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Kontinentaleuropäische und angelsächsische Kultur |
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![]() Gianni Vattimo ist Professor für theoretische Philosophie an der Universität Turin und gilt als Hauptvertreter der philosophischen Postmoderne in Italien. Von 1999 bis 2004 war er als Kandidat der postkommunistischen Democratici di Sinistra (DS) Mitglied des Europaparlaments. ![]() |
1 | Ross / Weiß: Sie sind als Italiener im europäischen Parlament mit einer Vielzahl von anderen europäischen Sprachen und Kulturen konfrontiert. Und als Philosoph wahrscheinlich auch mit anderen Denkmodellen. Wie funktioniert der interkulturelle Dialog derzeit im Parlament? | ||
2 | Vattimo: Nun, ich würde sagen, dass innerhalb des Europäischen Parlaments der interkulturelle Dialog eine sehr untergeordnete Rolle spielt, da die Gründe, die uns hier zusammenführen, ziemlich allgemeiner Natur sind und so selten Konflikte oder tiefe Differenzen aufbrechen. Man muss bedenken, dass die zehn neuen Mitgliedsstaaten noch nicht dabei sind, so sind wir bisher nur die Gründungsländer Italien, Frankreich, Deutschland, die Benelux-Staaten und die Länder, die dann im Laufe der Zeit dazugekommen sind, so dass wir kulturell ziemlich homogen sind. Viel wird sich ändern, wenn die osteuropäischen Länder dazukommen. Und ich kann mir vorstellen, dass auch die Türkei, sollte sie in Zukunft einmal der Union beitreten, ein Ort interkultureller Begegnung sein wird. | |||
3 | Die einzige sehr tiefe Differenz, die man beobachten kann, auch wenn es zunächst eher mit Politik als mit Kultur zu tun zu haben scheint, ist derzeit eine Differenz, die sich auch in der Weltanschauung, im Kulturverständnis niederschlägt. Es geht um das, was die Amerikaner während des Irakkrieges den Unterschied zwischen Neuem und Altem Europa genannt haben; um die Differenz zwischen denjenigen Ländern, die der amerikanischen Politik und Kultur näher stehen – heute allerdings einer konservativen amerikanischen Politik und Kultur –, und denjenigen europäischen Ländern, denen noch an ihrer eigenen Tradition, zum Beispiel auf dem Gebiet der Sozialpolitik, liegt. Das habe ich tatsächlich erst während der Irakkrise realisiert. Denn anlässlich des Irakkrieges konnte man sehen, dass die angelsächsische Kultur, vor allem die nordamerikanische, aber auch die britische, die sich den Vereinigten Staaten sehr verbunden fühlt, natürlich eine in europäischer Tradition stehende Kultur ist, denn die Pilgrim Fathers mussten die Freiheitsrechte in den Vereinigten Staaten suchen. Aber dann hat eine beträchtliche Transformation stattgefunden aufgrund der Grenzsituation, in der sich die Vereinigten Staaten wiederfanden. | |||
Der Beitrag erscheint zugleich in:![]() Nr. 12 (2004) zum Thema: Das zweite Europa |
4 | Nehmen wir beispielsweise das Staatsbewusstsein. Abgesehen von uns Italienern, die wir glauben, wenig Staatssinn zu besitzen, die wir glauben, dass alles öffentliche Eigentum missachtet werden kann, weil es ja dem Staat gehört und also niemandem; für uns Italiener gilt also noch ein anderer Diskurs. Also abgesehen von Italien stellte der Staat in Europa immer ein überaus mächtiges Moment des kollektiven Lebens dar. Der Unterschied zu den USA besteht nun darin, dass der Staat dort gewissermaßen erst später angekommen ist; der Sheriff tauchte erst auf, als alle Pioniere schon angekommen waren und sich ihren Besitz abgesteckt hatten. Der Sheriff musste dann höchstens noch die Auseinandersetzungen zwischen Privatpersonen moderieren. Dieser Zug scheint mir in der amerikanischen Kultur immer lebendig geblieben zu sein, denn die Amerikaner sind immer noch viel »regionalistischer« als wir Europäer, insofern die Bürger von Ohio sich in erster Linie als Bürger von Ohio verstehen, die New Yorker als New Yorker und so weiter. | ||
