konkreten Fällen – wie es Ginés de Sepúlveda und Bartolomé de las Casas noch taten –, sondern suchen nach allgemeinen innerdiskursiven, das heißt aprioristischen Lösungen. 1

2.2 Universalismus und Relativismus

Der brasilianische Philosoph Renato Janine Ribeiro erinnert daran, dass es immer so ausgesehen habe, als sei das Universale Eigentum der Metropolen, während sich der Rest der Welt mit dem Partikularen zufrieden geben müsse. 8 Die maßgeblichen Koordinaten auch für moralische und ethische Fragen sind nun die begrifflichen Eckpunkte »Universalismus« und »Relativismus«. 2 Auf die Frage nach einer Weltethik kann aus beiden Richtungen geantwortet werden. Aber konkreter wird das Verständnis von der Welt durch keine der beiden Optionen: Dies mag sich im Falle des Universalismus, auch dort, wo er noch »konkreter« Universalismus sein will, von selbst verstehen. Der Relativismus jedoch überspringt das Konkrete ebenfalls, denn ihn interessiert vor allem die Kategorie des Partikularen, die dem abstrakten Universalismus in genauso abstrakter Weise trotzt.
9 Die der Vielfalt, dem Anderen, dem Fremden trotzende Gewalt des modernen Universalismus hat in Europa all jene Erfahrungen der Entfremdung zu verantworten, die von europäischen Intellektuellen immer wieder thematisiert wurden und die während des 20. Jahrhunderts vor allem als sich zuspitzender Konflikt zwischen Individuum und Allgemeinem interpretiert wurden. Eine andere Erfahrung der Entfremdung machten und machen aber die kolonialen sowie postkolonialen Gesellschaften. Der brasilianische Philosoph Renato Janine Ribeiro hat dies sehr einleuchtend beschrieben. Er erinnert daran, dass es immer so ausgesehen habe, als sei das Universale Eigentum der Metropolen, während sich der Rest der Welt mit dem Partikularen zufrieden geben müsse (Ribeiro 2001, 10). Universalität erscheine aus der Sicht all jener Gesellschaften, die sich nicht zu den Metropolen zählen, exotisch und fremd:
10 Wenn wir so, wie wir es gewöhnt sind, aus der Entfernung auf die Zentren der ökonomischen und intellektuellen Produktion blicken, dann erscheint alles großartig, einzigartig und weit entfernt vom Alltag. […] Aber es reicht aus, einen genaueren Blick auf die Klassiker zu werfen, die heutigen genauso wie die gestrigen, um feststellen zu können, dass die Umstände immer einen wichtigen Anteil an ihrer Produktion gehabt haben. (9-10)
11 Wer also den Exotismus des Universalismus überwinden will, muss sich der konkreten (der eigenen, partikularen) Mittel, durch die sich das Universale erst erschließt, bewusst werden. Das bedeutet aber nicht, dass dem Besonderen auch normativ Vorrang zu geben sei, denn damit würde nur die logische Bedeutung von »besonders« (als Gegensatz zu »allgemein«) hypostasiert; die logisch-abstrakte Form würde wieder Oberhand gewinnen, und das Universale und das Besondere wieder nur auf ihre formale Bedeutung reduziert.
12 Wo wurde dem abstrakten Universalismus auch der modernen Moralphilosophie eine gründlichere Schelte erteilt als im Postmodernismus? Zygmunt Bauman, der für die Forderungen des Postmodernismus einsteht, hat deutlich gemacht, dass ausgerechnet die Globalisierungsdebatte den Nachdruck auf Universalität entkräftige. Den Grund, den Bauman für diese Entwertung des Universalismus nennt, konzentriert sich im Begriff der Globalisierung, in dem all jene Erfahrungen gebündelt werden, die Zweifel an der Möglichkeit einer universalen Ordnung nähren (Bauman 1998, 59; Kozlarek 2004). Diese Zweifel haben durchaus empirische Anlässe, zu denen Bauman in erster Linie den Souveränitätsverlust aktueller Nationalstaaten zählt. Sie finden aber ihre Ursachen darin, dass der normative Diskurs der Moderne, dessen begrifflicher Kern im Universalismus ruht, von vornherein an ein Weltbewusstsein geknüpft war, in welchem die ethisch-moralische Autorität mit der ökonomisch-militärischen koinzidierte.
Wo wurde dem abstrakten Universalismus auch der modernen Moralphilosophie eine gründlichere Schelte erteilt als im Postmodernismus? 13 Auch dies macht der schon erwähnte Disput zwischen Ginés de Sepúlveda und Bartolomé de las Casas deutlich, denn so groß das Bewusstsein, das es notwendig wurde, die eigenen Diskurse zu revidieren, auch gewesen sein mag, in einem waren sich die beiden Theologen einig: dass nämlich das unhintergehbare fundamentum in re, das von keiner ethischen Stellungnahme zum Problem der indigenen Völker Amerikas hinterfragt werden konnte, das koloniale »Weltsystem« war. Und selbst wenn über die Methoden gestritten werden konnte, stand doch auch auf beiden Seiten fest: Die faktische Realität eines kolonialen Weltsystems verlangt nach einer Einheitsgeschichte, einer großen Erzählung, die für die beiden Spanier noch über jeden Zweifel erhaben im Evangelium wurzeln musste (vgl. Álvarez-Cienfuegos 2001, 479), die aber immer deutlicher ihren legitimatorischen Fixpunkt in der vermeintlichen Selbstevidenz der Natur vermutete und damit eine über jeden Zweifel erhabene Imago der »Cosmopolis« (Toulmin) entwarf.
14 Das heißt: Auch der moderne Universalismus ist nicht losgelöst von ganz konkreten und kontingenten Notwendigkeiten, die ihm aus der Aufgabe der Weltherrschaft entstanden; einer Aufgabe, die sich die Europäer allerdings selbst stellten und die weder Gott noch die Natur von ihnen verlangten.

