polylog
themen · im gespräch
themen literatur agenda archiv anthologie kalender links profil

Gewalt, Politik und Menschenrechte

Shirin Ebadi im Gespräch mit Nermeen Shaikh

Inhalt

englishenglish
españolespañol

Der Gerechtigkeit verpflichtet

Ebadi

Shirin Ebadi
ist iranische Anwältin und Menschenrechtsaktivistin. 2003 wurde sie für ihren Einsatz für Demokratie und Menschenrechte mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

external linkBiographie
1 Shaikh: Was hat Sie für die Sache der Menschenrechte interessiert?
2 Ebadi: Jeder wird mit bestimmten Eigenschaften geboren. Ich hatte während meiner Kindheit immer ein Gefühl, fast wie eine Berufung, das ich damals nicht benennen konnte, doch später wurde mir klar, dass es eine Suche nach Gerechtigkeit war, eine gewisse Verpflichtung zur Gerechtigkeit. Als ich ein Kind war, versuchte ich zwangsläufig, wann immer ich Kinder kämpfen sah, den Unterlegenen, den Schwächsten zu verteidigen. Dabei wurde ich sogar ein paar Mal selbst verprügelt!
3 Diese natürliche Neigung brachte mich dazu, Recht als mein Studiengebiet zu wählen. Außerdem war mein Vater selbst Professor für Rechtwissenschaft. Und es war auch diese natürliche Neigung, Gerechtigkeit zu suchen, die mich nach dem Studienabschluss dazu veranlasste, Richterin zu werden. Ich dachte, wenn ich Richterin wäre, könnte ich noch besser Gerechtigkeit praktizieren.
4 Nach der Revolution hieß es, dass Frauen gemäß dem Islam keine Richterinnen sein könnten. Deshalb entschloss ich mich, vorzeitig zurückzutreten, sobald das für mich möglich wurde. Danach beantragte ich bei der iranischen Anwaltskammer eine Zulassung als Rechtsanwältin. Ich wurde über sieben Jahre hinweg abgelehnt, obwohl während der gleichen Zeit anderen die Zulassung durchaus bewilligt wurde. Der Grund dafür war, dass ich schon immer eine scharfe Zunge hatte. Nachdem ich endlich die Zulassung als Anwältin bekommen hatte, wusste ich genau, wohin es mich zog, nämlich zur Verteidigung der Menschenrechte als ein Mittel, um Gerechtigkeit zu erreichen.
5 Shaikh: Mit welcher Art von Menschenrechtsarbeit hatten Sie hauptsächlich zu tun?
6 Ebadi: Ich war sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der Menschenrechte aktiv. Ich habe elf Bücher veröffentlicht, die meisten davon mit dem Schwerpunkt Menschenrechte: Frauenrechte, Kinderrechte, vergleichendes Kinderrecht, minderjährige Arbeiter, Geschichte und Dokumentation der Menschenrechte im Islam, Flüchtlingsrecht und die Rechte im Rahmen von Kunst und Literatur, insofern sie die Meinungsfreiheit betreffen.
Das Interview wurde am 8. Juni 2004 in New York geführt. 7 In der Praxis war ich ebenfalls aktiv. Zusammen mit ein paar anderen gründete ich eine Vereinigung für die Verteidigung der Rechte des Kindes, mit dem Ziel die Internationale Konvention über die Rechte des Kindes im Iran zu verbreiten und zu fördern. Glücklicherweise war diese NGO recht erfolgreich. Ich konnte mit der Hilfe einer Reihe von Anwälten noch eine andere NGO gründen. In dieser NGO bieten wir kostenlose rechtliche Unterstützung bei politischen Prozessen und für Leute an, die aus ideologischen Gründen ins Gefängnis gesperrt wurden. Wir bringen Missstände zur Sprache und veröffentlichen Erklärungen in Bereichen, wo Menschenrechte verletzt wurden. Nach dem Nobelpreis habe ich noch eine andere NGO für Minenräumung gegründet.

