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Katharina Ceming

Hinduismus

Auf dem Weg vom Universalismus zum Fundamentalismus?

English
Summary

This article inquires about how a religion like Hinduism, which in its metaphysical attitudes is quite free from dogmas, could be used in support of dogmatic social expressions, such as the ones used in modern-day movements associated with Hindu fundamentalism. The origins of the Hindu fundamentalist movement will be explored, and its most important representatives and their doctrines will be presented. We will conclude with choosing the riot in Ayodhya, in 1992, as field of application that may help us understand our topic further.

Inhalt

1. Vorbemerkung

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1 Die Verbindung von Hinduismus und Fundamentalismus mag auf den ersten Blick etwas erstaunen. Ist es doch gerade der Universalismus, den man gewöhnlich mit dem Hinduismus verbindet. Eine Einschätzung, die durch Gustav Menschings Studie Toleranz und Wahrheit in der Religion bestätigt zu sein scheint. Und wer einen Blick in die heiligen Schriften des Hinduismus wirft, wird dem wohl auch zustimmen. Dennoch geht die Rede vom hinduistischen Fundamentalismus. Wie passt dies zusammen? Dazu ist es zunächst notwendig, einige wesentliche Erläuterungen zu Indien und zum Hinduismus als Religion und Gesellschaftsverfassung zu geben.
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Nr. 12 (2004)
2 Sowohl der Begriff »Inder« als auch der Begriff »Hindu« leiten sich vom Sindhu, dem größten Fluss des Subkontinents ab. Die Griechen, die unter Alexander nach Indien kamen, gaben den Flussnamen als »Indus« wieder und bezeichneten dem getreu die Bewohner dieses Gebietes als »Inder«. Als die islamischen Eroberer in Indien einfielen, machten sie aus dem Sindhus den »Hindus« und nannten die nicht-muslimische Bevölkerung »Hindus«. Die englischen Kolonialherren verwendeten den Begriff »Inder« zur Kennzeichnung aller nichteuropäischen Bewohner des Subkontinents und »Hindu« zur Charakterisierung aller in Indien lebenden Nicht-Muslime und Nicht-Christen (Schweizer 2001, 115-116). Die Hindus selbst bezeichnen sich nur als Anhänger des Sanātana Dharma, des ewigen Gesetzes, der ewige Religion, haben aber heute die Fremdbezeichnung ihrer Religion übernommen, ebenso wie den Staatsnamen, auch wenn man in Indien selbst eher von Bharata spricht, wenn man Indien meint.
3 Der Name leitet sich von König Bharata ab, der nach legendarischen Berichten über den gesamten Subkontinent herrschte und zugleich Namensgeber eines der größten indischen Epen, des Mahabharata, war. Bharata bezeichnete aber nicht nur ein geografisches Gebiet, sondern auch die in diesem angesiedelte ursprüngliche Gesellschaftsverfassung und Religion, nämlich den Hinduismus. Entschlossen sich die Gründungsväter der Republik Indien nach der Unabhängigkeit, den Namen, den die Engländer diesem Staat gegeben hatten, nämlich Indien, beizubehalten, dann um zu demonstrieren, dass es sich um einen säkularen Staat handelt, der Heimat für alle in Indien lebenden Menschen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, sein sollte. Säkular heißt in Indien jedoch nicht, dass die Religion aus staatlichen Belangen ausgeklammert ist, sondern nur, dass der Staat nicht eine Religionsgemeinschaft bevorzugt. Hinter der Entscheidung, Indien eine säkulare Verfassung zu geben, standen die blutigen Auseinandersetzungen von 1947 zwischen Muslimen und Hindus.
4 Im Gegensatz dazu verstand sich Pakistan vom ersten Moment an als religiöser Staat, in dem religiöse Minderheiten entsprechend der islamischen Lehre nur als untergeordnet geduldet werden. Pakistan bedeutet so viel wie »Land der Reinheit«, und zwar Reinheit der islamischen Lehre. Nach Sicht der Gründerväter der Republik Indien war die Existenz Pakistans eigentlich unzulässig, da Indien eben ein Staat aller Inder sein sollte, nicht nur der Hindus. Heute stellen zwar die Hindus in Indien die große Mehrheit der Bevölkerung mit 82 bis 85 Prozent dar, aber es leben auch gut 120 bis 150 Millionen Muslime in Indien. Das entspricht elf bis 13 Prozent der Bevölkerung. Christen sind mit drei Prozent, eine absolute Minderheit, ebenso die Sikhs mit zwei Prozent, die Buddhisten mit weniger als einem Prozent und die Jains mit 0,5 Prozent. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die zurzeit regierende fundamentalistische Hindu-Partei BJP Indien auch im internationalen Sprachgebrauch wieder in Bharata umbenennen möchte, um zu zeigen, dass Indien das Land der Hindus ist. Die politische Botschaft, die mit dieser Umbenennung einhergeht, haben die Muslime sehr deutlich verstanden.