3. Entkolonialisierung und neue Aufgaben der Moralphilosophie

15 Eine wichtige Ereigniswelle stellt in diesem Zusammenhang die Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Dadurch wurde endgültig eine Situation geschaffen, die den Hintergrund vor dem Sepúlveda und las Casas noch diskutierten, radikal veränderte, da sie die europäische Weltherrschaft endgültig in Frage stellte. Das heißt auch, der diskursiv fortgesetzte Universalismus verlor seine faktischen Grundlagen und die leere Dialektik von Universalität und Partikularität, Globalität und Lokalität, Einheit und Vielfalt büßte ihre Selbstverständlichkeit ein. Schon Adorno warnte, wenn auch in einem anderen Zusammenhang: »Nichts wäre falscher und trügender, als einer Forderung der Zeit genügen zu wollen, die von außen gesehen abstrakt und leer ist« (Adorno 1997a, 134).
16 Die Bedeutung der postkolonialen Kritik liegt darin, diese »Leere der Zeit« mit Geschichten zu füllen, die sich ihrer räumlich-geographischen Besonderheiten bewusst sind (Mignolo, 1995). Dabei begnügt sie sich aber nicht damit, die hinter dem Anspruch der Universalität versteckten partikularen »europäischen« (oder US-amerikanischen) Interessen des Diskurses der Moderne auszuspähen, um sodann in einem heiteren Karneval der Kulturen dem Relativismus zu frönen. Davor warnt auch Arif Dirlik, demzufolge auch das postkoloniale Bewusstsein nicht den Fehler begehen darf, sich im Eigenen einschließen zu wollen:
17 Reconceptualizing modernity as global modernity may help overcome some of these problems in allowing recognition of the dialectics of modernity in its globalization. Global modernity bears upon it the mark of European origins in its formulation (as must any reference to modernity). On the other hand, it is also less bound to those origins than such concepts as postmodernity or globalization. It allows for recognizing both the unities and the divisions of a contemporary modernity. (Dirlik 2003, 289)
»Nichts wäre falscher und trügender, als einer Forderung der Zeit genügen zu wollen, die von außen gesehen abstrakt und leer ist.«

Theodor W. Adorno
(1997a, 134)
18 Was bedeutet all dies aber für die Moralphilosophie? Ob die Frage nach der Einheit der Moral und ihren zulässigen Variationen sinnvoll sei, wird heute wieder heftig diskutiert. Hervorzuheben scheint mir aber vor allem, dass die Frage, wenn sie auf internationaler Ebene diskutiert wird, komplizierter wird. Es wird dabei nämlich klar, dass der Versuch der Implementierung eines Einheitsdiskurses immer wieder auf Widerstand stoßen wird. Er muss sich immer an der Vielfalt normativer Diskurse messen, die sich aus ganz unterschiedlichen Traditionen speisen und die miteinander in einem internationalen Kampf um Anerkennung ringen. Die Erkenntnis dieser Polyphonie hat dabei längst bewirkt, dass sich Interessen verschoben haben. Es geht nicht mehr nur darum, so etwas wie universale Werte und Prinzipien zu ermitteln, sondern auch darum, zu verstehen, wie Menschen überhaupt bewusst auf etwas, was ihnen wertvoll ist, Bezug nehmen. Auf diese Frage möchte ich versuchen mit Hilfe von zwei Autoren zu antworten, die beide deutlich machen, dass es sich dabei um Aneignungsprozesse handelt.