Das Gespräch fand am 10. März 2004 in Straßburg statt. | 5 | Und zweitens sind sie mehr am Privaten orientiert. Der Staat ist lediglich dazu da, im Notfall einzuspringen und die allgemeinere Ordnung zu garantieren, also sich um Außenpolitik, Justiz und Militär zu kümmern. Aber alles andere ist sehr ortsgebunden und privat organisiert. Das schlägt sich dann in den unterschiedlichsten Dingen nieder, zum Beispiel haben wir in Europa einen völlig anderen Begriff von sozialer Solidarität. Oft wird uns vorgeworfen, alles vom Staat zu erwarten, nach dem Motto: Ist da ein Armer? Soll sich der Staat um ihn kümmern! Die Amerikaner würden in einem solchen Fall höchstens eine Stiftung gründen, was natürlich auch dadurch begünstigt wird, dass sie die Kosten von der Steuer absetzen können. Das nur als Beispiel. Aber es gibt Unterschiede, die mir vor allem in den Diskussionen über die Politik Bushs bewusst geworden sind. Als die amerikanische Regierung noch – in Anführungszeichen – »linker« war, war mir dies nicht so klar, aber seit Bush an der Macht ist und wir das Problem des Krieges und der Sozialpolitik haben … Die amerikanischen Neokonservativen haben ihre Ideologie ja sehr explizit dargelegt, während die Demokraten in den USA da immer etwas vorsichtiger waren. | ||
6 | Grundsätzlich befürchte ich, dass die amerikanische Politik sich gar nicht sehr von der Bushs unterscheiden kann, selbst wenn es einen demokratischen Präsidenten gäbe. Und zwar aus ganz bestimmten inhaltlichen Gründen: Amerika ist eine Supermacht, besitzt das mächtigste Militär der Welt und kontrolliert die gesamte Kommunikation unseres Planeten. Da ist es schwierig, nicht imperialistisch zu sein. Aber selbst dann gibt es immer noch unterschiedliche Formen. In dieser ganz bestimmten weltpolitischen Situation glaube ich gelernt zu haben, was die europäische Identität ausmacht. | |||
Europäische Identität im Werden und Wandel |
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![]() Das Europaparlament in Straßburg |
7 | Ross / Weiß: Was macht denn diese Identität aus? Vor allem in Bezug auf die Grenzen Europas: Da ist vor allem die Osterweiterung interessant, die sich ja hauptsächlich im Bereich der Wirtschaft vollzieht. Gibt es eine Wiederkehr des europäischen Imperialismus? | ||
8 | Vattimo: Wie soll ich sagen? In der Vergangenheit sind Vereinigungen von Territorien oder politischen Institutionen freilich immer entweder militärisch, ökonomisch oder in einer Mischung aus beidem vollzogen worden. Schon allein deshalb stellt das europäische Projekt, und das sage ich auch als Philosoph, etwas sehr Interessantes dar, da sich Europa ohne militärische Eroberungen und gewissermaßen ohne Gewalt zu konstituieren sucht. Denn die ökonomische Gewalt, die hier im Spiel ist, ist etwas anderes als die militärische Gewalt, und es ist viel schwieriger, diese ökonomische Gewalt zu verhindern. Was ich persönlich – als einer, der links steht – in diesem Zusammenhang beklage, ist, dass Europa vor allem als Garant des freien Marktes funktioniert, viel weniger aber als Garant der sozialen Rechte. Das merke ich jedes Mal, wenn es darum geht, im Parlament Entscheidungen herbeizuführen. Zum Beispiel können wir im Europaparlament Berichte verabschieden, in denen wir uns dafür aussprechen, dass es in allen Ländern die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften geben soll, aber in Italien werden sie dann nicht eingeführt, weil das nationale Parlament von Gruppen dominiert wird, die dagegen sind. Wenn es hingegen darum geht, Strafen wegen der Milchquoten zu verhängen, werden diese sofort ratifiziert. Kurz und gut: Europa funktioniert heute sehr gut als Garant des freien Binnenmarktes. Aber ich frage mich, ob ich ein Partisan des freien Marktes bin. Nicht wirklich. (Lacht.) Und daher werde ich auch skeptisch, was die europäische Identität anbelangt. | |||