2. Der Hinduismus als Religion und Lehre

5 Doch nun ein paar Sätze zum Hinduismus als Religion. Kaum eine Religion ist so schwer zu bestimmen wie der Hinduismus, denn er »kennt im Gegensatz zu anderen Religionen keine allgemeinverbindliche Glaubenslehre« (Pulsfort 1991, 20). Und wie das Judentum hat er keine historische Stiftergestalt. 1 Der Hinduismus wird aufgrund seiner Göttervielfalt gerne als polytheistische Religion bezeichnet. Dies wird ihm jedoch aus zwei Gründen nicht gerecht. Zum einen firmieren unter dem Mantel des Hinduismus die unterschiedlichsten religiösen Konzepte, vom scheinbaren Polytheismus zum Monotheismus über den Monismus bis hin zum Materialismus. Zum anderen sind sich letztlich nahezu alle Hindus darin einig, dass all die vielen Götter nur Manifestationen der einen unaussprechlichen Wirklichkeit, Brahman genannt, nicht zu verwechseln mit dem Gott Brahma, sind. Die obersten drei Götter, die man auch als Trimurti (drei Formen) bezeichnet, sind Brahma, der Schöpfer, Viṣṇu, der Welterhalter, und Śiva, der Zerstörer. Wobei gerade Śiva sowohl Schöpfer als auch Zerstörer sein kann. In ihm sind alle Gegensätze vereint. Er ist der Gott der Askese und der Fortpflanzung zugleich.
Unter dem Mantel des Hinduismus firmieren die unterschiedlichsten religiösen Konzepte, vom scheinbaren Polytheismus zum Monotheismus über den Monismus bis hin zum Materialismus. 6 Die drei wichtigsten religiösen Bewegungen des Hinduismus sind heute die Vaiṣṇavas, die Viṣṇu oder eine seiner Inkarnationen, hier seien besonders Rama (7. Inkarnation) und Kṛṣṇa (8. Inkarnation) genannt, als obersten Gott verehren, die Śivaiten, die dementsprechend Śiva als höchsten Gott ihren Tribut zollen, und die Śaktas oder Tantriker. Dass es keine »Brahmaiten« gibt, hängt damit zusammen, dass Brahma im Lauf der Geschichte einfach die Verehrer abhanden gekommen zu sein scheinen. Die Śaktas verehren Śakti, die göttliche Kraft, die Urquelle allen Lebens ist. Śakti gilt in der Mythologie als Gemahlin Śivas und verkörpert dessen Energie. Im Śaktismus steht vor allem der weibliche Aspekt des Göttlichen im Vordergrund. Neben Śakti werden auch Pārvatī, Kālī oder Durgā als Śivas Gattinnen und energetischer Aspekt verehrt. Innerhalb dieser Gruppen wird der jeweilige Gott bzw. die Göttin, die man verehrt, fast immer als identisch mit der absoluten Wirklichkeit betrachtet.
7 Die heiligen Texte der Hindus sind die Veden, deren älteste Schichten vermutlich aus der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrtausends stammen. Sie waren die heiligen Schriften der im 2. vorchristlichen Jahrtausend eingewanderten Arier, so sie eingewandert sind. Bezüglich der Einwanderungsthese gibt es in der Forschung geteilte Meinungen. In dieser frühen Phase (1500-1200 v. Chr.) war die vedische Religion aber noch nicht vom Asketentum geprägt, das wir heute sofort mit indischer Religiosität verbinden. Der Asketismus tritt erst ab dem 1. vorchristlichen Jahrtausend in Erscheinung. Seinen literarischen Niederschlag findet er in den Upaniṣaden, den mystisch-philosophischen Erläuterungen der Veden, deren älteste Schichten bis in 8. vorchristliche Jahrhundert und deren jüngste Texte bis weit in die Mitte des 2. nachchristlichen Jahrtausends reichen. Veden und Upaniṣaden gelten als śruti (das Gehörte), als göttliche Offenbarung, die von den Sehern und Dichtern der Frühzeit, den Rishis und Kavis, gehört und tradiert wurden. Sie allein besitzen absolute Autorität. Wer sie nicht anerkennt, ist kein Hindu. Alle anderen Schriften sind smṛti (das Erinnerte), Tradition. Da alle Offenbarungstexte in Sanskrit verfasst sind und die Brahmanen, die Priester, mit ihren religiösen Ideen und Konzepten prägend waren und sind, kann man diese Form des Hinduismus auch als »brahmanischen Sanskrit-Hinduismus« bezeichnen, im Gegensatz zum Volkshinduismus (Michaels 1998, 39-40). In diesem mischen sich Formen des brahmanischen Sanskrit-Hinduismus mit volksreligiösen Bräuchen und Kulten. Hier spielen die mythologischen und religiösen Texte der jeweiligen Landessprachen neben den sanskritischen Texten der Tradition eine wichtige Rolle.
8 Die spekulativ bedeutendste Linie innerhalb des brahmanischen Sanskrit-Hinduismus ist der Vedānta, was nichts anderes heißt als Ende des Veda; wobei Ende hier in dreierlei Hinsicht zu verstehen ist. Historisch als der jüngere, abschließende Teil des Veda, metaphysisch als Vollendung des Veda und mystisch als der Aspekt über den hinaus es nichts mehr zu sagen gibt, also als Schlussstein jeglicher Erkenntnis und Spekulation. Diese Linie hat maßgeblich den Ruf des hinduistischen Universalismus geprägt. Auf ihr fußt der moderne Neohinduismus eines Radhakrishna, Vivekananda, Aurobindo oder Gandhi. Zu glauben, der Hinduismus sei jedoch mit dem Vedānta identisch, ist ein großer Irrtum. Der Vedānta stellt nur eines der so genannten sechs orthodoxen Systeme (darśana) dar und ist die Religion der Intelligenzija.
9 Was die Glaubenspraxis anbelangt, hat man im Hinduismus zwischen drei verschiedenen Formen unterschieden. Der erste Nachweis dazu findet sich in der Bhagavadgītā, einer heiligen Schrift der Tradition, die zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und n. Chr. anzusiedeln ist und heute gerne als die Bibel der Hindus bezeichnet wird. Dort wird differenziert zwischen einem Weg der Erkenntnis und Askese, jñāna-marga genannt. Er war vor allem für die Brahmanen, die die heiligen Texte studierten, und die Sadhus, die Entsagenden, bestimmt. Einem Weg des Handelns, karma-marga, der oft mit den Kṣatryas, der Kriegerkaste, verbunden wurde, während die große Menge der Gläubigen dem Weg der Liebe und Verehrung, bhakti-marga genannt, folgte, der vor allem ab dem 8. Jahrhundert n. Chr. immer mehr an Bedeutung gewann und heute die bestimmende Größe der Volksreligion darstellt. Die Bhakti-Gruppen lehrten, dass die liebende Hingabe an Gott, meist war es Kṛṣṇa, jedem Menschen unabhängig von seiner Bildung oder Kaste einen direkten Zugang zu Gott ermöglicht, ohne die Vermittlung der Priester. Theoretisch betrachtet, entscheidet sich der Mensch seiner Neigung entsprechend für einen dieser drei Wege. So gab es unter den Bhakti-Anhängern immer auch Brahmanen, so wie umgekehrt Niederkastige dem Karma-Weg folgten.
Krishna und Arjuna
enlarge Krishna und Arjuna in ihrem Wagen
(Ausschnitt)
10 Wesentliche Grundlage des Hinduismus ist der Glaube an den Dharma, die ewige Ordnung, das kosmische Gesetz, das hinter allem steht und alles regelt, von dem sogar die Götter abhängig sind. Innerhalb der monistischen Tradition wird er als Manifestation der überpersönlichen Gottheit betrachtet, in den theistischen Strömungen »als eine auf Gottes Gebote sich gründende Weltordnung, während die Systeme, welche das Dasein eines Weltschöpfers und Weltregierers leugnen …, in ihm ein der Welt seit Ewigkeit immanentes Gesetz sehen« (Glasenapp 1986, 253-254). Durch den Dharma wird das Leben bis ins Kleinste bestimmt. Der Mensch muss seinem Dharma gehorchen. In der Bhagavadgītā verweist der Gott Kṛṣṇa den zögernden Arjuna auf seine Pflicht, in den Kampf zu ziehen, da es eben sein Dharma als Krieger ist (Bhagavadgītā Kap. II, 31, nach Riemann 1989, 49). Aber nicht nur jede Kaste hat ihren eigenen Dharma, dem gemäß sie handeln muss, sondern auch jeder Berufsstand. So gibt es selbst für Diebe einen eigenen Dharma, gegen den nicht verstoßen werden darf.
11 Der Dharma gilt für Menschen und Tiere, aber auch für Elemente; er umfaßt natürliche und gesetzte Ordnung, Recht und Sitte im weitesten Sinne. Dharma ist das nach Normen und Regeln ritualisierte Leben, bei dem es auf eine innere Beteiligung weniger ankommt als auf letztlich aus dem Veda abgeleitetes richtiges Handeln. So gehören zum Dharma die Hausriten und -zeremonien, tägliche und lebenszyklische ›Sakramente‹ (saṁskāra), Sühne- und Bußriten, der ganze Bereich des Zivil- und Strafrechts, des Staats- und Gewohnheitsrechts, normative und rituelle Vorschriften zu Kaste, Lebensalter, Opfer, Wallfahrten, Gelübde, rituelle Schenkungen und anderes mehr. (Michaels 1998, 31)
12 Mit dem Gedanken des Dharma ist der des Karma verbunden. Karma bedeutet dem Wortgehalt nach Tat. Karma bezeichnet aber nicht nur eine individuelle Tat, sondern eine »Kette von Ursache und Wirkung in der moralischen Welt« (Fischer-Schreiber 1995, 184), d.h. keine Tat steht isoliert, sondern bewirkt wieder eine neue Handlung. Jede Handlung schafft neues Karma – gutes Karma, wenn es sich um ethisch einwandfreie Taten handelt, schlechtes, wenn nicht. Erlösung wird allerdings nicht durch das Ansammeln von gutem Karma bewirkt, dies führt maximal zu einer besseren Wiedergeburt, sondern nur durch das Nicht-mehr-Identifizieren des Individuums mit seinen Taten. Erlösung und damit Erleuchtung erlangt gemäß der Lehre des Advaitā-Vedānta nur, wer intentionslos handelt.
13 Ein weiteres den Hinduismus bestimmendes Merkmal ist das Kasten-System. Dieses spielt im Zusammenhang mit dem Hindu-Fundamentalismus eine wichtige Rolle. Kasten sind in sich geschlossene soziale Systeme, in die man hineingeboren wird, die hierarchisch geordnet sind und auf einem strengen Reinheitsdenken basieren. Der Begriff »Kaste« stammt von den Portugiesen. Casta bedeutet so viel wie »rein« und »unvermischt«. Die Hindus selbst sprechen von varṇa (Farbe). Ob sich dieser Begriff auf die Hautfarbe bezieht – die arischen Einwanderer waren heller als die drawidische Urbevölkerung – oder darauf, dass die einzelnen Kasten durch Symbol-Farben unterschieden sind, ist unklar. Insgesamt gibt es vier varṇas und eine quasi fünfte Kaste, die der Unberührbaren. Diese Großkasten unterteilen sich noch einmal in etwa 3000 Unterkasten, jāti genannt, was so viel wie »Geburt« oder »Herkunft« heißt, und »die sich durch das Verbot, mit Personen anderer Kasten Eheverbindungen einzugehen und mit ihnen gemeinsam zu speisen, und durch besondere Vorschriften über Arbeit und Lebenshaltung, sowie bestimmte Sitten und Bräuche von anderen deutlich absondern« (Glasenapp 1986, 257). Die Zugehörigkeit zur jāti ist das eigentlich lebensbestimmende Element. 2 Sie sind meist mit bestimmten Berufsgruppen identisch.
Der strikten Trennung der Kasten liegt der Gedanke der Reinheit zugrunde. Der Hinduismus ist eine Religion, in der der Differenzierung zwischen »rein« und »unrein« ein äußerst wichtiger Stellenwert zukommt. 14 Der strikten Trennung der Kasten liegt der Gedanke der Reinheit zugrunde. Der Hinduismus ist eine Religion, in der der Differenzierung zwischen »rein« und »unrein« ein äußerst wichtiger Stellenwert zukommt. Es ist nicht nur so, dass sich der Mensch durch Kontakt mit falschen Speisen, Tieren oder durch falsche Handlungen verunreinigt, sondern er kann sich auch durch den Kontakt mit niederer gestellten Menschen oder solchen, die durch bestimmte Lebensumstände (Tod eines Familienmitglieds, Wochenbett etc.) unrein sind, selbst verunreinigen. Ein großer Teil des Lebens der Höherkastigen, wenn es streng nach den Regeln des Dharma geführt wird, besteht darin, sich vor Unreinheit zu schützen oder, so sie denn eingetreten ist, sich durch umfangreiche Rituale zu reinigen. Theoretisch kann sich ein Brahmane bereits verunreinigen, wenn der Schatten eines Kastenlosen auf ihn fällt.
15 Die Existenz des Kastensystems ist in der frühvedischen Zeit noch unbekannt. Erst im Puruṣa Suktam, einem jüngeren hymnischen Text aus dem Ṛg-Veda (um 1000 v. Chr.), findet sich ein Hinweis darauf. Dort wird beschrieben, wie die Götter den puruṣa, den Urmenschen, der Weltschöpfer ist und der allem, auch den Göttern, vorausgeht, opfern und wie aus seinen Teilen die Kasten entstehen.
16 Zum Brâhmaṇa ist da sein Mund geworden
Die Arme zum Râjanya sind gemacht,
Der Vaiçya aus den Schenkeln, aus den Füßen
Der Çûdra damals ward hervorgebracht.