4. Aneignung des Universalen und die Notwendigkeit einer Kritik der Moderne

4.1 Die Wertentstehungstheorie von Hans Joas

19 Das Verb »aneignen« verweist nicht notwendig auf Relativismus, denn es scheint tatsächlich darum zu gehen, dass das Universale immer schon durch Eigenes erkannt werden muss (vgl. Ribeiro 2001). Um dies zu erklären möchte ich zunächst auf Hans Joas' Wertentstehungstheorie zurückgreifen. In ihr will Joas zeigen, dass »Werte und Wertbindungen […] in Erfahrungen der Selbstbindung und Selbsttranszendenz« entstehen (Joas 1997, 25). Mit Clifford Geertz und der jüngeren Kultursoziologie Jeffrey Alexanders will auch Joas nicht nur zeigen, dass die Abstraktion, die dazu geführt hat, Werte als »analytische Konstrukte« zu begreifen, dass sie also vermeintlich »in einem separaten Modus existieren – völlig abgetrennt von anderen Weisen unseres Weltbezugs« (34), unhaltbar sei. Werte »entstehen« nach Joas – der sich in einem zweiten Schritt auf Durkheim, James, Dewey und Mead bezieht – erst in solchen Momenten in denen unser Handeln als etwas erfahren wird, das, obwohl es – vergleichbar mit religiösen Erfahrungen – über uns hinausgeht, gleichzeitig aber auch unser »Selbst« stärkt.
Joas
Hans Joas
(*1948)
external linkBiographie
20 Trotz seiner Anerkennung der Kontextabhängigkeit von Werten sieht sich Joas nicht genötigt einem radikalen Werterelativismus das Wort zu reden. Im Gegenteil, er sieht durchaus ein, dass es so etwas wie eine »potentiell universale Moral der Kooperation« geben kann, die auf universale Normen verweist. Aber selbst trotz dieser Tatsache sind die Kontexte nicht wegzudenken:
21 Viele Normen der fairness, der Kooperation oder der Verteilung sind zu einem überraschenden Grade universal. Aber jede Kultur definiert für sich selbst die Bereiche der Anwendung, begrenzt ihr Potential und exkludiert bestimmte Personen oder Situationen aus ihrem Geltungsbereich. (Joas 2002, 46)
22 An anderer Stelle erklärt Joas die Notwendigkeit, unterschiedliche Handlungskriterien zu akzeptieren:
23 Den situationalen und kreativen Charakter des Handelns akzentuieren impliziert keine Art von Skeptizismus der Idee der Gerechtigkeit gegenüber. Aber für den Pragmatisten ergibt sich aus dieser Idee auch nicht, dass in der Situation des Handelns [die Idee der Gerechtigkeit] bevorzugt werden müsse, so als handele es sich um etwas Selbstverständliches, das die Prüfung einer Orientierung immer auf der Grundlage des Universalisierungsprinzips gegen jede andere Überlegung durchgeführt werde. (62)
24 Trotzdem steht für Joas aber fest, dass jede Kultur beständig Interpretationen einer universalen Moral vornimmt und dass diese Interpretationen, die auch den jeweils speziellen Geltungsbereich des Universalen definieren, eben gerade die Art und Weise darstellen, in der sich die jeweilige Kultur universale Normen aneignet (vgl. 63).
25 Mir erscheint die handlungstheoretische Definition der Aneignung des Universalen, wie sie Joas anbietet, höchst bedeutsam, denn sie macht deutlich, dass wir immer über Ressourcen verfügen, die es uns erlauben, »falsche« Universalansprüche zu entlarven, und dass dies vor allem dann möglich wird, wenn wir uns – nach einer »soziologischen Aufklärung« (Luhmann, Bauman) – dem Wesen des menschlichen Handelns bewusst werden. Diese »soziologische Aufklärung« moralphilosophischer Fragen ist bei Joas aber noch ergänzungsbedürftig, denn neben dem Verweis auf menschliches Handeln benötigt Joas' Theorie eines zeitdiagnostischen Ansatzes, der unter anderem in der Lage sein sollte, zu erklären, warum heutzutage überhaupt Theorien notwendig erscheinen, die sich mit moral- und werttheoretischen Fragen auseinander setzen. Anstatt also letztendlich wieder universalistisch zu argumentieren – diesmal, sich auf anthropologische Invarianten berufend – sollte Joas deutlicher zum Kontext seiner eigenen Theorie Stellung nehmen. Durch eine solche selbstreflexive Einstellung hat sich die kritische Theorie immer schon ausgezeichnet, die ich im Folgenden am Beispiel Judith Butlers diskutieren möchte.