9 | Ich glaube, dass es mehr im Interesse der neuen Beitrittsländer als in unserem ist, dass sie nach Europa kommen. Denn Europa stellt ihnen Bedingungen. Wir sagen: Wenn ihr nicht diese und jene Bedingung erfüllt … Dann versuchen die Beitrittsländer, diese zu erfüllen. Es verhält sich also nicht so, dass wir sie erobern würden, vielmehr erobern sie sich das Recht, nach Europa zu kommen. Aber ob es Ihnen gut tun wird? – Das ist eine andere Frage. | |||
10 | Grundsätzlich glaube ich, dass ein Grund für die ökonomische und militärische Stärke der USA, aber auch anderer heranwachsender Mächte, wie etwa China, in der Größe ihres Binnenmarktes liegt. Europa hatte immer kleine Länder mit unzähligen Grenzen und Zöllen. Das hat dem Erstarken unserer Wirtschaft geschadet. Grundsätzlich bin also auch ich davon überzeugt, dass die Schaffung eines größeren Binnenmarktes ein dynamisches Element darstellt, aber da ich keineswegs davon überzeugt bin, dass eine Gesellschaft des freien Markes mein Ideal darstellt, halte ich weiter an der Idee fest, den Wirtschaftsmarkt nur deshalb zu vergrößern, um das politische Europa zu stärken, in einer Welt von Großmächten. | |||
»Ich bin ich der Meinung, dass Grenzen dazu da sind, um abgeschafft zu werden, so wie die Kirchen dazu da sind, um verlassen zu werden, und Familien, um sie zu verraten …« | 11 | Natürlich bin auch ich etwas antiamerikanisch geworden. Wer kann die amerikanische Übermacht ausgleichen? China – und Europa; wenn Europa es schafft, eine stärkere einheitliche Struktur zu werden. Wenn ich, um nicht zu einer reinen amerikanischen Kolonie zu werden, eine etwas liberalere Wirtschaftspolitik treiben muss, als wir sie bisher hatten, kann ich das akzeptieren, aber nur als Mittel zum Zweck, nur zur Selbstverteidigung, nicht aber als positives Ideal. Daher zähle ich auf andere sich abzeichnende Entitäten. Afrika ist leider immer noch in einem desolaten Zustand und besitzt kaum Institutionen, weil wir nicht zugelassen haben, dass sie entstehen. Aber Südamerika kann zu einem weiteren Bezugspunkt werden. | ||
12 | Von der Erweiterung erwarte ich mir daher Vorteile sowohl für Europa als auch für die Beitrittsstaaten. Ich stelle fest, dass sich diese nicht gegen einen Beitritt wehren, sondern nach Europa wollen. Natürlich ist das ein Experiment … Wir Italiener zum Beispiel, was haben wir von der Gemeinschaftswährung? Einerseits sicher eine Verteuerung der Preise, andererseits aber auch Währungsstabilität, die es uns erlaubt, ein etwas weniger chaotisches Leben zu führen, denn vorher hatten wir eine galoppierende Inflation. Vielleicht kann die Erweiterung auf die neuen Länder einen ähnlichen Effekt haben. Es wird nicht alles nur positiv sein, aber das Positive wird das Negative, die Probleme, überwiegen. Was schließlich die Grenzen anbelangt, so bin ich der Meinung, dass Grenzen dazu da sind, um abgeschafft zu werden, so wie die Kirchen dazu da sind, um verlassen zu werden, und Familien, um sie zu verraten … | |||
13 | Ross / Weiß: Wie meinen Sie das? | |||