(Ṛg-Veda 10,90, nach Deussen 1907, 9)
17 Zur Zeit Buddhas, also im 6. Jahrhundert v. Chr., war es bereits die bestimmende Gesellschaftsordnung des Hinduismus. Es hat seine Fundierung vor allem in den Schriften der Tradition, besonders im »Gesetz des Manu«, einem Text, der aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. stammt und die Pflichten der einzelnen Kasten genau bestimmt. Der Status der Kastenlosigkeit oder Unberührbarkeit taucht aber erst ab dem 8./9. nachchristlichen Jahrhundert auf und ist in keiner der heiligen Schriften erwähnt.
18 Fünf Prozent der Hindus gehören heute zur obersten Kaste der Brahmanen (Priester); 30 Prozent sind Kṣatryas (Krieger) und Vaiśyas (Händler und Großbauern). Die restlichen zwei Drittel der Hindus verteilen sich mit 50 Prozent auf die Kaste der Shudras (Diener, Tagelöhner etc.) sowie mit 15 Prozent auf die der Kastenlosen, Parijas, Harijans oder Dalits genannt, und die Adivasis, alle ursprünglichen indischen Völker, die nicht in die Kastenordnung des Hinduismus eingefügt sind. Es gehört also nur ein Drittel der Hindus den oberen drei Kasten an, die man auch als die »Zweimalgeborenen« bezeichnet, da sie nach der Geburt eine besondere Weihe erhalten, die als zweite Geburt verstanden wird. Diese zweite Geburt sorgte für die rituelle Reinheit, die zum Lesen der heiligen Schriften und zum Durchführen des Opfers benötigt wird. Ein Entkommen aus der Kaste ist einzig und allein dem Sadhu, dem Entsagenden, möglich. Der Weg des Sadhu steht tatsächlich jedem offen, unabhängig davon, aus welcher Kaste er stammt, und unabhängig vom Geschlecht.
19 Das Kastensystem wird als Ordnungssystem schlechthin verstanden, das auch heute noch für die meisten Hindus absolute Gültigkeit hat, was nicht ausschließlich religiös begründet ist. In einem Land, das keine staatliche Absicherung kennt, ist die jāti neben der Familie oftmals der einzige Garant für Unterstützung.
20 Die Kasten siedeln sich in eigenen Vierteln an, sie unterhalten eigene Häuser, die auch wohltätigen Zwecken dienen; sie gründen ihre eigenen Genossenschaften, Banken, Entbindungsheime, Krankenhäuser und ihre eigenen Verbände. (Dumont 1976, 265)
»Keiner steht so tief, als daß er nicht andere findet, die noch tiefer stehen und auf deren Kosten er sein Selbstbewußstein aufrichten kann.«

Gerhard Schweizer
(2001, 164)
21 Es kann also nicht verwundern, dass in Indien heute ein Teil der politischen Parteien Kasten-Parteien sind, die sich ausschließlich für die Interessen ihrer Mitglieder einsetzen. Die für Europäer oft nicht nachvollziehbare Akzeptanz dieser Gesellschaftsordnung gerade auch durch die benachteiligen Schichten hat darüber hinaus psychologische Ursachen.
22 Keiner steht so tief, als daß er nicht andere findet, die noch tiefer stehen und auf deren Kosten er sein Selbstbewußstein aufrichten kann. (Schweizer 2001, 164)
23 Denn das darf nicht übersehen werden, selbst die Quasi-Kaste der Unberührbaren unterteilt sich noch in unendlich viele hierarchische Untergruppen.

3. Fundamentalismus

24 Zur Klärung des Begriffs des Fundamentalismus zunächst eine Definition von Martin E. Marty und Scott R. Appleby:
25 Der Fundamentalismus ist … eine religiöse Weise des Daseins, die sich als Strategie manifestiert, vermöge derer Gläubige, die sich als im Belagerungszustand befindlich ansehen, versuchen, ihre unverwechselbare Identität als Volk oder Gruppe zu bewahren. In dem Gefühl der Bedrohtheit dieser Identität suchen Fundamentalisten ihre Identität durch eine selektive Wiederbelebung von Doktrinen, Glaubensvorstellungen und Praktiken aus einer intakten, heiligen Vergangenheit zu befestigen. (Marty/Appleby 1996, 45)
26 Auch wenn die fundamentalistischen Strömungen innerhalb der einzelnen Religion verschieden sind, so lassen sich dennoch einige gemeinsame Grundzüge feststellen. Zunächst gilt: Der Fundamentalismus ist eine Protest- und Widerstandsbewegung gegen den Liberalismus, die Aufklärung und den Säkularismus. Aber er steht modernen Errungenschaften, insbesondere der Technik nicht feindlich gegenüber, sondern benutzt deren Möglichkeiten ausgiebig für seinen Kampf. Gerade Fernsehen oder Internet haben eine außerordentliche Bedeutung bei der Verbreitung der jeweiligen Anschauungen. 3 Das unterscheidet die Fundamentalisten maßgeblich von den Traditionalisten.
27 Der Fundamentalismus will eine Rückbesinnung auf die Fundamente der Religion und deren Restituierung, da sie durch Liberalismus und Säkularismus zerstört wurden. Menschliche Selbstverwirklichung erscheint ihm nur möglich, im Rahmen der Befolgung der göttlichen Gebote. Da Fundamentalisten von der Richtigkeit und Notwendigkeit ihrer Mission überzeugt sind, versuchen sie ihre Ideale und Ziele notfalls auch mit Gewalt gegen ihre Widersacher durchzusetzen. »Der Wille zur Herrschaft« (Marty/Appleby 1996, 37) ist typisch für den Fundamentalismus. »Fundamentalisten handeln just in dem Augenblick, in dem sie den Glauben unterminiert sehen.« (Marty/Appleby 1996, 33)