4.2 Judith Butlers Lesweise von Adorno

Judith Butler hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich Probleme der Moralphilosophie keineswegs völlig allgemein behandeln lassen, sondern im jeweiligen sozio-historischen Kontext untersucht werden müssten, in dem sie überhaupt als Problem erst wahrgenommen werden können. 26 Butler hat sich in ihren Adornovorlesungen, die sie im Jahre 2002 in Frankfurt gehalten hat, zur Aufgabe gemacht, Adornos Vorschlag zur Moralphilosophie ganz im Licht der Probleme zu sehen, die sich menschlichen Akteuren stellen, wenn sie sich in einer Gesellschaft, in der die normativen Gewohnheiten problematisch geworden sind, eine gewisse normative Grundausstattung anzueignen versuchen. Sie macht von vornherein darauf aufmerksam, dass sich solche Probleme keineswegs völlig allgemein behandeln lassen, sondern im jeweiligen sozio-historischen Kontext untersucht werden müssten, in dem sie überhaupt als Problem erst wahrgenommen werden können. Diese Erkenntnis, so Bulter, sei eine der wesentlichen Lehren, die uns Adornos Gedanken zur Moralphilosophie hinterlassen haben.
27 Wie ließe sich die Frage der Moralphilosophie, eine Frage, die mit dem Verhalten, also mit dem Handeln zu tun hat, im heutigen gesellschaftlichen Rahmen stellen? Stellt man die Frage auf diese Weise, so hat man bereits eine These vorausgesetzt, die These nämlich, dass sich die Form solcher Fragen je nach Kontext ändern und dass der Kontext in Gestalt des Common Sense der Form der Frage bereits innewohnt. (Butler 2003, 12)
28 Diese selbstreflexive Einsicht, die hier zum Ausdruck kommt, geht in der Tat direkt auf Adorno zurück, der in seinen Vorlesungen über Probleme der Moralphilosophie (Adorno 1997b) deutlich macht, dass jedes moralphilosophische Bewusstsein immer schon auf einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand verweist, von dem sich zumindest behaupten lässt, dass in ihm die handlungsorientierenden Normen und Werte problematisch geworden sind. Damit ist aber nicht nur der unauflösliche Zusammenhang zwischen Moralphilosophie (bzw. Ethik) und Gesellschaftstheorie, sondern auch zwischen Moralphilosophie (bzw. Ethik) und Kritik unter Beweis gestellt, denn das Problematischwerden von Regeln, Normen und Werten verweist bereits darauf, dass unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen »das ›Ich‹ nicht mit den moralischen Normen zusammenfällt«, was wiederum »zu einer kritischen Einsicht in deren gesellschaftliche Genese und Bedeutung führt« (Butler 2003, 21). Mehr noch: Indem das »Ich« die hier angesprochene »Entfremdung« erfährt und als solche wahrnimmt, muss es »notwendig zum Gesellschaftstheoretiker werden« (20). Gesellschaftstheorie ist also keineswegs das Privileg einer akademischen Elite, sondern das Vorrecht eines jeden Individuums, das die enormen Spannungen zwischen dem Selbst und dem gesellschaftlich »Allgemeinen« erfährt. Oder anders ausgedrückt: das die entfremdende oder ent-eignende Erfahrung machen muss, die letztendlich darauf zurückzuführen ist, dass es nicht ohne Weiteres den Normen gegenüber indifferent bleiben kann.
29 Butler (sowie Adorno) ist es durchaus klar, dass sich ihre Überlegungen auf die Bedingungen in modernen Gesellschaften beziehen und dass diese Gesellschaften wesentlich von jenem Auseinanderklaffen zwischen dem »Besonderen und dem Allgemeinen« geprägt sind, das die Frage nach Moral überhaupt auf den Plan ruft. Die Rückkehr in den Schoß gemeinschaftlicher normativer Rahmenbedingungen, die problemlos akzeptiert würden, ist in diesen Gesellschaften weder zu erwarten noch wünschenswert:
30 Adorno weigert sich, [den Verlust eines gemeinsamen und gemeinschaftlichen Ethos] zu betonen, da das kollektive Ethos seiner Befürchtung nach unausweichlich ein konservatives ist und eine falsche Einheit, ja eine Einheit setzt, welche die Schwierigkeiten und Diskontinuitäten jedes zeitgenössischen Ethos zu unterdrücken sucht. (13)
Butler
Judith Butler
(*1956)
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31 Mit Recht nennt Butler in diesem Zusammenhang den Nationalismus als Beispiel. Es ließe sich aber noch deutlicher beschreiben, worin das Problem eines jeden »gemeinschaftlich« selbstsuffizienten Ethos bestünde, nämlich darin, dass sich moderne Gesellschaften überhaupt nicht in sich selbst einschließen und vor anderen verschließen können, wenn man einmal begriffen hat, dass eine der wesentlichen Bedingungen dieser Gesellschaften eben gerade in ihrem Verständnis gesellschaftlicher, kultureller, ethnischer, nationaler etc. Vielfalt liegt. Gerade mit Hinblick auf moralische Probleme wird aber deutlich, dass diese Erkenntnis der Vielfalt nicht im Relativismus münden kann. Universalitätsanspruch ist nur dann verwerflich, wenn er unter bestimmten Bedingungen nur noch allgemeinverpflichtend postuliert wird, wenn er also nicht einen allgemeinen Konsens darstellt, der nur als Resultat »lebendiger Aneignung« des Universalen möglich sei.
32 Ist eine solche lebendige Aneignung nicht möglich, dann scheint daraus zu folgen, dass sich die Regel als ein totes Ding lediglich ertragen lässt, dass sie nichts als ein Leiden ist, das von einem indifferenten Außen auf Kosten von Freiheit und Besonderheit verhängt wird. (18)
33 Anders gesagt, die Erkenntnis der Pluralität, die für moderne Gesellschaften konstitutiv ist, hat immer wieder zu jener »ethischen Gewalt« geführt, die sich im Namen des Universalen – genauer: einer abstrakten Universalität – über das Besondere hinwegsetzt; nicht selten mit physischer Gewalt das Besondere sogar zu vernichten sucht.
34 Ebenso wie Joas ist es Butler (sowie Adorno) klar, dass das Problem nicht das Universale ist, sondern die Möglichkeiten von Aneignung des Universalen. Dabei sieht Butler aber ein, dass dieser Aneignung eine Kritik der Monopolisierung von Aneignungsnarrativen und der von dieser ausgehenden »ethischen [und physischen] Gewalt«, vorausgehen muss. Der Horizont einer solchen Kritik ist nicht eine ethische oder moralische Norm, auch nicht ein Ideal menschlichen Handelns, sondern das aus der kritischen Zeitdiagnose sich negativ abzeichnende Bild von Bedingungen, unter denen »lebendige Aneignung« des Universalen durch das jeweils Eigene möglich wäre. Für Butler steht fest, dass diese durch Kritik der gegebenen Zustände motivierten Aneignungsprozesse vor allem narrative Prozesse darstellen. Das »entfremdete« Ich versucht schließlich eine Geschichte von sich selbst zu erzählen, die aber notwendigerweise eine Geschichte der gesellschaftlichen Bedingungen seiner Entfremdung miterzählt (20). Dafür steht paradigmatisch Adornos Minima Moralia. Dort zeigt sich: Die Geschichte, die das entfremdete Individuum von den gesellschaftlichen Bedingungen erzählt, ist bereits eine andere, nämlich seine eigene Geschichte, und stellt damit schon einen erheblichen Beitrag zur »lebendigen Aneignung« des Universalen dar.

