polylog
themen · fokus
themen literatur agenda archiv anthologie kalender links profil

Morteza Ghasempour

Tragische Erkenntnis und existentielle Sinnvergewisserung

Ein ost-westlicher Polylog

English
Summary

Philosophy and religion essentially strive to give meaning to the human existence. In the recent secular times, religious thought has lost much of its impact due to the loss of credibility that universal concepts had to endure. Philosophical reasoning supposed to fill the gap left by religion in these times either develops pessimistic or mildly optimistic conceptions of human existence, that all have one thing in common: They are deeply imbued with the conviction that meaning cannot be rooted in the transcendent. This essay outlines the pessimistic conceptions of Schopenhauer and Shakespeare and contrasts them with the humanistic hedonism found in the works of the Persian poet Omar Chayyam (that announces the ideas brought forth later on by Nietzsche and Camus). The poet's existential reasoning offers a conception of human existence that is devoid of groundless metaphysical hopes and may therefore prove fruitful in an intercultural debate on anthropology that dispends with transcendence and embraces the earthly condition of human beings.

Inhalt

1. Vorbemerkung

Das der Religion und Philosophie gemeinsame Motiv der Sinnbildung stellt eine zentrale Erkenntnisquelle beider Bereiche dar, indem es sie zu plausiblen Erklärungen und Begründungen etwa kosmologischer, ontologischer, geschichtsphilosophischer oder epistemologischer Art antreibt. 1 Das Verhältnis von Religion und Philosophie lässt sich unter anderem anhand des Nachdenkens über eines der wichtigsten Anliegen beider, nämlich ihre existentielle Sinnstiftungsabsicht, thematisieren. Dieses der Religion und Philosophie gemeinsame Motiv der Sinnbildung stellt zugleich eine zentrale Erkenntnisquelle beider Bereiche dar, indem es sie zu plausiblen Erklärungen und Begründungen etwa kosmologischer, ontologischer, geschichtsphilosophischer oder epistemologischer Art antreibt. Das Motiv der erkenntnisgestützten Sinnstiftung wird allerdings in der nihilistischen Epoche der Moderne, in der vor allem die religiösen Glaubensinstanzen erschüttert werden, zunehmend von den philosophischen Reflexionen übernommen, die auf die Sinnfrage mit unterschiedlichen Konzepten reagieren.
2 Anhand der Darstellung einiger paradigmatischer philosophischer Behandlungsweisen dieser Frage soll versucht werden, die Grundweisen der Thematisierung dieses Problems, und zwar in einem interkulturellen Dialog verschiedener Lösungsvorschläge, aufzuzeigen und kritisch nachzuvollziehen. Dabei soll gezeigt werden, wie aus einer Situation nachlassender Möglichkeiten der religiösen Sinnvergewisserung und der tragischen Erkenntnis des nihilistischen Charakters des menschlichen Daseins philosophisch unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden.
3 Während Denker wie Arthur Schopenhauer und William Shakespeare eine pessimistische Konzeption der Lebensverneinung aufstellen, bieten Philosophen wie Friedrich Nietzsche, Albert Camus und Omar Khayyam entgegengesetzte Konzepte an, die sich im Dialog miteinander erläutern sollen. Die Erörterung der Weltanschauuung des iranischen Dichter-Philosophen Khayyam trägt nicht zuletzt dazu bei, die Untersuchung auch thematisch in einen interkulturellen Vergleichs- und Reflexionszusammenhang zu stellen.