4. Hinduistischer Fundamentalismus

28 Der Hindu-Fundamentalismus äußert sich auf zweierlei Arten, die jedoch eng miteinander verwoben sind, was mit der Konzeption des Hinduismus als Glaubens- und Gesellschaftssystem zusammenhängt. Einmal als religiöses und zum anderen als politisches Phänomen. Doch bevor ich diese beiden Gruppierungen charakterisiere, sollen zunächst einmal die quasi universal-fundamentalistischen Grundzüge dargestellt werden, wie wir sie auch im Hinduismus finden. Wie alle religiösen Fundamentalisten sehen die Hindu-Fundamentalisten im Säkularismus und Liberalismus eine Bedrohung, da beide die Religion marginalisieren und aus dem Dasein drängen. Eine Trennung von Staat und Religion ist für Hindu-Fundamentalisten unvorstellbar. Ich darf an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, dass der Hinduismus von seinem Selbstverständnis eine Religion ist, die alle Bereiche des menschlichen Daseins vom Moment der Zeugung bis zum Tod und darüber hinaus durchdringt. Die durch die indische Verfassung garantierte Gleichbehandlung aller Religionen sehen insbesondere die politisch orientierten Fundamentalisten als Verrat am Hinduismus. Daher ist es eines ihrer wesentlichen Ziele, den Hinduismus zur vorherrschenden und allein bestimmenden Religion in Indien zu machen.
»Hindus leben … geradezu unter umgekehrten Vorzeichen wie Christen und Muslime: In religiösen Fragen sind sie völlig undogmatisch, freizügig und tolerant – in sozialen Fragen aber dogmatisch, unfrei und nach unseren Maßstäben weitgehend intolerant.«

Gerhard Schweizer
(2001, 41)
29 Auch den Gedanken einer notwendigen Erneuerung der Religion von ihren Quellen her teilen die Hindu-Fundamentalisten mit anderen religiösen Fundamentalisten. Diese ist in ihren Augen erforderlich, da die Religion durch äußere Kräfte negativ verändert wurde. Diese äußeren Kräfte sind der Islam und die europäischen Kolonialmächte. Beide haben die heilige Ordnung, den Sanātana Dharma, durch Missachtung aus dem Gleichgewicht gebracht. 4 Zur Erneuerung wird das Golden Age, die Frühe Zeit, beschworen, in der die Religion noch nicht vom Verfall gekennzeichnet war, welcher durch das Eindringen fremder Elemente bzw. durch das Aufgeben heiliger Riten verursacht wurde. Was die Frage der Erneuerung und die nach den Fundamenten des Hinduismus anbelangt, so herrschte und herrscht innerhalb der verschiedenen fundamentalistischen Gruppen eine gewisse Uneinigkeit. Während die einen die Fundamente nur in den Veden sehen, halten die anderen auch die Texte der Tradition für ein Fundament. Dementsprechend unterschiedlich bewerten sie die Gültigkeit bestimmter religiöser Traditionen.
30 An dieser Stelle muss aber noch auf einen wesentlichen Unterschied zum islamischen oder christlichen Fundamentalismus hingewiesen werden. Wir sind im Hinduismus mit einer Form konfrontiert, die nicht eine bestimmte Interpretation der Glaubenslehre über alle anderen stellt und diese für falsch und ungültig erklärt, sondern die die religiöse Praxis für unveränderlich hält. Der hinduistische Fundamentalismus gründet im Glauben an die Unveränderlichkeit des alles bestimmenden Dharma und der damit verbundenen Gesellschaftsform, dem Kastensystem und der kultischen Differenzierung zwischen »rein« und »unrein«.
31 Mit der universalistischen Grundanschauung ihrer Religion haben selbst Hindu-Fundamentalisten kaum Schwierigkeiten. Sie interpretieren Allah, Gott, Ahura Mazda etc. als Manifestationen der einen unaussprechbaren Wirklichkeit. Jede Änderung des bestehenden Ordnungssystems ist für sie hingegen eine Verletzung der göttlichen Ordnung, die negativ sanktioniert bzw. bereits im Vorfeld verhindert werden muss. Der Hindu-Fundamentalismus ist daher ein Fundamentalismus der Orthopraxie und nicht der Orthodoxie.
32 Hindus leben deshalb geradezu unter umgekehrten Vorzeichen wie Christen und Muslime: In religiösen Fragen sind sie völlig undogmatisch, freizügig und tolerant – in sozialen Fragen aber dogmatisch, unfrei und nach unseren Maßstäben weitgehend intolerant. (Schweizer 2001, 41)
33 Die zuvor genannte Absicht der politischen Hindu-Fundamentalisten, den Hinduismus zur alleinigen Religion Indiens zu machen, widerspricht dem nicht. Hinduismus bedeutet für sie nicht so sehr ein einheitliches Glaubenssystem, sondern die Verwirklichung des Sanātana Dharma, der ewigen Ordnung. Wären die Muslime oder Christen bereit, diesen anzuerkennen, dürften sie auch weiterhin Allah oder Gott verehren, wenn auch nicht an Orten, die ursprünglich hinduistische Heiligtümer waren. Was es damit auf sich hat, werde ich im Folgenden noch verdeutlichen.

4.1 Religiöser Hindu-Fundamentalismus

34 Doch nun ein paar Sätze zum religiösen Fundamentalismus. Ich habe gerade zuvor auf die unterschiedliche Bewertung der Tradition im Hinduismus hingewiesen. Diese führt zu einer Differenzierung der Hindu-Fundamentalisten in zwei Richtungen: die im eigentlichen Sinne religiösen Fundamentalisten, die zurück zu den Fundamenten des Hinduismus möchten, welche sie ausschließlich in den Veden sehen, und die Orthodoxen bzw. Traditionalisten, die diese Fundamente in der religiösen Tradition erblicken, sie deswegen für unveränderlich halten und mit aller Gewalt verteidigen.
35 In der Literatur, die sich allgemein mit dem Phänomen des Fundamentalismus auseinandersetzt, ist immer wieder zu lesen, dass zwischen Traditionalisten und Fundamentalisten unterschieden werden muss, da die Traditionalisten die Tradition bewahren wollen und jede Entwicklung der Moderne ablehnen, während die Fundamentalisten ja oftmals die Tradition beseitigen möchten, um zurück zu den Fundamenten zu gelangen, für diesen Kampf aber durchaus die technischen Errungenschaften der Moderne zu schätzen wissen. Auf Indien trifft diese Unterscheidung nur noch bedingt zu. Zwischen beiden Gruppen kann heute kaum mehr eine scharfe Trennlinie gezogen werden. Die Differenzen, die es in der Anfangszeit aufgrund anderer Ziele gab, sind heute mehr oder weniger beseitigt bzw. in den Hintergrund getreten. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass sie sich unter einem gemeinsamen ideologischem Dachverband gesammelt haben, dem auch die politischen Hindu-Fundamentalisten angehören, dem 1964 gegründeten Hindu-Weltrat, Vishwa Hindu Parishad genannt.
Saraswati
Dayananda Saraswati
external linkBiographie
36 Zu den im wörtlichen Sinne hindu-fundamentalistischen Gruppierungen gehört die 1875 von Swami Dayananda Sarasvati (1824-83) gegründete Reformbewegung Arya Samaj (Gemeinschaft der Arier). Sie kann als fundamentalistisch gelten, weil sie zurück zu den Wurzeln des Hinduismus will. Diese Wurzeln sah Dayananda ausschließlich in den Veden. Er wandte sich gegen den Ritualismus und die ausufernde Bilderverehrung des Volkshinduismus sowie gegen die sozialen Missstände, die durch das rigide Kastensystem verursacht waren. Entscheidend für die Zugehörigkeit zu einer Kaste war seiner Meinung nach nicht die Geburt, sondern waren individuelle Verdienste. Dieses Verständnis des Kastensystems führte dazu, dass Dayananda auch Ausländern den Zugang zum Hinduismus durch eine spezielle Reinigungszeremonie, Śuddhi genannt, ermöglichte, 5 ähnlich wie er dadurch einst vom Hinduismus abgefallene Christen oder Muslime wieder in diesen integrierte. Die Anhänger des Arya Samaj versuchen den Hinduismus dabei jedoch von allen westlichen Einflüssen frei zu halten.
37 Als zweite Gruppe haben wir die Hindu-Traditionalisten oder Orthodoxen, Sanātana Dharmis genannt, weil sie sich als Anhänger des Sanātana Dharma verstehen. Sie sind klassische Traditionalisten, die hinduistische Bräuche wie die Witwenverbrennung (satī), die bereits 1829 verboten wurde, die Kinderehe, das Verbot der Witwenwiederverheiratung sowie das Kastensystem in seiner undurchlässigen Form vehement verteidigen, da sie ihrer Meinung nach integraler Bestandteil des Hinduismus sind. Ideologisch stützen sie sich auf die heiligen Texte der Offenbarung, die Veden, und auf die Schriften der Tradition, insbesondere auf das »Gesetz des Manu«, das für alle Aspekte des Lebens Regeln und Vorschriften bereithält, die zu befolgen notwendig sind, um dem Dharma zu gehorchen. Die Sanātana Dharmis gehören zu den Vertretern des brahmanischen Sanskrit-Hinduismus. Ihr Denken und Handeln ist durch die den brahmanischen Sanskrit-Hinduismus beherrschende Dichotomie von »rein« und »unrein« geprägt. Das gesamte Leben aller Inder hat sich ihrer Ansicht nach diesen Regeln und Vorschriften zu beugen, da nur so die heilige Ordnung in Takt bleibt. Im Gegensatz zu Bewegungen wie dem Arya Samaj verfolgen die Sanātana Dharmis keine missionarischen Bestrebungen, da man ihrer Ansicht nach in die Kastenordnung hineingeboren sein muss, um Hindu zu sein.
38 Ein weiteres typisches Merkmal aller religiös-fundamentalistischen Bewegungen, das ich schon angesprochen habe, ist der Glaube, dass Selbstverwirklichung nur im Rahmen der Befolgung der göttlichen Gebote erlaubt und möglich ist. Im Fall des Hinduismus heißt dies, Selbstverwirklichung ist nur im Rahmen der engen Kastenregeln erlaubt. Jede Verletzung der Kastenordnung und ihrer Riten wird bestraft, da sie ein Verstoß gegen das ewige Gesetz, den Dharma, darstellt. So kam es allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2001 im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh (150 Mio. Einwohner) zu mehr als 3000 Angriffen auf Unberührbare, wobei die Dunkelziffer weit höher liegen dürfte.
39 Ursache dieser Übergriffe war die Verletzung der Kastenregeln, des Kastendharmas. Diese kann sich darin äußern, dass Kastenlose Wasser aus den Dorfbrunnen schöpfen, was ihnen untersagt ist, da sie als rituell unrein gelten und damit das Wasser verunreinigen würden. Oder darin, dass sie ein Dorf von höhergestellten Kastenmitgliedern in deren Sicht durch ihre bloße Anwesenheit verunreinigen. Nahezu nie wird jedoch gegen die Täter ermittelt, obwohl durch die indische Verfassung jegliche Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit untersagt ist. Diese hängt zum einen damit zusammen, dass die Justizorgane meistens aus einer höheren Kaste stammen und kein Interesse an der Verfolgung derartiger Fälle haben, zum anderen damit, dass die Opfer selbst die hierarchische Struktur und damit ihre Minderstellung akzeptieren.
»[Der] Hinduismus … akzeptiert im Kastenwesen eine Form struktureller Gewalt.«