Islam and Human Rights

8 Shaikh: Warum wird ihrer Meinung nach der Islam in aktuellen Debatten häufig als unvereinbar mit den Menschenrechten gesehen?
9 Ebadi: Leider ist die Menschenrechtslage in den meisten islamischen Ländern nicht sonderlich gut. Wenn die Leute gegen Fälle von Menschenrechtsverletzungen protestieren, wird ihnen erzählt, dass der Islam und die Menschenrechte in ihrem Wesen unvereinbar seien. Es wird gefordert, dass die Regierungen islamische Regeln und Bestimmungen beachten. Wenn sie dies tun, wenn sie sich also auf die Religion berufen, versuchen diese Regierungen klarerweise, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die protestieren. Doch das ist absolut falsch. Islamische Studien zeigen uns, dass der Islam nicht unvereinbar mit den Menschenrechten ist.
10 Andererseits sind die Verfechter der These des so genannten »Kampfs der Kulturen« ja gerade daran interessiert, den Fall zu konstruieren, dass Islam und Menschenrechte unvereinbar sind. Wenn sie dieses Argument anführen, unterstellen sie, dass Islam und Demokratie unvereinbar seien und dass der Kampf zwischen den westlichen und östlichen Zivilisationen unvermeidbar sei. Um sich ihre Aufgabe leichter zu machen, greifen sie auf Ausdrücke wie »islamischer« Terrorismus zurück. Eine einzelne schreckliche Tat, die von einem Moslem ausgeführt wird, ist ihnen zufolge das Ergebnis der Tatsache, dass er Moslem ist. Wohingegen sich aber natürlich jeder an unrechtmäßigen Handlungen beteiligen kann. Um ein Beispiel zu geben: In Bosnien gab es welche, die schreckliche Dinge taten, aber wir haben nicht gesagt, dass diese Taten im Namen der Christenheit verübt worden wären oder dass die Christenheit verantwortlich wäre. Oder in Palästina, in dieser Sache: Die israelische Regierung hat keine einzige UN-Resolution, die bislang verabschiedet wurde, umgesetzt, doch wir geben nicht dem Judentum die Schuld für diese Untätigkeit. Deswegen ist es für uns unverständlich, warum jeder in der Welt anfängt, wenn eine islamische Gruppe für einen Gewaltakt verantwortlich ist, darüber als islamischen Terrorismus zu sprechen.
11 Diejenigen, die glauben, dass Demokratie und Islam unvereinbar seien, fallen also in folgende Kategorien: erstens, westliche Befürworter von Krieg und, zweitens, einige islamische Regierungen, die zugleich diktatorische Regimes sind, die die Rechte ihrer Leute verletzen (und dafür eine Rechtfertigung suchen).

Das Verhältnis von Religion und Kultur

»Kultur ist tiefer verwurzelt als Religion. Mehrere Faktoren wirken bei der Bildung der Kultur einer Nation zusammen, einer davon ist Religion.« 12 Shaikh: Sie haben einmal gesagt, dass »auch die diskriminierende Misslage der Frauen in islamischen Staaten, ob auf dem Gebiet des Zivilrechts oder im Bereich sozialer, politischer und kultureller Gerechtigkeit, ihre Wurzeln in der patriarchalen und männerdominierten Kultur hat, die in diesen Gesellschaften vorherrscht, und nicht im Islam«. Wie verstehen Sie den Unterschied zwischen Kultur und Religion?
13 Ebadi: Kultur ist tiefer verwurzelt als Religion. Mehrere Faktoren wirken bei der Bildung der Kultur einer Nation zusammen, einer davon ist Religion. Wie jede andere Ideologie ist Religion offen für Interpretation. Es ist gerade die Kultur einer Gesellschaft, die ihre eigene Interpretation dessen bietet, was Religion ausmachen sollte. Zum Beispiel gab es mehrere Interpretationen des Sozialismus: Wurde die frühere Sowjetunion in der gleichen Art wie China geführt, wenn man bedenkt, dass beide einer ähnlichen Ideologie folgten? Wird Kuba in der gleichen Weise geführt, wie es in Albanien unter dem Sozialismus der Fall war?
14 Daher sind die Interpretationen einer Ideologie oder einer Religion (einschließlich des Islams) nicht kennzeichnend für irgendeine einzelne Gesellschaft. Jegliche Ideologie ist offen für verschiedene Interpretationen.