2. Die interkulturelle Deutungsperspektive

»Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Punkte der Erkenntnis im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe.«

Friedrich Nietzsche
(Anm. 2)
4 Zu den konstitutiven Einsichten einer interkulturell sensibilisierten Geisteshaltung gehört die epistemologisch fundierte Skepsis gegenüber der puristischen Deutungstendenz, welche die Phänomene in ihrer irreduziblen Komplexität und Vielschichtigkeit schematisch entdifferenziert und der reduktionistischen Logik einer konstrukthaften Atomistik unterwirft.
5 In kritischer Abhebung von dieser mechanistisch-simplifikatorischen Sichtweise gilt es, im Geiste einer interkulturellen Denkungsart der polysemen Verfasstheit der kulturellen Gebilde und ihrer relationalen Geflechtstruktur gewahrzuwerden und philosophisch zu entsprechen. Im Lichte einer solchen Analytik, welche die Kulturalität grundlegend als Interkulturalität bewusst werden lässt, würde sich jede homogenistisch missverstandene Kulturerscheinung als ein Geflecht unterschiedlicher Kräfte und Komponenten erweisen.
6 Überträgt man diese Denkweise auf die Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Religion, so lassen sich die traditionellen polaren Deutungen derselben ebenfalls als fragwürdig problematisieren. Die gängige Entgegensetzung von Logos und Mythos, von Wissen und Glauben, von Wissenschaft und Weisheit, von Denken und Dichten, bezieht ihre zählebige Fortexistenz aus der Vorherrschaft einer solchen Deutungstradition, die durch die Reifikation der partiellen Geschiedenheit dieser Sachverhalte deren Überlappungen und Übergänge ignoriert und folglich zur Ausbildung folgenschwerer Ordnungen hierarchischer Ausgrenzung geführt hat.
7 Die Irrationalität der puristischen Deutungen beruht gerade auf dieser verzerrenden Ausblendung phänomenkonstitutiver Momente etwa zugunsten der Produktion einer abstrakten Stringenz, formalen Kohärenz oder kategorialen Transparenz.
8 Bei der Befolgung einer solchen Deutungstradition, welche die Verflechtungsvielfalt der Erscheinungen zu entgegengesetzten Gegenstandseinheiten vergröbert und folglich hermetische Systeme monadischer Unüberbrückbarkeit produziert, könnte leicht übersehen werden, dass die Absichten und die Erkenntnisquellen, ja sogar die Methoden und Verfahrensweisen der Philosophie sich nicht selten mit denen der Kunst oder der Religion überschneiden. Dass die Philosophie zumindest in einem erheblichen Teil ihrer geschichtlichen Existenz durch das Bedürfnis motiviert ist, religiös Geglaubtes argumentativ zu rationalisieren, zeugt ausdrücklich von den prädiskursiven Erkenntnisquellen philosophischer Bemühungen. Nietzsches Feststellung, die theoretischen Fragen würden den Philosophen nicht von »reine[r] Geistigkeit« 1 vorgegeben, unterstreicht den Charakter wechselseitiger Angewiesenheit der Denk- und Handlungsbereiche und legt damit das Missverständnis einer naiven Theorie-Praxis-Trennung frei.
9 Das immerwährende, aber variable Inhärenzverhältnis von Philosophie und Religion verschob sich immer dort am meisten zugunsten der Religion, wo jene die Aufstellung unbedingter Wahrheiten intendierte, welche dem Bedürfnis nach einer endgültigen Glaubensüberzeugung Rechnung tragen sollten. Nietzsches genealogische Analyse der theologischen Wurzeln philosophischer Letztbegründungen, die dem Status religiöser Glaubensbekenntnisse entsprechen, enthüllt selbst in der begrifflichen Sprache der Philosophie die theologischen Ablagerungen vorbegrifflicher Überzeugungen. Seine Ausleuchtung der Tiefenintentionen philosophischer Wahrheitsbestrebungen und der diesen innewohnenden diversen Bedürfnisstrukturen legt wahrheitsarchäologisch das primordiale Ineinanderverhältnis von philosophischen Letztbegründungen und religiös-psychologischen Glaubensbedürfnissen frei: »Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Punkte der Erkenntnis im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe.« 2
»Wenn ich mich bei'm Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Gränzen der Menschheit resignire oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornirten Individuums.«