14 | Vattimo: Die Identität gibt es, um überwunden zu werden. Daher glaube ich, dass die Auflösung der Grenzen auch der Kultur nutzen wird. Und die nationalen Kulturen? Werden wir alle nur noch englisch sprechen? Ich hoffe, dass es in dieser Angelegenheit einen Mechanismus gegenseitigen Ausgleichs geben wird. Die USA zum Beispiel haben zwar Englisch als offizielle Sprache, aber mittlerweile auch Spanisch. Wenn einer nach Amerika geht und Spanisch spricht, so verstehen es fast alle; und auch das Englisch, das man dort spricht, ist nicht mehr das Englisch der Engländer, es ist ein Englisch, das sogar ich spreche … daher bin ich auch nicht sehr pessimistisch, was die Zukunft der nationalen Sprachen und Kulturen anbelangt. | |||
Die Grenzen Europas |
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15 | Ross / Weiß: Bis wohin, kulturell gesehen, sollte Europa reichen? Wo fängt es an, wo hört es auf – Ihrer Meinung nach? Und vor allem: Was ist Nicht-Europa und warum? Haben Sie Kriterien dafür? | ||
16 | Vattimo: Das ist eine sehr schwierige Frage für jemanden, der dabei ist, Europa aufzubauen. Wir verstehen ein geschichtliches Gebilde aufgrund der Tatsache, dass wir ihm angehören, dass wir uns in ihm befinden und es verändern, während wir es zu verstehen suchen. Daher ist es schwierig zu sagen, Europa ist dies oder jenes. Vielmehr können wir lediglich sagen, was Europa bisher für uns bedeutet hat, und einige Elemente zusammentragen: das griechische Erbe, das jüdisch-christliche Erbe, ein Erbe, das wir allerdings wie alles Überkommene ständig benutzen, so dass wir nicht wissen, inwieweit wir es verändert bzw. in anderes eingebracht haben. Allerdings können wir von diesem Erbe ausgehend auch sagen, was uns heute nicht Europa zu sein scheint. In dieser Hinsicht scheint uns Europa weder das von den Amerikanern transformierte europäische Erbe zu sein, noch eine ganze Reihe auch territorial entfernter Gebiete. Die Rede von Territorialität ist in Bezug auf Europa äußerst problematisch, denn Europa erstreckt sich über das Meer bis zum amerikanischen Kontinent, und auch auf der anderen Seite kennt es keine natürlichen Grenzen – den Ural gibt es und gibt es zugleich nicht. Wenn wir uns also fragen, worin die europäische Identität besteht, entdecken wir, dass es sich dabei um eine eher kulturelle und weniger territorial oder ethnisch definierte Identität handelt. Es gibt keinen Grund, Kasachstan von Europa auszuschließen. Auch nicht die Türkei. Es gibt keinen objektiven ethnischen, sprachbedingten oder religiösen Grund, irgendein Land von Europa auszuschließen. | |||
17 | Allerdings gibt es praktische Grenzen. Die Grenzen Europas sind auch deshalb ein Problem, weil sich Europa bis dorthin erstreckt, wo es kann, bis dorthin, wo die Kriterien von Maastricht erfüllt sind, wo es keine Todesstrafe gibt usw. Als wir der Türkei die Bedingung gestellt haben, die Todesstrafe abzuschaffen, haben wir einen Kulturdiskurs geführt. Aber Europa kann sich nur bis dahin erstrecken, wo es die europäischen Partner wollen. Nehmen wir Russland als Beispiel. Berlusconi hat oft davon gesprochen, Russland in die europäische Union aufzunehmen, und ich selbst habe einmal während einer Diskussionsrunde den Zorn Romano Prodis auf mich gezogen, weil ich die Aufnahme Russlands vorgeschlagen hatte. Ich sagte, dass Europa, weil es keine vorgegebenen geografischen Grenzen und auch keine starken kulturellen Grenzen aufweist, sich bis dahin erstrecken kann, wo es Völker vorfindet, die dieselben Werte teilen. Aber da Europa ein Gleichgewicht unterschiedlicher Völker darstellt, würde der Beitritt Russlands, das ein extrem bevölkerungsreiches Land ist, das bestehende Gleichgewicht allein schon numerisch zerstören. Das wäre so ein praktischer Grund für eine Begrenzung Europas. Heute will die Mehrheit der europäischen Länder sich einfach keinen so großen Gast ins Haus holen, wie es Russland wäre. Das gilt in geringerem Maße natürlich auch schon für Polen oder die Türkei: Beide sind bevölkerungsreiche Länder, und sie bringen die Gefahr mit sich, das bestehende Gleichgewicht zu stören. Da es keine objektiven Gründe dafür gibt zu sagen, Europa reiche lediglich bis da oder dorthin, gibt es auch keine objektiven Gründe zu sagen, weil das dort Europa ist, müssen wir es aufnehmen. | |||