Johan Galtung
(1998, 214)
40 Ein weiterer Verstoß gegen die Kastenregeln ist z.B. die Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Kasten. Auch wenn in den Großstädten dieser Aspekt nicht mehr so streng befolgt wird, bestimmt er doch noch das Leben der meisten Hindus, da noch fast 80 Prozent aller Inder auf dem Land leben. Es kann sehr oft passieren, dass im Fall einer solchen Eheschließung beide Partner aus dem Familien- und Dorfverbund ausgeschlossen werden, was eine echte existentielle Bedrohung darstellt, da der schützende Familienverband, der in Indien die soziale Absicherung darstellt, fehlt. Es ist nicht übertrieben, wenn Johan Galtung feststellt: Der »Hinduismus … akzeptiert im Kastenwesen eine Form struktureller Gewalt« (Galtung 1998, 214).

4.2 Politischer Hindu-Fundamentalismus – Hindu-Nationalismus

41 Die zweite Gruppierung innerhalb des Hindu-Fundamentalismus ist die politische Richtung. Diese ist etwas anders motiviert als die religiöse. Für die religiösen Fundamentalisten steht die Wiederherstellung des Sanātana Dharma als eigentliches Ziel im Mittelpunkt. Wenn er befolgt wird, ergibt sich ihrer Ansicht nach der Rest. Die politischen Fundamentalisten sehen den Sanātana Dharma eher als Mittel zum Zweck. Wenn er befolgt wird, dann wird Bharata wieder in voller Größe auferstehen. Für sie ist besonders der Aspekt der Gewaltanwendung zur Durchsetzung der eigenen Ideale und Ziele und der Wille zur Herrschaft kennzeichnend. Die Wurzeln des politischen Hindu-Fundamentalismus liegen in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Typisch für ihn ist die Ablehnung jeglicher Trennung von Politik und Religion. Die dem Hinduismus zugrunde liegende ethnische, religiöse und linguistische Vielfalt wird einer uniformen Einheit von Staat, Religion und Nation geopfert, die durch die Arisierung und »Sanskritisierung« ganz Indiens erreicht werden soll. Zentrale Aspekte des Hinduismus, wie z.B. der Gedanke der Ahiṁsā, des Nicht-Verletzens, werden ignoriert und bewusst durch eine kriegerische Ideologie ersetzt, die durch eine einseitige Interpretation der religiösen Texte legitimiert wird.
42 Einer der ideologischen Väter des Hindu-Nationalismus war Vinayak Savarkar (1883-1966), der 1923 ein Buch mit dem Titel Hindutva. Who is a Hindu verfasste. Hindutva heißt nichts anderes als Hindutum. Aufgabe der Hindus ist es nach Savarkar, sich aktiv gegen jegliche Form der Fremdherrschaft einzusetzen. In seiner Vorstellung ist das Hindutum Grundlage und Nährquell des Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und Shikismus, der genuin indischen Religionen, während Christentum und Islam als semitische Religionen Fremdkörper in Indien sind. Savarkar versuchte zu erweisen, dass der indischen Nation eine gemeinsame Rasse zugrunde liege, die entstanden sei, als die Arier nach Indien einwanderten. Die drawidischen Bevölkerungsgruppen seien durch Mischehen in diese integriert worden. Diese Konstruktion vom Hinduvolk entbehrt jedoch jeglicher historischer Grundlage. Bei Savarkar finden wir eine genaue Definition davon, wer Hindu ist:
43 A HINDU means a person who regards this land of BHARATVARSHA … as his Father-Land as well as his Holy-Land that is the cradle land of his religion. (Savarkar 1989)
Savarkar
Vinayak Savarkar
external linkBiographie
44 Nur den Anhängern der genuin indischen Religionen ist dies möglich. Westliche Anhänger indischer Religionen haben Indien nicht zum Vaterland, während die in Indien lebenden Christen und Muslime dieses zwar als Vaterland, aber nicht als heiliges Land anerkennen. Dementsprechend gehören sie nicht zur Hindutva und haben nach Savarkar kein Recht, in Indien zu leben. »In seiner Schrift entwarf Savarkar ein radikal hindu-nationalistisches Gegenkonzept zum säkularistischen Nationalismus des Indischen Nationalkongresses.« (Kulke 1996, 199)
45 Im Mittelpunkt des Versuchs der Nationenbildung durch die Hindu-Nationalisten steht die Idee des Hindutums/Hinduwesens (hindu-tvā). Dessen Definition ist jedoch äußerst schwierig, da es realiter weder einen einheitlichen Hindu-Glauben, noch ein einheitliches Hindu-Volk gibt. Deshalb griffen die Nationalisten auf einen Notbehelf zurück:
46 Sie haben das Territorium Südasiens als eine geographische Rahmenbedingung zur primordialen Gemeinsamkeit der Hindus als Volk und Glaubensgemeinschaft erhoben. … Diese aus der Not geborene vordergründige Territorialisierung eines Glaubens und hintergründige Sakralisierung eines Territoriums macht diesen Versuch des Nationenaufbaus zugleich so gefährlich. (Rösel 1994, 287)
47 Die Gefährlichkeit ruht darin, dass alle, die sich nicht zum Hindutum bekennen, insbesondere die in Indien lebenden Muslime, aus dieser Nation ausgegrenzt werden.
48 Auf den Ideen Savarkars baut der Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligen-Gruppe), kurz RSS, auf, der 1925 von Keshav Baliram Hedgewar gegründet wurde. Hedgewar, der eine englische Ausbildung genoss, wollte eine starke militärische Hindu-Organisation, die gegen Gandhis Politik der Gewaltlosigkeit gerichtet war. In ihr sah er einen Grund der Schwäche Indiens, genau wie Nathuram Godse, der deswegen am 30. Januar 1948 Mahatma Gandhi ermordete. Dass er aus den Reihen des RSS kam, ist kein Zufall. Das Vorbild Hedgewars war Shivaji, ein hinduistischer Held des 17. Jahrhunderts aus Maharashtra, der erfolgreich gegen die Moguln vorging. Hedgewars vorrangiges Ziel war die Revitalisierung des Hinduismus. Dazu schien es ihm nötig, vom Kastenstolz abzulassen, ohne das Kastensystem aber abzuschaffen. Der RSS versteht sich als hindu-kulturelle Organisation, die alle Aspekte des religiösen, ökonomischen und politischen Lebens umfasst. Er ist streng hierarchisch organisiert, hat viele Unterzweige, verfügt über eine ausgeprägte militärische Disziplin und verfolgt eine streng hindu-chauvinistische Politik, die sich unter anderem in einer massiven anti-muslimischen und anti-christlichen Agitation bemerkbar macht. Dass führende RSS-Mitglieder den deutschen Faschismus und Adolf Hitler verehren, verwundert nicht.
49 Zur Erneuerung der Hindu-Nation setzte und setzt der RSS auf den Charakteraufbau, denn nur so kann sich seiner Ideologie entsprechend die Hindu-Nation erneuern. Vier Elemente bestimmen diese Charakterbildung, physische Stärke, Opfermut, geistige Klarheit und Disziplin. Erreicht wird diese durch Yoga, Sport, quasi-militärische Übungen, Diskussionen etc. Diese Elite versteht sich als innerweltliche Asketen, Karmayogins, die den notwendigen Umbau der Nation vorantreiben, notfalls auch mit Gewalt. Seine Anhänger hat der RSS vor allem im Norden in der städtischen Mittelklasse; in den letzten Jahren aber auch vermehrt im Süden. Da direktes politisches Eingreifen mit dem eigenen Anspruch – man sieht die Integrität der Organisation gefährdet – nicht zu vereinbaren ist, unterstützt der RSS eine Vielzahl von Gruppierungen und politischen Parteien, die oftmals von ihm finanziert werden. Die Trennung ist damit nur formaler Natur. Was der Integrität scheinbar nicht schadet, sind die massiven paramilitärischen Einsätze der RSS-Anhänger, wie die Vielzahl von gut organisierten Pogromen an den indischen Muslimen zeigt. Gerade diese verhalfen dem RSS im Lauf seiner Geschichte zu einem großen Mitgliederzuwachs und sind ein zusätzlicher Hinweis auf seine fundamentalistische Prägung, da sich der Fundamentalismus zur Durchsetzung seiner Ideale fast immer auf Gewalt stützt.
»So long … as they maintain their racial, religious and cultural differences, they cannot but be only foreigners.«