Johann Wolfgang
von Goethe
(Anm. 3, 577)
10 Es kann freilich bei einer solchen Diagnose nicht darum gehen, die motivischen oder gegenstandsbezüglichen Überschneidungen zwischen den Sinnsphären Philosophie und Religion aufzuheben, sondern vielmehr darum, sie als solche kritisch zu durchschauen. Denn die Erkenntnis einer solchen sinnsphärischen Konstellation und der lebensweltlichen Bedingtheiten diskursiver Letztbegründungen nimmt erheblichen Einfluss auf den Umgang mit der Wahrheitsfrage, indem sie wahrheitskritisch die genetischen Konstruktionsbedingungen solcher unbedingter Wahrheiten und somit ihre Geltungsgrenzen aufdeckt.
11 Dieser Ansicht nach war die Philosophie ihrem aufklärerischen Ethos immer dann am nächsten, wenn sie dem Drang nach einer absoluten Wahrheit nicht unterlag und den beschwerlichen Gang unabschließbarer Aufklärung nicht unterbrach. Jenes unaufhebbare Staunen, das laut Goethe den Erkennenden am Ende in »Resignation« scheitern lässt, 3 auszuhalten, ohne es in die beruhigende Sicherheit einer letzten Wahrheitserfindung aufzuheben, verbürgt trotz seiner Tragik eher die Möglichkeit einer humanen Kultur der Offenheit, was Lessing in seiner Bevorzugung der Wahrheitssuche vor dem Wahrheitsbesitz eindrucksvoll zu bedenken gibt.
12 Betrachtet man jedoch die Wahrheitsthematik in ihrer wertbegrifflichen Bedeutung, welche darin besteht, die individuell-existentiellen sowie die kollektiv-gesellschaftlichen Seins- und Handlungsbereiche des Menschen normativ zu sanktionieren, so stellt sich heraus, dass der Rede von letzten Wahrheiten sowohl in der Philosophie als auch in der Religion stets die praktische Absicht einer verbindlichen Sinnkonstituierung zugrundelag. Das Postulat der unbedingten Wahrheit bezweckt in axiologischer Hinsicht die Etablierung eines letztgültigen Sinnfundaments, wobei untergründig unterstellt wird, dass das Dasein ohne ein zureichendes Sinnsubstrat ungerechtfertigt sei. In dem Versuch der Philosophie, diesem Sinnstiftungsbedürfnis etwa mittels der Konzipierung diverser Systeme von Kosmodizee oder Theodizee zu genügen, zeigt sich die innere Verwobenheit von Philosophie und Religion am deutlichsten.
13 Wann immer aber das Vertrauen in das Übersinnliche und in dessen primäre Legitimationsstätte Religion zu entschwinden begann, sah sich die Philosophie dringlicher gefordert, als sinnstiftender Ersatz wirksam zu werden. So war es im Mittelalter und zumTeil auch in der Neuzeit, als es nötig wurde, Gott rational zu beweisen, und so ist es in der nihilistischen Epoche der Moderne, in der die Philosophie ihre theologische Referenzmöglichkeit am stärksten eingebüsst hat, es aber not tut, nach der historischen Erfahrung umgreifender »Götzendämmerung« ideelle Ersatznormen anzubieten.
14 Nach Hegels Philosophie, dem letzten monumentalen Versuch, dem religiösen Glaubensbedürfnis philosophisch zu entsprechen, und nach der Erschütterung des Vertrauens in die Möglichkeiten metaphysischer Sinnvergewisserung war die philosophische Besinnung weniger denn je in der Lage, an den Beistand theologischer Rekurse zu appellieren. Die nihilistische Erfahrung der modernen Gottverlorenheit reduzierte die Gemeinsamkeit von Philosophie und Religion auf das Motiv der Sinnstiftung, indem der Philosophie die Möglichkeit entzogen wurde, sich auf jene metaphysischen Gegenstände einzulassen, die auch und vor allem die Domäne der Religion bilden.
»Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.«