Für ein Gleichgewicht internationaler Machtpole |
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»Ich bin der Überzeugung, dass es besser ist, auf eine multipolare Welt hinzuarbeiten, in der sich ein gewisses Gleichgewicht zwischen der Macht der Gesprächsteilnehmer einstellt.« | 18 | Ross / Weiß: Die Frage ist also nicht, bis wohin es reicht, sondern wann der Aufnahmeprozess beendet ist? | ||
19 | Vattimo: Zu Beginn meines ersten Wahlkampfes 1999 wiederholte ich, dass Europa die Keimzelle jenes kosmopolitischen Staates werden könnte, von dem Kant spricht – eben weil es keine natürlichen territorialen Grenzen hat und vielmehr eine kulturelle und also künstliche Einheit darstellt. Dagegen glaube ich heute, dass es paradoxerweise in einem Weltstaat schwieriger wäre, den Frieden zu sichern. Denn wo es eine starke zentrale Macht gibt, werden immer auch lokale Rivalitäten und Autonomiebedürfnisse geweckt, die dann fatalerweise in Terrorismus münden – sehen wir uns die heutige Welt an! In den Jahren des Kalten Krieges – auch wenn es den Russen und den Ländern Osteuropas schlecht ging – gab es doch viel mehr Frieden als heute. Paradoxerweise ist es so. Aber was heißt das? Vielleicht muss das Ideal eines Weltstaates, einer einzigen weltweiten politischen Einheit, wie es ursprünglich die UNO sein wollte, aber nicht ohne Grund nie wurde – vielleicht muss dieses Ideal durch die Idee der Endlichkeit begrenzt werden. Ich bin mittlerweile, sowohl von einem abstrakt-rationalen, als auch von einem praktisch-konkreten Standpunkt aus, der Überzeugung, dass es besser ist, auf eine multipolare Welt hinzuarbeiten, in der sich ein gewisses Gleichgewicht zwischen der Macht der Gesprächsteilnehmer einstellt. | |||
20 | In den 50er Jahren zirkulierte unter den Linken in Italien der Spruch »Der Schnauzbart muss kommen!«, das heißt: Eines Tages wird Stalin kommen, der damals den Traum einer anderen möglichen Ordnung verkörperte. Es war die Idee von einer anderen möglichen Welt. Was sagen die Globalisierungsgegner heute? Eine andere Welt ist möglich, eine andere als diese. Wir wissen zwar nicht genau, was für eine, aber … Wir haben auch diesen Traum gehabt. Zuerst Stalin, dann Mao, dann Castro, das heißt, die Idee einer möglichen Alternative. Dabei war es nicht so, dass uns diese Alternativen ruhig gestellt hätten, vielmehr beflügelten sie unsere politische Phantasie im Protest gegen die bestehende Ordnung. Und natürlich hätte niemand von uns tatsächlich unter Stalin leben wollen. Wir kannten ihn ja gar nicht, und so gefiel uns die Vorstellung eines »guten Diktators«, der die Dinge in Ordnung brachte – was natürlich nicht stimmte. Dieser Spruch aus den 50ern über den »Schnauzbart« ist mir wieder eingefallen, weil eine friedliche Welt wahrscheinlich wirklich eher eine Welt der Gleichgewichte ist als eine Welt der Einheit. | |||