Politik auf der Suche nach Demokratie und Gerechtigkeit

»Terrorismus entsteht aus zwei grundlegenden Quellen: Die eine ist das Vorurteil. Vorurteile resultieren aus Ignoranz und fehlender Bildung. Wenn wir versuchen, das Analphabetentum weltweit zu beseitigen, machen wir in der Tat einen Schritt dahin, den Terrorismus zu kontrollieren und zu bekämpfen. Die zweite Wurzel des Terrorismus ist Ungerechtigkeit. Wir müssen versuchen, die Quellen der Ungerechtigkeit in der Welt zu verringern.« 15 Shaikh: Im gegenwärtigen globalen System scheint eher auf bürgerliche und politische Rechte größeres Gewicht gelegt zu werden als auf ökonomische und soziale Rechte. Warum ist das der Fall und wie, falls überhaupt, würden Sie das gerne geändert sehen?
16 Ebadi: Die Menschenrechte sind unteilbar. Die Menschheit braucht alle diese Rechte. Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit ist nutzlos, und soziale Gerechtigkeit ist nutzlos, wenn es keine individuellen Freiheiten gibt. Die Menschenrechte sind in ihrer Gesamtheit für ein Individuum erforderlich.
17 Shaikh: Wie können im Kontext großer – und in manchen Fällen zunehmender – Ungleichheiten zwischen und innerhalb der Staaten die Menschenrechte garantiert werden? In anderen Worten, denken Sie, dass ein struktureller Wandel auf globaler oder nationaler Ebene notwendig wäre, bevor jedem Menschen ein gewisses Maß an Würde und Freiheit gewährt werden kann?
18 Ebadi: Ja, Organisationen wie die UNO und die Weltbank müssen neu strukturiert werden. Kann man zum Beispiel von Demokratie auf globaler Ebene reden, wenn es im Sicherheitsrat ein Vetorecht gibt? Das heißt doch, wenn alle Länder der Welt auf der einen Seite sind und nur eines der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates auf der anderen Seite ist und von seinem Vetorecht Gebrauch machen will, kann es den Willen der restlichen Welt übergehen.
19 Um ein anderes Beispiel zu geben, wenn die Weltbank an undemokratische Länder Kredite vergibt, ist das eine Ungerechtigkeit gegenüber den Menschen dieser Länder. Sehen Sie doch nur, wie viel an Krediten Saddam Hussein wohl bekommen hat, während er an der Macht war. Jetzt, wo Saddam Hussein gestürzt ist, trifft es das irakische Volk, das diese Schulden zurückzahlen muss. Ich halte es für notwendig, nachdrücklich darauf zu verweisen, dass der Irak die meiste Zeit, in der Saddam Hussein an der Macht war, von den Vereinigten Staaten begünstigt wurde, und es war gerade die Unterstützung der Vereinigten Staaten, die es dem Irak überhaupt ermöglichte, Kredite von der Weltbank zu bekommen. Und nun steht das irakische Volk mit Millionen Dollar an Schulden da. Saddam Hussein ist nicht der einzige Diktator, der solche Kredite erhalten hat. Das ist leider in vielen Teilen der Welt passiert. Deswegen ist es sehr wichtig, Ländern, die undemokratisch sind und die Menschenrechte verletzen, keinerlei Unterstützung zu gewähren.
20 Shaikh: Welche Auswirkungen, denken Sie, hat der Krieg gegen den Terrorismus weltweit auf die Menschenrechte gehabt?
21 Ebadi: Der Krieg gegen den Terrorismus ist ein legitimer Kampf und muss geführt werden. Er sollte jedoch keine Entschuldigung für die Verletzung der Menschenrechte werden. Der Kampf für die Menschenrechte sollte im Rahmen der Vereinten Nationen geführt werden. Gleichzeitig sollten Terroristen inhaftiert und verfolgt werden. Aber haben wir bei der großen Zahl von schon inhaftierten und verfolgten Terroristen den Terrorismus oder seine Folgen eindämmen können? Offensichtlich nicht. Der Grund dafür besteht darin, dass allein die Verfolgung der Terroristen nicht ausreichend ist. Man muss an den Terrorismus in der Weise herangehen, dass man an seinen Wurzeln ansetzt. Terrorismus entsteht aus zwei grundlegenden Quellen: Die eine ist das Vorurteil. Vorurteile resultieren aus Ignoranz und fehlender Bildung. Wenn wir versuchen, das Analphabetentum weltweit zu beseitigen, machen wir in der Tat einen Schritt dahin, den Terrorismus zu kontrollieren und zu bekämpfen. Die zweite Wurzel des Terrorismus ist Ungerechtigkeit. Wir müssen versuchen, die Quellen der Ungerechtigkeit in der Welt zu verringern. Wenn diese beiden grundlegenden Ursachen beseitigt sind, werden wir sicherlich auch den Terrorismus loswerden können.
Übersetzung aus dem Englischen von Bertold Bernreuter.

polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 5 (2004).
Online: http://them.polylog.org/5/des-de.htm
ISSN 1616-2943
Quelle der englischen Fassung:
external linkAsiaSource. A Resource of the Asia Society, 10. Juni 2004.
© 2004 Autorinnen, AsiaSource & polylog e.V.

Autorinnen

Shirin Ebadi (*1947 in Hamedan, Iran) ist iranische Anwältin und Menschenrechtsaktivistin. 1971 schloss sie an der Universität von Teheran das Masterstudium in Rechtswissenschaft ab. 1975 wurde sie Präsidentin des Gerichtshofs von Teheran, als erste weibliche Richterin im Iran. Nach der Revolution von 1979 wurde sie zum Rücktritt gezwungen. 1992 konnte sie endlich die Zulassung als Rechtsanwältin erreichen und gründete ihre eigene Kanzlei. Heute unterrichtet Ebadi auch Rechtswissenschaft an der Universität von Teheran und ist eine Vorkämpferin für Menschenrechte und die Stärkung des gesetzlichen Status von Kindern und Frauen. Sie hat zwei Nicht-Regierungs-Organisationen im Iran gegründet, die Association for Support of Children's Rights (1995) und das Human Rights Defence Centre (2001). Trotz Verhaftung, Entzug der Zulassung und wiederholter Gewaltdrohungen hat sie ihre Tätigkeit als Anwältin stets fortgeführt. Sie hat zahlreiche Schriften zu allgemeinen und Menschenrechtsfragen veröffentlicht. Zwei ihrer Bücher sind ins Englische übersetzt: The Rights of the Child. A Study of Legal Aspects of Children's Rights in Iran (1994) und History and Documentation of Human Rights in Iran (2000). 2003 wurde sie für ihren Einsatz für Demokratie und Menschenrechte mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Shirin Ebadi
No. 19 Street 57
Seied Jamal eldin Asad Abadi Ave
Tehran 14349
Iran
Fax: +98 (21) 806-6164
emailshirinebadi@hotmail.com
external linkhttp://www.shirinebadi.ir/
Nermeen Shaikh (*1973 in Islamabad, Pakistan) machte ihren BA in Politikwissenschaft an der Queen's University in Kingston, Ont., (Kanada) und ihren MPhil an der University of Cambridge (Großbritannien). Sie arbeitet seit 1999 für die Asia Society in New York. Zurzeit ist sie leitende Redakteurin von AsiaSource, der Internetplattform der Asia Society.
Nermeen Shaikh
Asia Society Online
725 Park Avenue
New York, NY 10021
USA
Fax: +1 (212) 452-1422
emailnermeens@asiasoc.org
themen literatur agenda archiv anthologie kalender links profil