4.3 Die Erfahrung von Entfremdung

Gemeint ist die Erfahrung der Entfremdung, die aus dem Verständnis der Beziehung der eigenen Gesellschaft zu anderen resultiert. Gemeint ist die Erfahrung, dass das Universale anderen gehöre, eine Erfahrung, die immer schon den Vergleich mit anderen Gesellschaften voraussetzt. 35 Es muss an dieser Stelle wiederholt werden, dass nach Butler all dies nur nötig, ja möglich wird, wenn es zu einer Krise des moralischen Grundbestands kommt, wenn es also zur Erfahrung des Auseinanderklaffens zwischen Normen und Werten sowie dem »Ich« kommt. Oder anders gesagt: wenn es zur Erfahrung von Entfremdung kommt. Dabei wird aber auch klar, dass das Problem auf unterschiedlichen Erfahrungsebenen aufbrechen kann: Die eine, die von Adorno brillant thematisiert wurde (und die auch Butler »aktualisiert«), ist die individuelle. Sie bezieht sich auf die Erfahrung, die das einzelne Individuum innerhalb der modernen Gesellschaft macht, von der es sich zunehmend entfremdet. Davon unterscheiden lässt sich eine andere, überindividuelle Erfahrungsebene, die auf der internationalen Dimension unserer heutigen Erfahrungswelten in Erscheinung tritt und die vor allem in postkolonialen Gesellschaften zum Gegenstand nicht nur intellektueller Debatten gehört. Gemeint ist die Erfahrung der Entfremdung, die aus dem Verständnis der Beziehung der eigenen Gesellschaft zu anderen resultiert. Gemeint ist die bereits beschriebene Erfahrung, dass das Universale anderen gehöre (Ribeiro), eine Erfahrung, die immer schon den Vergleich mit anderen Gesellschaften voraussetzt und daher nicht rein endogen betrachtet werden kann. 3
36 Hier zeigt sich auch, dass es nicht nur die Frage der »Identität« ist – schon gar nicht, wenn diese als Frage nach dem essentiell Eigenen verstanden wird – mit der sich Lateinamerika beschäftigt, sondern auch – vielleicht in erster Linie – die Frage nach eigenen Mitteln des Zugangs zu universalen Normen und Werten menschlichen Handelns. 4 Natürlich ist leicht einzusehen, warum die Diskussion um die Identität mit diesen Fragen so eng verbunden ist, denn was im Rahmen jener thematisiert wird – zum Beispiel, ob die eigene Kultur nur das »Derivat« anderer Kulturen, vor allem europäischer Kulturen darstelle (so die Sichtweise des mexikanischen Philosophen Samuel Ramos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) – ist von der Frage nach den eigenen kulturellen Mitteln des Zugangs zu oder der Erschließung von universalen Normen und Werten menschlichen Handelns nicht zu trennen. Nur geht es in letzterer eben nicht um die unveräußerliche Essenz der Kultur, sondern um ihre vermittelnde Funktion als Eigenes über das Eigene hinauszugelangen. Bedroht wird diese Funktion, wenn die jeweilige Kultur nicht als die Eigene verstanden werden kann, wenn sie also sich selbst gegenüber fremd bleibt. Dieses Syndrom der Entfremdung zu überwinden ist also die Aufgabe der Moralphilosophie und Ethik in Lateinamerika – und vermutlich auch in anderen postkolonialen Gesellschaften. Im Folgenden möchte ich dafür zwei Beispiel präsentieren.