Albert Camus
(Anm. 4)
15 Infolge der Heraufkunft des modernen Nihilismus als des Resultats der Entwertung herkömmlicher metaphysisch-religiöser Sinninstanzen avanciert deshalb die Frage nach dem Sinn des Daseins zum zentralen Thema der Philosophie, die nunmehr in einem beträchtlichen Ausmaß die traditionell durch Religion verbürgte Aufgabe der Sinnstiftung übernimmt.
16 Mehr denn je ist deshalb die nachmoderne Philosophie, wo sie selbst nicht nihilistisch verwüstet worden ist, in einer geschichtlichen Periode der Depotenzierung der religiösen Weisen verbindlicher Sinnstiftung auf die Entdeckung innerweltlicher Quellen der Sinngebung angewiesen, ohne auf die übersinnlichen Legitimationsinstanzen religiöser Sinnstiftung rekurrieren zu können.
17 Das Projekt lebensweltrelevanter Sinnbegründung ohne Rückgriff auf das traditionelle, nihilistisch antiquierte Begriffsinstrumentarium wird damit zum Grundanliegen der nachmodernen Philosophie, und der Konvergenzbereich von Religion und Philosophie beschränkt sich nach dem Verzicht der Philosophie auf die Inanspruchnahme religiösen Gegenstandsrepertoires nunmehr auf das Motiv der Sinnreflexion.
18 Nicht zufällig wird die Frage, wie angesichts einer transzendenzverlorenen Lebenswirklichkeit der nihilistischen Moderne ein lebensregulatives Maß an Sinnpotential aufgedeckt oder hergestellt werden kann, zur Grundfrage der geistigen Bemühungen in moderner, nihilistisch verödeter Epoche emporgehoben. 4
19 Nietzsches spannungsreiche Anstrengung, eine heidnische Kosmodizee auf der Grundlage der immanenten Verfasstheit der Welt zur Quelle einer transzendenzbefreiten Hoffnung zu erheben, Schopenhauers soteriologische Konzeption der Heiligkeit, Heideggers fundamentalontologische Revitalisierung der mystischen Erlösungstheorie der Gelassenheit, Sartres existentialistische Extrahierung einer humanistischen Einstellung aus der Krise der Transzendenz und Camus' Bemühung, aus der metaphysischen Verlassenheit des modernen Menschen dessen düsteres Glück zu formen, zeigen einige prominente philosophische Anstrengungen an, die von der unermüdlichen Suche nach einem Ausweg, der die nihilistische Not der Moderne wenden will, ebenso zeugen wie von ihrer fatalen Ausweglosigkeit.
20 Wo immer der Mensch in der Geschichte in eine solche nihilistische Situation gestellt wurde, in der die metaphysische Zuversicht dem Argwohn skeptischer Vernunft nicht standhielt, kam es in der Tradition philosophischer Weltauslegung zur resignativen Negation des Lebens (Schopenhauer, Shakespeare), zur Einführung neuer Refugien der Hoffnung (Nietzsche) oder aber zum letztmöglichen Versuch, ohne solche Instanzen, ja gerade aufgrund radikaler Emanzipation von solchen Sinninstanzen, auf dem Leben zu beharren (Camus, Khayyam 5).
21 Schopenhauer, dessen Welt- und Menschenbild mit dem von Shakespeare konvergiert, begründet im Horizont seiner Metaphysik des Willens zum ersten Mal auf einer systematischen Grundlegungsebene ein destruktives Weltwesen als die leiderzeugende und deshalb verneinungswürdige Urquelle alles Seins und verschafft dem Pessimismus, den Nietzsche als Vorform des Nihilismus bezeichnet, eine philosophische Rechtfertigung. Nietzsche selbst, dessen Programm der Überwindung des Nihilismus Camus zu seinem Sisyphos-Konzept inspiriert, führt das Nihilismus-Problem im Kontext seiner genealogischen Kritik an der Tradition des abendländischen Denkens aus; und Khayyam stellt den Grundtypus des persischen Skeptizismus dar, in dem er auf eine exzeptionelle Weise Nihilismus, Hedonismus und Humanismus zusammendenkt.
22 An einem Polylog dieser Denker, die auf originäre Weise die nihilistische Welterfahrung des Menschen und die damit verbundende Sinnfrage als die Grundfrage philosophischer Besinnung thematisiert und unterschiedlich entschieden haben, sollen nun die genannten philosophischen Thematisierungsweisen dieser Problematik aufgezeigt werden. Zudem ist ein solcher philosophischer Polylog geeignet, das authentische Profil und die wegweisende Aktualität jeweiliger Thematisierungsalternativen hervortreten zu lassen. Ausführlicher soll dabei Khayyams diesbezüglich aufschlussreicher Ansatz anhand einer rekonstruktiven Explikation der philosophischen Implikate seines Werkes dargelegt werden.