Madhav Sadashiv Golwalkar
(1939, 45)
50 Nach Hedgewars Tod wurde 1940 Madhav Sadashiv Golwalkar Führer des RSS und sein Hauptideologe. Indien war für ihn nur Hindustan, das seit 8000 bis 10000 Jahren in den Händen der Hindus liege und deswegen auch nur von ihnen beherrscht werden dürfe. Sein erklärtes Ziel war die Schaffung einer Hindu Rashtra (Nation), in der jeder, der sich der Hindutva nicht anschließen wollte, d.h. nicht Hindu werden wollte, sogar der Bürgerrechte verlustig gehen sollte:
51 We must bear in mind that so far as ›nation‹ is concerned, all those, who fall outside the five-fold limits of that idea, can have no place in the national life unless they abandon their differences, adopt the religion, culture and language of the Nation and completely merge themselves in the National Race. So long, however, as they maintain their racial, religious and cultural differences, they cannot but be only foreigners. (Golwalkar 1939, 45) 6
52 Die Parallelen zum Dritten Reich sind dabei kein Zufall. Golwalkar bezog sich ausdrücklich auf die Rassenpolitik Deutschlands:
53 German national pride has now become the topic of the day. To keep up the purity of the nation and its culture, Germany shocked the world by her purging the country of the semitic races – the Jews. … Germany has also shown how wellnigh impossible it is for races and cultures, having differences going to the root, to be assimilated into one united whole, a good lesson for us in Hindustan to learn and profit by. (Golwalkar 1939, 27; zit. nach Kulke 1996, 204)
54 Eine Art politisches Sprachrohr des RSS ist die 1951 von Syama Prasad Mookerjee (1901-1951) zunächst als Bharatiya Janata Sangh gegründete indische Volkspartei, die sich seit 1980 Bharatiya Janata Party (BJP) nennt. Sie stellt seit 1998 die indische Regierung und versucht, mit politischen Mitteln die nationalistischen und fundamentalistischen Ideen des RSS umzusetzen. Dazu gehört das Konzept eines hinduistischen Großreichs, das den ganzen Subkontinent umfassen und in dem ausschließlich die religiösen Traditionen und Riten des Hinduismus gelten sollen. Diese Idee stützt sich auf das Mahabharata, welches von einem solchen Großreich unter König Bharata berichtet, das aber realiter nie existierte, was jedoch RSS und BJP bestreiten. Der nun wieder voll ausgebrochene Kashmirkonflikt, der seit der Teilung Indiens und Pakistans bereits zu zwei Kriegen (1947/48 und 1965) führte, hat seine Wurzeln unter anderem in diesem ideologischen Konzept. Eine Unabhängigkeit Kashmirs ist mit der Idee eines hinduistischen Großreichs inkompatibel. Daneben spielt natürlich das chauvinistische Großmachtdenken eine wesentliche Rolle.
55 Die BJP denkt wilhelminisch, aber mit einem religiös-fanatischen Überbau, der den nationalistischen Ehrgeiz ihrer Führer eher noch gefährlicher erscheinen läßt. Die BJP verspricht seit Jahren, Indien zur Atommacht zu machen, die moslemische Minderheit in die Schranken zu verweisen, keine Kompromisse hinsichtlich Kaschmir einzugehen und den pakistanischen Nachbarn zu zeigen, wer die stärkere Kraft auf dem Subkontinent ist. (Müller 1998, 5)
56 Die BJP trat zunächst politisch mit dem Ziel an, das Kastensystem zu festigen und die vermeintlichen Privilegien der unteren Schichten zu beschneiden, die diesen durch die Kongresspartei in Form von Quoten bei der Besetzung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst oder bei der Vergabe von Studienplätzen gewährt wurden. Der Aufstieg der unteren Kasten in gehobene Positionen verstößt nach Meinung der BJP gegen die heilige Ordnung, da die Aufgabe der niederen Kasten im Dienen und nicht im Herrschen besteht, so wie es im »Gesetz des Manu« festgeschrieben ist (Kap. X, 123). Die Wiederherstellung der heiligen Ordnung ist ihrer Meinung nach jedoch unabdingbar für das Wiedererstarken Indiens.
»We have to create a country … where the anti-Hindu shall bow before the will of the Hindu.«

Bal Thackeray
(1998, 112)
57 Relativ schnell erkannte die BJP jedoch, dass ihr durch dieses Programm zwei Drittel der Hindus als potenzielle Wähler entgehen, da diese kaum eine Partei wählen würden, die so offensichtlich gegen ihre Interessen operiert. Daraufhin schoss sich die BJP vor allem auf die muslimische Minderheit im Lande ein, die sie wegen deren Weigerung, den Sanātana Dharma zu akzeptieren, für die Probleme des Landes verantwortlich macht. Damit konnte die BJP weit größere Wählermassen – gerade auch in den unteren Kasten – mobilisieren als zuvor (Six 2001, 140). Dennoch ist die BJP vor allem eine Partei der aufstrebenden städtischen Mittelschicht und der höheren Kasten, die mit allen Mitteln eine Aufweichung des Kastensystems verhindern möchte, damit ihre Privilegien nicht verloren gehen (Six 2001, 142).
58 Im selben Fahrwasser wie die BJP schwimmt die Shiv Sena, die Armee Shivajis, die 1966 von Bal Thackeray gegründet wurde. Nur ist Shiv Sena noch um vieles militanter und gewaltbereiter als die BJP. Die Schlägertrupps der Shiv Sena sind nicht nur bei fast allen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen an vorderster Front, sondern sie sind auch oftmals deren Drahtzieher und Organisatoren, wie z.B. 1992 in Mumbai, als fast 1000 Menschen, vorwiegend Muslime, bei blutigen Ausschreitungen ihr Leben verloren. Thackeray spricht von Indien ausschließlich als Hindustan. Hindustan ist das Äquivalent zu Pakistan, ein religiös dominierter Staat, in dem ausschließlich die Gesetze des Hinduismus Gültigkeit haben:
59 It is our Hindustan we have to build. We have to create a Hindustan for Hindus. We have to create a country where Hindus are respected. The country where Hindutva will shine in all its glory. A country where the anti-Hindu shall bow before the will of the Hindu. That is the country we have to build. (Thackeray 1998, 112)