5. Für eine narrative Aneignung des Universalen

5.1 Narrative Aneignung von Werten durch Ethik: Enrique Dussel

Dussel
Enrique Dussel
(*1934)
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37 Der Wiener Philosoph Hans Schelkshorn, der sich intensiv mit den verschiedenen Phasen der Debatte zwischen der Diskursethik und der Befreiungsethik beschäftigt hat, schreibt in einer resümierenden Würdigung:
38 Die Diskursethik, die von K.-O. Apel und von Jürgen Habermas entwickelt wurde, setzt eine europäische Tradition […] fort. Die lateinamerikanische Befreiungsphilosophie hingegen setzt Zeichen für die Entwicklung eines genuin lateinamerikanischen Denkens. (Schelkshorn 1994, 11)
39 Was es bedeutet, sich gegen die »europäische Tradition« zu behaupten, weiß der argentinische Philosoph Enrique Dussel, einer der wichtigsten Repräsentanten der Befreiungsphilosophie, der seit Ende der 70er Jahre in Mexiko lebt, nur zu gut. Worum es ihm geht, hat er in verschiedenen Bereichen der Philosophie entsprechend der jeweiligen Terminologie immer wieder zum Ausdruck gebracht. So zum Beispiel in den 70er Jahren, als die Frage, ob es eine lateinamerikanische Metaphysik geben kann, im Mittelpunkt stand.
40 Die lateinamerikanische Philosophie, die danach strebt, die Stimme Lateinamerikas zu interpretieren, ist ein neues und analogisches Moment in der Geschichte der Philosophie. Es ist kein neues partikulares Moment des einstimmigen Ganzen der abstrakten universalen Philosophie; auch ist es kein akzidentielles und selbsterklärendes Moment seiner selbst. […] Die Philosophie eines authentischen Philosophen, die Philosophie des lateinamerikanischen Volkes, ist analogisch gleich (und deshalb ist sie eine einzigartige Etappe in der Geschichte der Philosophie) und gleichzeitig verschieden (und deshalb ist sie einzigartig, originell und nicht-imitierbar, …). (Dussel 1973, 136)
41 Der mexikanische Philosoph Mauricio Beuchot hat vermutlich Recht mit seiner Kritik an dem Anspruch Dussels, auf diese Weise eine eigene lateinamerikanische Metaphysik begründen zu wollen. Er erkennt in diesem Versuch vor allem die Tendenz einer »Soziologisierung« der Philosophie und rät Dussel, ebenfalls berechtigterweise, seine Intuitionen eher in der praktischen Philosophie weiterzuentwickeln (vgl. Beuchot 1996, 121). Dass Dussel zu einer ähnlichen Überzeugung gekommen sein muss, beweist seine 1998 veröffentlichte Ethik der Befreiung 5. Sie beginnt mit einem für philosophische Bücher außergewöhnlichen Aufwand: einer Revision der Weltgeschichte der Ethik der letzten 5000 Jahre. Ziel des Autors ist dabei, den Filter der eurozentrischen Sicht zu brechen, durch den unser moralisches Verständnis immer wieder fällt, wenn es über die letzten 500 Jahre nicht hinauszugehen vermag, die zweifelsohne durch die Glorie zunächst der europäischen, später hinzukommend der US-amerikanischen Moderne geprägt wird (vgl. Dussel 1998, 19-86). Und unabhängig aller Bedenken, die sich gegen Dussels Versuch, den Eurozentrismus durch eine Erschließung solch großer narrativer Horizonte aufzubrechen, vortragen ließen, ist doch für unseren Zusammenhang allein schon dieser enorme narrative Reflex als solcher sowie die Tatsache, dass dieser ganz unverhohlen im Zusammenhang mit der Moralphilosophie aufblitzt, ein deutlicher Hinweis darauf, wie wichtig die jeweilige narrative Aneignung ethischer Inhalte zu sein scheint.
42 Symptomatisch ist am Beispiel Dussels aber auch, dass seine Sehnsucht nach einer lateinamerikanischen Ethik überhaupt nichts anderes will als jene Ethiken, die bereits in Europa oder in den Vereinigten Staaten gedacht wurden. So findet man in ihr immer wieder Zugeständnisse nicht nur an die Diskursethik, sondern an die gesamte okzidentale Tradition der Philosophie. Dussels Ethik will keine besondere Ethik sein, sondern »Ethik ohne Weiteres« (1998, 14). Auch die Notwendigkeit einer universalen Begründung jeder Ethik würde Dussel umstandslos unterschreiben. Die »Soziologisierung« (Beuchot) seines Denkens geht also nicht so weit, Universalität nur noch der Methode zu verschreiben, sondern sie bekennt sich zu universalen Werten – an erster Stelle dem des Lebens. Dadurch weist Dussel gerade den Formalismus zurück – den er am abstrakten Universalimus kritisiert – nicht aber das Universale per se.
Die Philosophie eines authentischen Philosophen, die Philosophie des lateinamerikanischen Volkes, ist analogisch gleich (und deshalb ist sie eine einzigartige Etappe in der Geschichte der Philosophie) und gleichzeitig verschieden (und deshalb ist sie einzigartig, originell und nicht-imitierbar, …).

Enrique Dussel
(1973, 136)
43 Nach Dussels Auffassung liegt der Fehler formaler Ethiken darin, dass sie die gemeinsamen Inhalte, die allen Menschen wichtig sind – an erster Stelle der des Lebens – wo nicht völlig ausblenden, zumindest auf eine untergeordnete Ebene verdrängen. Dabei handelt es sich aber nicht um ein rein theorie-immanentes, sondern um ein tatsächlich soziologisch-politisches Problem, an dem sich wichtige Unterschiede zwischen Lateinamerika und Europa (bzw. den USA) ablesen lassen. Dieses Problem möchte ich kurz mit Ronald Inglehart erklären (Inglehart 1997): Um die Prozesse sozialen Wandels, besonders unter Berücksichtigung des Wertewandels zu verstehen, ist es längst nicht mehr ausreichend von einem Prozess der »Modernisierung« auszugehen. Inglehart schlägt daher vor, einen Folgeprozess anzunehmen, den er »Postmodernisierung« nennt und der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sich zunehmend »postmateriale« Werte durchsetzten. Ingleharts Meinung nach lässt sich »Modernisierung« in erster Linie durch materielle Motive gesteuert begreifen. Es gehe darum, »to enable a society from being poor, to being rich« (5), dass heißt, es geht um die Mittel, das materielle Überleben zu sichern und zu verbessern. Die Transformation zur Postmoderne ist nach dieser Logik dann möglich, wenn die materiellen Überlebensmittel ausreichend gesichert sind.
44 Vor diesem Hintergrund lässt sich deutlich machen, worum es Dussel geht: nämlich dem Denken materiell saturierter Gesellschaften, unabhängig davon, ob sie sich modern oder postmodern nennen, aus der Perspektive derjenigen zu widersprechen, deren materielle Überlebensgrundlage nicht gesichert ist. Dass Dussels Philosophie an einigen Stellen »antiquiert« erscheint, weil sie sich nicht auf die verführerisch ästhetisierenden Diskurse der Postmoderne einlassen will, könnte nun dadurch erklärt werden, dass die sozialen und politischen Bedingungen, an denen sich Dussels Ethik schult, eben solche sind, in denen es immer noch keine politischen und sozialen Garantien des Überlebens gibt, in denen also noch Probleme akut sind, die in den »postmodernen Gesellschaften« vielleicht tatsächlich bereits überwunden sind. An diese durchaus soziologische Diagnose erinnert Dussel in seiner Ethik dadurch, dass er konstant an Erzählungen anknüpft, die diese Situation vergegenwärtigen, wie zum Beispiel die Biographie Rigoberta Menchús oder die des neueren Zapatismus im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas.