21 | So bin ich auch geneigt, im Terrorismus die Entsprechung zum amerikanischen Imperialismus zu sehen. Da man nichts gegen die bestehende Ordnung tun kann, kann man nur Bomben in irgendwelche Züge legen oder Selbstmordattentäter losschicken, denn es gibt keine Alternative, so denkt man. Die Idee einer rationalen Einheit der Welt, deren Keimzelle Europa sein könnte, insofern es ein künstliches Gebilde darstellt, fasziniert mich immer noch, aber mittlerweile sehe ich auch die Gefahr einer übertriebenen Erweiterung, der dann das Gegengewicht fehlen würde. Was mir vorschwebt, ist das Modell Montesquieus in kosmopolitischer Hinsicht, also Gleichgewichte. Innerhalb der Staaten haben wir heute natürlich das Gleichgewicht zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Aber ich glaube, dass diese Idee eines Gleichgewichts auch international zwischen Machtpolen gelten sollte. | |||
Über das »christliche Abendland« hinaus |
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»Das Abendland muss sich zum Vorreiter einer größeren Einheit machen, in der es selbst aufgeht, wie die Hefe im Sauerteig, von dem die Evangelien erzählen.« | 22 | Ross / Weiß: Im Zusammenhang mit einem eventuellen EU-Beitritt der Türkei: Was halten Sie vom Begriff des »christlichen Abendlandes«, der eine Zeitlang eine gewisse Rolle gespielt hat? | ||
23 | Vattimo: Ich denke, das christliche Abendland sollte wirklich Abendland werden, in jenem Sinn, in dem Heidegger von »Abendland« spricht, also als Land, das sich darauf einlässt unterzugehen. Das gilt auch für das Christentum: Es scheint mir dazu bestimmt unterzugehen, sich aufzulösen, um nicht zu sterben. Was bedeutet das für die Diskussion um die ausdrückliche Erwähnung des Christentums in der europäischen Verfassung? Ich bin davon überzeugt, dass die europäische Verfassung zutiefst christlich ist, zutiefst christlich sein muss; die freiheitliche Demokratie ist ja nicht das Produkt der griechischen Kultur. Die griechische Demokratie war das Geschäft einiger weniger, die sich auf der Agora trafen, während alle anderen für sie arbeiteten. Ich würde mir also nicht träumen lassen, die moderne Demokratie allein auf die Griechen zurückzuführen, denn die moderne Demokratie geht auf die Ideale der Gleichheit und der Brüderlichkeit zurück, und das sind christliche Ideale. Und gerade um diesen Idealen treu zu bleiben, um sie zu verwirklichen, sollte man das Christentum nicht ausdrücklich in der Verfassung erwähnen. Warum sollte ich gerade den Hinweis auf das Christentum als Konfliktstoff zulassen? Die einen wollen die Erwähnung nicht, die Moslems sind dagegen, also lass ich es. | |||
24 | Das Christentum ist bereits in den Prinzipien, in den Rechten verkörpert, die wir in der europäischen Verfassung beschließen werden. In dieser Hinsicht gilt für das Abendland dasselbe wie für das Christentum: Solange es sich als »christlich« im Gegensatz zu »buddhistisch« oder »islamisch« bezeichnet, bleibt das Abendland immer noch eine Identität, die sich noch nicht aufgelöst hat. Das gilt sogar für die Kirche. Deshalb sage ich, dass das »schwache Denken« die einzige Philosophie darstellt, die die Kirche noch retten kann. Denn entweder gibt die Kirche ihre dogmatische Starrköpfigkeit auf, die nichts mit der eigentlichen Botschaft des Evangeliums – mit der Beziehung zu Gott, der caritas und der Brüderlichkeit – zu tun hat, oder sie wird verschwinden. Das Christentum hat eine universelle Berufung, aber gerade deshalb auch eine Berufung zur Auflösung im Sinne Joachims von Fiore. Dasselbe gilt für das Abendland. Das Abendland muss sich zum Vorreiter einer größeren Einheit machen, in der es selbst aufgeht, wie die Hefe im Sauerteig, von dem die Evangelien erzählen. | |||
Rechte und Werte im vereinten Europa |