3. Pessimistische Weltinterpretation

Kelley L. Ross:
Arthur Schopenhauer.
external linkEinführung


Projekt Gutenberg:
Arthur Schopenhauer.
external linkWebarchiv


Schopenhauer-
Gesellschaft e.V.:
external linkWebsite
23 Mit Schopenhauers Denken vollzieht sich eine folgenreiche Umwertung der herkömmlichen Prinzipien metaphysischer Weltdeutung. Im Gegensatz zu traditionellen Bestimmungen des metaphysischen Urgrundes als des Guten oder des Göttlichen, welche die ontologische Basis für die Plausibilisierung der Zweckmäßigkeit der Welt und der Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins geliefert hatten, erklärt Schopenhauer im Horizont seiner philosophischen Auslegung der konkreten Erfahrung der Negativität ein destruktives Prinzip zum metaphysischen Weltgrund, der als ein blinder, zielloser und egoistisch-imperialer Wille die Welt und das Leben als seine Objektivationen hervorbringt und ihnen seinen wesensimmanenten Mangelcharakter aufprägt. Als diese Objektivation des zerstörerischen Willens ist die Welt nichts anderes als eine finstere Region vielfältiger Leidensformen und das Leben eine permanente Qual, die nur durch die Negation ihres metaphysischen Prinzips, des Willens, mit dem zugleich das gesamte Leben negiert wird, endgültig aufgehoben werden kann.
24 Dieser metaphysisch fundierte Pessimismus bildet die philosophische Grundlage dafür, der Welt prinzipiell dem Dasein jede Kommensurabilität mit menschlichen Glücksabsichten und damit dem Dasein jeden Sinn seines Fortbestandes abzusprechen. 6 Der Pessimismus ist somit die Grundgestalt des Nihilismus bei Schopenhauer, der in enger Anknüpfung an den negativen Sinnbegriff des Buddhismus einen Sinn ausschließlich in der Verneinung des Daseins zulässt. Nicht zufällig, sondern aufgrund einer beträchtlichen Geistesaffinität beruft sich Schopenhauer zur Bekräftigung seiner optimismuskritischen Weltauslegung mehrfach auf Shakespeare, dessen Tragödien als dramatische Präfigurationen von Schopenhauers philosophischer Gedankenwelt gedeutet werdern können und dessen Weltbild Schopenhauer auf der Ebene diagnostischer Beschreibung vollkommen zustimmt. 7
Rod Andriz:
William Shakespeare.
external linkWebsite