5.2 Von der Moralphilosophie zu den Geschichten der Moderne: Bolívar Echeverría

Echeverría
Bolívar Echeverría
(*1941)
external linkBiographie
45 Der ekuadorianische Philosoph Bolívar Echeverría, ebenfalls in Mexiko lebend, weiß, dass die narrativen Anstrengungen heute nur noch erfolgreich sein können, wenn sie durch die Klammern einer gemeinsamen, sprich globalen Moderne zusammengehalten werden. Anders als Dussel gründet Echeverría seinen Vorschlag nicht auf universale Werte, sondern situiert ihn historisch. Damit gelingt es ihm, die narrativen Aspekte seines eigenes intellektuellen Projekts, genauer zu definieren. Während Dussel die transhistorischen Grundlagen des menschlichen Lebens sucht und damit immer wieder fast priesterlich zur Stimme des Universalen zu werden scheint, weiß Echeverría, dass seine Philosophie schon als Kritik der Monologisierung der Geschichte der Moderne gerechtfertigt ist. Deshalb ist es nicht einmal mehr nötig, eine positive Ethik auszusprechen. Schon das Anliegen, eine andere Geschichte der Moderne zu erzählen, enthält den notwendigen moralischen Impuls der Kritik (vgl. Echeverría 1994, 14), indem er in die hegemonischen Strukturen unserer Diskurse eingreifen will. Er wird dadurch bekräftigt, dass seine Theorie der Moderne die miteinander verwobenen Geschichten der unterschiedlichen »Lebensformen« der Moderne aus einer anderen Perspektive erzählen will. Nicht um die Hypostasierung von Begriffen geht es Echverría dabei, sondern um Ethos, den er wie folgt definiert:
46 Der Terminus Ethos hat den Vorteil seiner Ambivalenz bzw. seines doppelten Sinns; er lädt dazu ein, die Grundbedeutung der Wohnung oder des Obdachs – das was sich dabei auf Unterschlupf, auf Verteidigung und Passivität bezieht – mit dem, was sich auf Waffe, auf Angriff und Aktivität bezieht, zu verbinden. Er verbindet den Begriff der Sitten und Gebräuche oder des mechanischen Verhaltens – eine Gegenwärtigkeit der Welt in uns, die uns vor der Notwendigkeit bewahrt, bei jedem Schritt zu dechiffrieren – mit unserer Gegenwärtigkeit in der Welt, die letztere dazu zwingt, uns auf eine bestimmte Art und Weise zu behandeln. (18)
47 Ethos ist also »Lebensform« und greift als solche weit über den Bereich der Philosophie oder sonst irgendeiner theoretischen Tätigkeit hinaus. Als Lebensform bezeichnet Ethos vielmehr alle Tätigkeiten, denen bestimmte historische Momente ihre Konkretion und Regularität verleihen, ohne dass sie damit aber an Kreativität und Spontaneität einbüßten. Schon die Tatsache, dass es verschiedene Lebensformen gibt, die sich auf die eine Herausforderung der Moderne reagierend herausgebildet haben, zeugt von dieser Kreativität. Dennoch sind Lebensformen aber immer auch träge; sie lassen sich nicht allein schon durch eine »gute Idee« ändern, denn es geht ihnen ja auch darum, sich einzurichten. Wie sie sich aber eingerichtet haben, darin liegt kein unwesentlicher Unterschied. Denn bezogen auf das Grundproblem der Moderne, das Echeverría im Sinne von Marx in der Tendenz, Gebrauchswerte in Tauschwerte zu verwandeln, sieht, lassen sich Lebensformen beobachten, die dieser Logik eher affirmativ gegenüberstehen, und solche, die sich eher als permanenter Widerstand verstehen ließen.
Der »barrocke Ethos« ist der einzige, der sich als permanenter Widerstand gegen den Kapitalismus und dem Imperativ des Umwandelns von Gebrauchswerten in Tauschwerte verstehen lässt. 48 Echeverría schlägt eine Skala mit vier solcher modernen Lebensformen vor: Das »realistische Ethos« entspricht der vorbehaltlosen Identifikation mit den Ansprüchen der kapitalistischen Moderne. Anders das »romantische Ethos«. Es bezieht seine Wertmaßstäbe aus der Natur, orientiert sich daher eher am Gebrauchswert und nicht an dessen Umwandlung in Tauschwert. Trotzdem akzeptiert auch es den Kapitalismus. Gerade indem es danach trachtet, ihn in sein Gegenteil zu verwandeln, unterwirft es sich seiner Logik. Das »klassische Ethos« weiß, dass die Wirklichkeiten, die der Kapitalismus schafft, unzulänglich sind. Eine bessere Welt findet es aber nur in der »distanzierten« und »unbeteiligten« Dimension des Transzendenten. Dort wird der Ort der absoluten Werte vermutet. Es liegt auf der Hand, dass Echverría hier auch die großen moralphilosophischen Gesten des okzidentalen Denkens aufgehoben wissen will. Von ihnen aber distanziert er sich. Seine Sympathien sind eindeutig beim »barocken Ethos«. Das mag daran liegen, dass das barocke Ethos dasjenige ist, das am deutlichsten die »spanische Moderne« repräsentiert. Dennoch glaubt Echeverría nicht, dass die Rückkehr zum Eigenen eine Kritik an der Moderne möglich macht. Die »spanische« Moderne, womit auch die lateinamerikanische gemeint ist, repräsentiert diese Unmöglichkeit von Anfang an. Statt Rückzug in die Nische des Eigenen demonstriert sie wie kaum ein anderes Beispiel in der Geschichte der Menschheit das Primat der kulturellen und ethnischen mestizaje. Das »barocke Ethos« ist das einzige, das sich als permanenter Widerstand gegen den Kapitalismus und dem Imperativ des Umwandelns von Gebrauchswerten in Tauschwerte verstehen lässt. In ihm behält die »Spontaneität des Alltagslebens« unmissverständlich Oberhand über die transzendierenden und totalisierenden Gebärden der kapitalistischen Moderne (20).
49 Nun ist es selbstverständlich fragwürdig, ob sich eine solche normative Ausdeutung des »barocken Ethos« nicht der Gefahr der Idealisierung ausliefert. Andererseits ist aber gerade diese normative Dimension, die sich bei Echeverría weit öffnet, in theoretischer Hinsicht aufschlussreich, exemplifiziert sie doch, wie es aussehen könnte, wenn Aneignungsgeschichten den Platz von Moralphilosophie einnehmen. In jedem Fall wird aber deutlich, dass begriffliche Spekulation allein die Notwendigkeit von normativen Handlungsorientierungen nicht befriedigen kann. Vielmehr ist soziologische Sensibilität verlangt, die es erlaubt, narrative Anschlussstellen zu finden, die über die rein philosophischen Erzählungen hinausgehen. Nur wenn diese Aufgabe ernst genommen wird, kann auch deutlich werden, dass moralphilosophische Fragen in unserer globalen Moderne keineswegs durch trans-kulturelle Offerten zu lösen sind. Im Gegenteil, sie verweisen auf Orte, die zwischen den unterschiedlichen Erzählungen liegen.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 6 (2005).
Online: http://them.polylog.org/6/ako-de.htm
ISSN 1616-2943
© 2005 Autor & polylog e.V.