5. Der Fall Ayodhya

60 Inwieweit Religion in Indien heute benutzt wird, um fundamentalistisch-nationale Ideen zu verwirklichen und wie Religion selbst diese Fundamentalisierung betreibt, soll am Fall Ayodhya verdeutlicht werden. Im März 2001 kam es im westindischen Bundesstaat Gujarat zu blutigen Verfolgungen von Muslimen durch den Hindu-Mob. Auslöser war ein Attentat muslimischer Extremisten auf einen Zug, bei dem 54 Hindus starben, darunter viele Frauen und Kinder. Ein Großteil der Insassen dieses Zuges waren Mitglieder so genannter Freiwilligenverbände, Kar Sevaks genannt, die in der nordindischen Stadt Ayodhya am Bau eines Tempels für Gott Ram mitwirkten. Wieso führt der Bau eines Hindu-Tempels durch hinduistische Freiwilligenverbände zu einem Anschlag muslimischer Extremisten, der wiederum Unruhen hervorruft, die mehr als 1000 Menschenleben fordern?
61 Ayodhya ist einer der sieben heiligen Orte des Hinduismus. Die Stadt liegt im Bundesstaat Uttar Pradesh am Saryu, einem Nebenfluss des Ganges. Ayodhya gilt in der Mythologie als Geburtsort des Gottes Ram, der dort vor gut 5000 Jahren das Licht der Welt erblickt haben soll. Aber erst ab dem 11./12. Jahrhundert n. Chr. gibt es in Ayodhya eine Ram-Verehrung. Daneben ist es aber auch ein bedeutender muslimischer, jainistischer und buddhistischer Wallfahrtsort. 1528 wurde in Ayodhya die Babri-Moschee durch Mir Baqi, General des Herrschers Babar, Begründer der Moguldynastie, gebaut. Die Hindu-Fundamentalisten behaupten, dass die Moschee nicht nur genau auf Rams Geburtsort steht, sondern dass für den Bau der Moschee ein an dieser Stelle befindlicher Ram-Tempel zerstört wurde. Diese Behauptungen widersprechen allen seriösen archäologischen Befunden, die zur Klärung dieser Frage in Ayodhya durchgeführt wurden.
Babri-Moschee
enlarge Die Babri-Moschee vor ihrer Zerstörung
(Ausschnitt)
62 Seit dem 19. Jahrhundert gibt es Streit zwischen Hindus und Muslimen um die Nutzung des Geländes, der durch die englischen Kolonialherren dahingehend gelöst wurde, dass die Muslime die Moschee nutzen konnten und die Hindus im Hof Ram verehren durften. Als dann in der Nacht vom 22. zum 23. Dezember 1949 einige Hindus in die Mosche eindrangen und eine Ram-Statue errichteten, eskalierte der Streit. Da der Magistrat des Distrikts ein Anhänger des RSS war, verbot er kurzerhand den Muslimen den Zutritt, während Hindupriester vor Rams Statue weiter opfern durften. Die Gerichte untersagten daraufhin die Nutzung des Areals durch beide Gruppierungen. 1984 organisierte der Hindu-Weltrat, eine Kampagne zur »Befreiung des Geburtsortes Rams«, der sich auch die BJP und andere hindu-fundamentalistische Gruppierungen anschlossen. Die Aufstellung der Ram-Statue in der Nacht des 22. Dezember 1949 wurde kurzerhand zu einer Erscheinung Rams uminterpretiert, die natürlich den Bau des Tempels zwingend notwendig machte. Am 6. Dezember 1992 kam diese Kampagne der Verwirklichung ihres Ansinnens ein beträchtliches Stück näher, als in einer Nacht- und Nebelaktion Hindu-Freiwilligenverbände das Gelände der Moschee stürmten und diese dem Erdboden gleich machten, um dort einen Tempel für Ram zu errichten. Die darauf folgenden Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen kosteten fast 3000 Menschen, vorwiegend Muslimen, das Leben. Zur Errichtung des Tempels kam es bis zum heutigen Tag jedoch nicht, da das oberste indische Gericht eine Nutzung des Geländes strikt untersagt hat. Ungeachtet dessen befinden sich seit Beginn der 90er Jahre in Ayodhya Hunderte und Tausende von Freiwilligen, die Statuen, Säulen, Steine etc. für den Bau dieses Tempels herstellen.
63 Für die Hindu-Fundamentalisten ist Ayodhya das geistige Zentrum der Hindu-Nation und Ram ihr Führer und Herrscher. Das ideologische Schlagwort lautet Ramraj (Herrschaft Rams). Seit dem 17. Jahrhundert gilt er als Symbolfigur des Widerstandes gegen jegliche Form der Fremdherrschaft, die den Sanātana Dharma gefährdet. Ram ist der vorbildliche Gott schlechthin, der sein ganzes Leben nach den Gesetzen des Dharma ausrichtet. Er geht freiwillig mit seiner Gattin Sita in ein 14-jähriges Exil und gehorcht damit seinem Vater. In der Zeit des Exils in der Wildnis beschützt er Einsiedler vor den Dämonen. Auch als er die Herrscherwürde erlangt hat, verzichtet er auf sein persönliches Wohl und ordnet sich dem Dharma unter. So wie Ram den Dharma wiederherstellte, so wollen dies die Hindu-Fundamentalisten mit Hilfe Rams.
64 Dafür wird Ram zum männlichen Krieger stilisiert, der mittels Macht und Aggression die Feinde besiegt. Gerade die traditionell gepflegte Toleranz anderen Religionen gegenüber wird als Grund für die Schwäche des Hinduismus gesehen, sie gilt als »weiblich« und müsse durch »männlichen« Tatendrang und Kampfbereitschaft beseitigt werden. Ohne Gewalt ist dieser Kampf in den Augen der Hindu-Fundamentalisten jedoch nicht zu gewinnen, so dass deren Einsatz zu einem legitimen Mittel erklärt wird. Die Stilisierung Rams »von der Gottheit zum Kreuzritter« (Six 2001, 100) ist deswegen sehr abwegig, da die traditionelle Charakterisierung Rams ein anderes Bild zeichnet:
65 Ram wird beinahe durchgehend als warmherzige, liebende und vergebende Persönlichkeit skizziert, in Frieden mit sich selbst weilend und in ruhiger Harmonie mit seiner Familie. Selbst seine Körperstatur wird in den traditionellen Texten eher als schmächtig, zart, ja beinahe androgyn beschrieben. (Six 2001, 102-103)
66 Die von den Hindu-Nationalisten angestrebte Herrschaft Rams ist letztlich das »hinduistische Gegenkonzept zur islamischen Theokratie« (Hummel 1991, 21). Bezeichnend ist dabei, dass die religiöse Vielheit, die kennzeichnend für den Hinduismus ist, auf einen Gott reduziert wird. Ob sich dieses national-religiöse Konzept auf Dauer durchsetzen wird – die Fixierung auf Ram als obersten Gott, verstößt letztlich gegen die religiösen Interessen all jener Hindus, die einen anderen Gott verehren –, hängt wohl davon ab, inwieweit es den Fundamentalisten gelingt, den Ram-Kult als nationales Symbol der Hindutva zu etablieren. Erste Anzeichen dafür, dass es gelingen könnte, gibt es bereits (Six 2001, 102).