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»Heute muss ich mich anstrengen, an Europa zu glauben. Ich glaube zu glauben. Hoffentlich glaube ich.« | 25 | Ross / Weiß: Ganz konkret: In der EU – in Österreich – bekommen türkische Staatsbürger Asyl, weil sie von der Türkei politisch verfolgt werden und ihnen unter anderem Folter droht. Ist das für eventuelle Beitrittsverhandlungen nicht die wichtigere Frage als die nach dem Christentum? | ||
26 | Vattimo: Das ist ein Problem, das in den einzelnen Beitrittsverhandlungen mit diesen Staaten gelöst werden muss. Es geht darum, einen einheitlichen Werte- und Rechtsraum zu schaffen, aber das ist ja schon mit dem Österreich Haiders schwierig. Gegen Österreich wurden damals Maßnahmen beschlossen, die meiner Meinung nach falsch waren, weil sie nur noch mehr Widerstand hervorgerufen haben. Zurück zu Ihrem Beispiel: Solange es türkische Staatsbürger gibt, die nach Europa fliehen, weil sie von der Türkei verfolgt werden, kann die Türkei nicht in die Europäische Union aufgenommen werden. Das ist klar. Leider sind die Rechtsstandards aber auch schon innerhalb der Union unterschiedlich. Es gibt weniger eklatante, aber ebenso schwere Missstände. Nehmen wir Italien: Haben wir dort Pressefreiheit oder nicht? Ich vertrete die These, dass die italienischen Zustände, wo der Regierungschef gleichzeitig der Eigentümer aller Medien ist, demokratiepolitisch sehr bedenklich sind. Wir sind zwar nicht so weit, ins Ausland fliehen zu müssen, aber wie sollen wir da mit dem europäischen Recht vorgehen? | |||
27 | Was ich sagen will, ist: Es gibt einige Aufsehen erregende Fälle. Wir können kein Land in die Europäische Union lassen, das seine Bürger im Namen von Gesetzen verfolgt, die unseren Standards gemäß widerrechtlich sind. Dafür gibt es die Europäische Menschenrechtskonvention, auf deren Einhaltung wir überall bestehen müssen. Und dann gibt es Länder, wo die Missstände nicht ganz so augenfällig sind, wie eben Italien. In Italien stehen uns Wahlen bevor, in denen der wichtigste Faktor, um gewählt zu werden, der persönliche Reichtum des Kandidaten ist. Das Problem der Angleichung der nationalen Gesetzgebungen existiert also schon jetzt innerhalb der Union, und natürlich wird es nicht einfacher dadurch, dass man Länder zulässt, in denen noch größere Missstände herrschen. Wenn wir von Europa als einem Freiheits- und Rechtsraum sprechen, dann sprechen wir von allgemein anerkannten Gesetzen, von internationalen Haftbefehlen, und dabei handelt es sich schon jetzt um eine riesige Aufgabe. Und mit den weiteren Kandidatenländern wird man sehr harte Verhandlungen führen müssen. | |||
28 | Da Europa aber nicht nur eine Institution ist, sondern auch eine Regierung hat, das heißt politisch bestimmt wird, kommt es immer darauf an, wie die Mehrheitsverhältnisse in Europa aussehen. Es besteht die Gefahr, dass die europäischen Mehrheiten bestimmte Rechtsbrüche tolerieren. Für uns Italiener ist es heute schwierig, in Europa Gehör zu finden, wenn wir auf die unglaubliche Übermacht Berlusconis aufmerksam machen wollen, weil die Europäische Volkspartei Berlusconis Verbündeter ist und die Mehrheit im Parlament stellt. Europa ist nicht nur die Institution Europa, sondern auch die Politik, die die Mehrheit in Europa diktiert. Die Verfassung und weitere Erweiterungen werden vom Ministerrat vorangetrieben, und der wird von den Regierungen gestellt, die 1999 mehrheitlich sozialistisch waren, heute aber mehrheitlich konservativ sind. Wenn Sie mich also direkt fragen, laufen Sie Gefahr, dass ich Ihnen sage, dass ich kaum mehr an Europa glaube, aber ich sage es nicht. Heute ist es viel mehr ein Glaubensbekenntnis für mich als noch vor fünf Jahren. Heute muss ich mich anstrengen, an Europa zu glauben. Ich glaube zu glauben. Hoffentlich glaube ich. | |||