Projekt Gutenberg:
William Shakespeare.
external linkWebarchiv


Deutsche Shakespeare-
Gesellschaft e.V.:
external linkWebsite
25 Shakespeares Auseinandersetzung mit nihilistischer Weltwahrnehmung in ihren unterschiedlichen Nuancen ist vor allem in den Tragödien Hamlet, König Lear und Macbeth theatralisch manifestiert worden. Macbeths Feststellung, das Leben sei »eine Geschichte, erzählt von einem Idioten, voller Schall und Raserei, ohne Bedeutung« 8, resümiert diese nihilistische Seinsauslegung, die hier primär psychologisch-charakterologisch kontextualisiert ist und aus der Macbeth die moralische Unbedenklichkeit seiner fortschreitenden Dehumanisierung schlussfolgert. Bis auf diese Schlussfolgerung teilt auch König Lear Macbeths nihilistische Optik einer »verfluchten« Welt, in der »Tolle Blinde führen« 9 und deren bestimmende Attribute Wahnsinn, Blindheit und Narrheit seien.
26 Vor allem aber stellt Hamlet eine dramatische Version philosophischer Besinnung auf die Nihilismusproblematik dar. Denn hier wird nicht nur das Thema im Kontext ontologischer und anthropologischer Reflexionen abgehandelt, sondern auch die moderne nihilistische Fragestellung in ihrer philosophischen Fundamentalgestalt ausformuliert; die Frage nämlich, ob das Nicht-Sein dem Sein vorzuziehen sei.
27 Das Theorem der faktisch unabweisbaren Sinnlosigkeit des Daseins wird bei Shakespeare, und darin stimmt er durchaus mit Khayyam überein, aus der subjektiven Erfahrung der Nichtigkeit und der Bestandlosigkeit als der ontologischen Grundordnung alles Seienden abgeleitet.
28 Das Werden, das subjektiv als das Verhängnis unentrinnbarer Vergänglichkeit erfahren wird, stürzt alles in den Abgrund der Bedeutungslosigkeit und liegt deshalb der melancholischen Gestimmtheit und der Tragik des menschlichen Daseins zugrunde.
29 Hamlets Beschreibung des Menschen als eines »Meisterwerks« und als der »Zierde der Welt«, der aber doch nichts anderes ist als die »Quintessenz von Staub« 10, die Khayyams Anthropologie entspricht, ist die anthropologisch adäquate Paraphrasierung dieses pessimistischen Weltverständnisses, in dem die Welt als »ein stattliches Gefängnis« und »ein wüster Garten« dem Aufenthaltswunsch des Menschen in ihr nicht entgegenkommt: »Wie ekel, schal und flach und unersprießlich scheint mir das ganze Treiben dieser Welt« 11, sagt Hamlet und formuliert damit die moderne Erfahrung flagranter Fremdheit und Einsamkeit des akosmischen Subjekts der Neuzeit in einer ihm vergegenständlicht und unversöhnlich gegenüberstehenden Weltwüste.
30 Wenn Hamlet in der Gesprächsszene mit den Totengräbern den achtlos hingeworfenen Menschenschädel als eindeutige Metapher der Vergeblichkeit der menschlichen Existenz anspricht und im unablässigen Räsonieren über seinen sinnleeren Werdegang die quälende Einsicht herleitet, »zu was für schnöden Bestimmungen wir kommen«, indem selbst ein Weltherrscher nach seinem Tode darin enden kann, als Lehm zur Stöpfung eines Bierfasses zu dienen 12, dann klagt er diese Bestandlosigkeit als ontische Grundlage einer empörenden Existenzabsurdität an, angesichts derer das Weiterleben die Selbsterniedrigung der Dignität jeder edelmütigen Seele bedeutete. Hamlets tragische Abwendung von der Welt resultiert aus seiner Erfahrung ihrer absoluten Indifferenz gegenüber dem menschlichen Schicksal, die ein verzweifeltes Bewusstsein der Bedeutungslosigkeit allen menschlichen Tuns erzeugt, das seinerseits den Willen zu jeglichem Handeln lähmt.
31 Die tragische Erkenntnis dieser waltenden Ordnung ontischer Sinnabwesenheit gebiert die schwermütige Seelenverfassung und die praktische Resignation Hamlets, dessen sittliche Größe darin besteht, sich durch Tatverweigerung der affirmativen Komplizenschaft mit einer absurden Weltkonstitution zu enthalten.
32 Die verheerende Kollision des Menschen mit einer indifferenten Seinsordnung, die sich der Erfassung mittels normativer Sinnvorstellungen entzieht, erzeugt für den, der diesen Widerspruch nicht durch die Aufhebung seines präskriptiven Anspruchs zu beheben weiß, jenen edlen Pessimismus, der jede Leugnung der Vergeblichkeit des Daseins nur als Beweis intellektueller Depravation und moralicher Degeneration gelten lässt.
33 Die Frage, ob der Mensch in der Welt unter Voraussetzung ihrer, dem menschlichen Sinnbedürfnis entgegengesetzten Verfasstheit beheimatet sein kann, ohne an ihr zugrundezugehen, wird hier negativ entschieden. Die Welt und die menschliche Sinnerwartung erweisen sich als unversöhnliche Pole eines existenzwidrigen Widerspruchs, der nur durch den tragischen Untergang des Menschen aufgehoben werden kann.