Literatur

Anmerkungen

1
Stephen Toulmin beschreibt diesen Wandel in der Grundeinstellung zur Ethik sehr anschaulich (vgl. Toulmin 1990, 135). go back
2
Dazu noch einmal Toulmin: »Only after the invention of ethical theory, when dogma acquired an imperative sense, were people finally convinced that moral questions have unique, simple and authoritative answers« (136). Der Relativismus ist das schon logisch zwingende Pendent dazu. go back
3
Dass für die mexikanische Alltags-Imago die Beziehung Mexikos zu anderen Ländern – vor allem den USA und Spanien – zentral ist, davon sind Intellektuelle wie Roger Bartra (1996) und Octavio Paz (1998) überzeugt. go back
4
Wenngleich immer wieder darauf hingewiesen wird, dass in Lateinamerika die Frage der Moderne direkt zur Identitätsfrage führt (Larrain 2000), lässt sich doch genauso nachweisen, dass die Frage nach den Werten ebenso heftig diskutiert wurde. Noch ein vor wenigen Jahren veröffentlichtes Buch von Luis Villoro legt von der Selbstverständlichkeit dieser Diskussionen Zeugnis ab (Villoro 1997). go back
5
Mittlerweile gibt es eine stark reduzierte deutsche Kurzfassung des im Original mehr als 650 Seiten umfassenden Werkes, die unter dem Titel Prinzip Befreiung. Kurzer Aufriss einer kritischen und materialen Ethik erscheinen ist (Dussel 2000). go back

Autor

Oliver Kozlarek (*1965 in Gelsenkirchen) studierte Lateinamerikanistik, Kommunikationswissenschaften, Philosophie und Soziologie an der Freien Universität Berlin, der New School University in New York und der Universidad Autónoma Metropolitana (UAM) in Mexiko-Stadt. 1997 promovierte er an der FU Berlin in Kommunikationswissenschaften, 2001 folgte die Promotion in Philosophie an der UAM. Als Gastprofessor unterrichtete er an der Universidad de Buenos Aires und an der Technischen Universität Chemnitz. Zurzeit hat er eine Forschungsprofessur an der Universidad Michoacana in Morelia (Mexiko) inne. Seine Forschungstätigkeit konzentriert sich auf Themen aus der Sozial- und politischen Philosophie sowie der Sozialtheorie, insbesondere die Internationalisierung des politischen und sozialen Denkens, Globalisierungstheorien, Kritische Theorie, Theorien der Moderne und soziologische Theorie. Zu seinen Publikationen zählen Universalien, Eurozentrismus, Logozentrismus. Kritik am disjunktiven Denken der Moderne (2000) und Crítica, acción y modernidad: Hacia una conciencia del mundo (2004).
Prof. Dr. Oliver Kozlarek
Universidad Michoacana de San Nicolás de Hidalgo
Facultad de Filosofía
Avenida Francisco J. Mújica, S/N
Ciudad Universitaria
58030 Morelia, Mich.
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