Europäische Kommission: Sprachen in Europa. ![]() Heinz Pohl: Die Sprachen Europas. ![]() europa-digital: Die EU-Sprachenpolitik. ![]() |
29 | Ross / Weiß: Wird das erweiterte Europa Pluralität zulassen? Kulturelle Pluralität? | ||
30 | Vattimo: Wir werden viel mehr slawische Sprachen haben als heute. Es wird also einen weiteren Kulturblock in Europa geben. Bis jetzt sind wir, was die Sprachen anbelangt, entweder Lateiner oder Germanen, und dann gibt es noch ein paar kleinere Sprachen, wie das Finnische. Das heißt, bis jetzt sind wir ziemlich homogen. Nach der Erweiterung wird es interessanter werden, aber auch schwieriger. Eines der größten Probleme, das die Union derzeit mit der Erweiterung hat, ist, dass es nicht genug Übersetzerkabinen gibt. Man wird indirekte Übersetzungen machen müssen. Das heißt, es wird zwei oder drei Hauptsprachen geben, auf die sich alle beziehen, und aus denen dann wieder rückübersetzt wird. Selbst wenn das Englische die Hauptverkehrssprache werden würde, wie es zum Teil schon der Fall ist, würde dies für uns, die wir ein bisschen Englisch, ein bisschen Französisch und ein bisschen Deutsch können, das Leben nicht sonderlich erschweren. Was da auf uns zukommt, ist auch eine Transformation der menschlichen Subjektivität. Ich frage: Die Kinder der EU-Beamten, die sofort eine zweite Sprache neben ihrer Muttersprache lernen, was für Menschen werden das sein? – Einige Dinge werden verloren gehen, aber andere werden gefunden werden. | |||
31 | Ross / Weiß: Wie beurteilen Sie als Philosoph die Arbeit des Verfassungskonvents? | |||
32 | Vattimo: Soviel ich davon mitbekommen habe, hat der Konvent eine bemerkenswerte Ordnungsarbeit geleistet. In diesem Zusammenhang war auch die Bürgerrechtscharta von Nizza von großer Bedeutung. Diese stellt ja gewissermaßen den grundlegenden Teil der europäischen Verfassung dar, während der Rest eine Frage von institutionellen Mechanismen ist. Paradoxerweise gab es mit dem Nizza-Papier keine Probleme. Woran alles gescheitert ist, ist der Wahlmechanismus, nach dem zukünftig Entscheidungen getroffen werden sollen, ob einstimmig, was bedeuten würde, dass gar nichts mehr weiterginge; oder mit doppelter Mehrheit von 50% der Staaten und 60% der Bevölkerung. Die europäische Verfassung scheint mir auch von einem philosophischen Standpunkt aus interessant, insofern sie neue Elemente enthält: die sozialen Rechte, die in den traditionellen Verfassungen nicht kodifiziert sind, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Sozialleistungen und so weiter, so dass diese Verfassung wirklich eine bemerkenswerte Leistung darstellt. | |||
33 | Ich freilich wäre dafür, auch noch den Artikel 11 aus der italienischen Verfassung mit in die europäische aufzunehmen: denjenigen, der den Krieg als Mittel der Politik verbietet, denn letztendlich ist es gar nicht so schwer, sich eine Welt ohne Krieg vorzustellen. In gewisser Hinsicht müsste man also mutiger sein. Aber das ist das alte Problem, das schon Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen schildert: ein Schiff während der Fahrt zu reparieren. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Verfassung in zwei Teile zerfällt, in einen Teil, in dem gewisse Rechte festgeschrieben werden, die dann niemanden mehr interessieren, und in einen zweiten Teil, in dem es um die Mechanismen, um Souveränität, um den Status Quo, um Eitelkeiten geht. Aber worauf es ankommt, sind die Rechte, in denen sich auch die Weltanschauung manifestiert, und da glaube ich, dass Europa vor einem großen Schritt steht. | |||
34 | Ross / Weiß: Herzlichen Dank für das Gespräch. |
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