6. Besonderheiten und Gefahren des Hindu-Fundamentalismus

Andreas Schworck:
Ursachen und Konturen eines Hindu- Fundamentalismus in Indien aus modernisierungs- theoretischer Sicht.
Konstanz 1996.
external linkDissertation


Uwe Flock:
»Hindu-Fundamentalismus als politische Kraft«.
In: Solidarische Welt 181 (2003).
external linkArtikel


Stefan Mentschel:
»Im Namen Gottes.
Die Zerstörung der Babri-Moschee von Ayodhya«.
In: Südasien Online.
2002.
external linkArtikel
67 Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die Besonderheiten des Hindu-Fundamentalismus eingehen, da er Verhaltensweisen und ideologische Konzepte aufweist, die wir in anderen fundamentalistischen Bewegungen so nicht kennen. Der Hindu-Fundamentalismus ist ein Fundamentalismus der Orthopraxie und nicht der Orthodoxie. Dies scheint der gerade geleisteten Darstellung der verschiedenen politisch orientierten hindu-fundamentalistischen Organisationen allerdings zu widersprechen. Ist nicht die massive ideologische Propaganda gegen Muslime und Christen, die oft genug in blutigen Unruhen eskaliert, ein Ausdruck religiös intoleranten Verhaltens, das wir als Fundamentalismus der Orthodoxie, also der Glaubenslehre, verstehen müssen, ähnlich dem islamischen Fundamentalismus, der seine Unduldsamkeit gegen andere Religionen dogmatisch begründet? Jede andere Religion neben dem Islam ist Unglauben – auch wenn Judentum und Christentum aufgrund der Tatsache, dass sie zu den Schriftbesitzern zählen, nicht völlig fern der Wahrheit stehen –, da nur der Islam, und hier natürlich nur die jeweilige fundamentalistische Gruppierung, die göttliche Botschaft in ihrer unverfälschten Reinheit aufgenommen hat. Deswegen haben andere Religionen neben dem Islam kein Existenzrecht.
68 So würde ein Hindu-Fundamentalist jedoch nie argumentieren. Seiner Meinung nach darf jeder den Gott seiner Religion verehren, wenn er akzeptiert, dass auch die hinduistischen Götter Ausdrucksformen dieses Gottes sind. Damit befindet er sich noch auf dem Boden der universalistischen oder inklusivistischen Ausrichtung seiner Religion. Nicht die Tatsache, dass der Muslim Allah oder der Christ Christus verehrt, stört ihn, sondern deren Exklusivismus, der sich praktisch darin äußert, dass beide Religionen den Sanātana Dharma nicht akzeptieren und sich ihm nicht unterordnen. Mit der Weigerung ihrer Anerkennung und der faktischen Nicht-Befolgung der heiligen Ordnung, ist diese jedoch aus dem Lot geraten, was zu sozialem und gesellschaftlichem Chaos geführt hat, welches nur beseitigt werden kann, wenn alle den Sanātana Dharma befolgen. Deswegen behaupten auch die Fundamentalisten des RSS, dass sie, trotz ihrer anders lautenden Propaganda, nichts gegen Muslime und Christen in Indien haben, so sie sich denn hinduisieren, d.h. den Sanātana Dharma anerkennen.
69 Ein wesentlicher Unterschied zum islamischen oder jüdischen Gesetzesverständnis, das die Shari'a bzw. die Halacha als Ausdruck des göttlichen Willens interpretiert, liegt im Hinduismus darin, dass der Sanātana Dharma noch über den Göttern steht. Er ist daher nicht Ausdruck des göttlichen Willens. Wer ihn nicht befolgt, missachtet nicht einen Gott, sondern die kosmische Ordnung selbst.
70 Eine weitere Gefährdung der heiligen Ordnung sehen die Fundamentalisten in der Auflösung der starren Hierarchie des Kastensystems, da dieses Ausdruck der perfekten Ordnung ist. Konkret bedeutet dies, dass der Hindu-Fundamentalismus gegen zwei Feinde operieren muss, nach außen gegen all jene, die den Sanātana Dharma durch das Bekenntnis zu einer anderen Religion nicht anerkennen, und nach innen gegen all jene, die das Kastensystem durch die Nicht-Befolgung der strengen Kastenregeln aushöhlen.
71 Während sich die islamischen Fundamentalisten gerade auf die verarmten Volksmassen stützen können, ist dies den Hindu-Fundamentalisten so nicht möglich, da zwei Drittel aller Hindus als Angehörige der unteren Kasten durch die starre Kastenordnung benachteiligt sind und daher auf deren Zementierung kaum einen Wert legen. Auch widerspricht die Konzentration des Hinduismus auf den brahmanischen Sanskrit-Hinduismus durch die Fundamentalisten dem volkshinduistischen Glaubensleben mit seiner Vielzahl von Riten und Kulten, die zum Teil aus vorarischer Zeit stammen. Dass man dieses Problem von Seiten der Fundamentalisten und Nationalisten erkannt hat, zeigt der Kurswechsel der BJP.
72 Was den Hindu-Fundamentalismus zu einer internationalen Gefahr macht, ist seine politische Richtung, die vom Subkontinent als politischer Einheit unter hinduistischer Vormacht träumt. Ein Traum, der mit dem pakistanisch-islamischen Nationalismus kollidiert und die reelle Gefahr eines Atomkriegs in sich birgt, da die Fundamentalisten auf beiden Seiten auch gewillt sind, diese Waffen einzusetzen.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 5 (2004).
Online: http://them.polylog.org/5/ack-de.htm
ISSN 1616-2943
Quelle: external linkpolylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 12 (2004), 99-114.
© 2004 Autorin & polylog e.V.

Literatur

Anmerkungen

1
Auf die oftmals verblüffenden Ähnlichkeiten der frühvedischen Religion zum Judentum kann ich hier leider nicht eingehen. go back
2
Zum Zusammenhang von Kaste, Beruf, Lebensregeln, Macht, Verwaltung, Ernährung vgl. Dumont 1976. go back
3
Zum Einsatz der Medien als ideologisches Instrument der Hindu-Fundamentalisten vgl. Six 2001, 140. go back
4
Die Empfindung des Fremden als Bedrohung der eigenen Welt ist aber nicht erst ein Phänomen des modernen Hindu-Fundamentalismus politischer Prägung. Sie ist bereits ein Wesenszug des brahmanischen Sanskrit-Hinduismus. Der Mleccha, der Fremde, der kein Teil der Kastenordnung ist und damit letztlich den Status eines Kastenlosen hat, bedroht die rituelle Reinheit des religiösen Systems. Das Misstrauen gegenüber dem Fremden ist also ein religiös motiviertes Misstrauen, das sich im politischen Kampf als Angst vor kultureller Überfremdung und Verunreinigung erneut artikuliert, wie der Kampf der Hindu-Nationalisten besonders in den 90er Jahren gegen Pepsi Cola und amerikanische Fastfood-Ketten deutlich zeigt. Vgl. Six 2001, 35-50. go back
5
Diese Reinigungszeremonie ist nötig, um die kastenlosen Fremden quasi vom Makel der Kastenlosigkeit zu reinigen. go back
6
Golwalkar dazu weiterhin: »ALL THOSE NOT BELONGING TO THE NATIONAL i.e. HINDU RACE, RELIGION, CULTURE AND LANGUAGE, NATURALLY FALL OUT OF PALE OF REAL ›NATIONAL‹ LIFE. … Those only are nationalist patriots, who, with the aspiration to glorify the Hindu race and nation next to their heart, are prompted into activity and strive to achieve that goal. ALL OTHERS ARE EITHER TRAITORS AND EVEN ENEMY TO THE NATIONAL CAUSE OR. TO TAKE A CHARITABLE VIEW IDIOTS.« (Zit. nach Quraishi 1991) go back

Autorin

Katharina Ceming (*1970) ist Privatdozentin für Fundamentaltheologie an der Universität Augsburg und nimmt zurzeit eine Vertretungsprofessur für Systematische Theologie an der Universität Paderborn wahr. Von 1990 bis 1995 studierte sie an der Universität Augsburg Katholische Theologie und Germanistik. 1999 promovierte sie in Philosophie mit einer Arbeit zu Mystik und Ethik bei Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte. 2002 folgte die Habilitation in Fundamentaltheologie zum Thema Einheit im Nichts. Die mystische Theologie des Christentums, des Hinduismus und Buddhismus im Vergleich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mystik, Religionstheologie und -philosophie, interreligiöser Dialog und Weltreligionen.
PD Dr. Katharina Ceming
Hochfeldstr. 28
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