4. Khayyams humanistischer Hedonismus

Jens Dechering /
Mike Wolke:
Nietzsche-Spuren.
external linkWebsite


Johann Prossliner:
Nietzsche-Online.
external linkWebsite

Projekt Gutenberg:
Friedrich Wilhelm Nietzsche.
external linkWebarchiv


Nietzsche-Gesellschaft e.V.:
external linkWebsite
34 Gerade diesen Widerspruch sucht Khayyam, dessen philosophische Gedankenwelt in ihrem antizipatorischen Sinnreichtum ungewöhnlich modern anmutet, in einer anderen Weise zu beseitigen, und zwar kraft der Aufgabe der normativen Sinnerwartungen sowie des hedonistischen Widerstandes gegen die nihilistische Verfasstheit des Daseins. Damit nimmt Khayyam Nietzsches Überwindungsstrategie des Nihilismus durch eine ihn verschärfende Weltbejahung partiell vorweg, die er in seiner Rede von der ewigen Wiederkehr des Gleichen pointiert: »Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ›die ewige Wiederkehr‹. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ›Sinnlose‹) ewig!« 13
35 Während aber Nietzsche mit seinem Projekt der Bejahung der platonisch-christlich annihilierten Welt, das heißt mit dem Konzept des Wollens des Sinnlosen den Versuch einer neuen Sinngebung unternimmt, um der sinnverlorenen Welt kraft seiner heidnischen Kosmodizee eine neue Rechtfertigung zu verschaffen, verzichtet Khayyam aufgrund seiner skeptischen Überzeugung von dem Kontingenz- und Arbitraritätscharakter möglicher Sinnzuschreibungen darauf, die ontologische Beschaffenheit der Welt im Rahmen einer »Philosophie der Wünschbarkeit« geschichtstheoretisch festzulegen und zugunsten einer normativen Rechtfertigung derselben wertbegrifflich in Anspruch zu nehmen.
36 Seine entschieden agnostizistische Weigerung, der Welt irgend einen Sinn zuzuschreiben, resultiert aus seiner radikalen Erfahrung des enigmatischen Charakters des Kosmos, der sich durch keine religiöse oder philosophische »Erzählung« auflösen lässt. Jede Sinnzuschreibung würde nach Khayyam die Unterstellung einer Weltabsicht und die Möglichkeit voraussetzen, das »kosmische Rätsel« seines Geheimnisses zu berauben, was mit Khayyams erkenntniskritischer Ansicht von der Unmöglichkeit einer solchen Sinnzuschreibung unvereinbar wäre.
37 Dem entspricht Khayyams freidenkerische Dogmatismuskritik, die in seiner unerbittlichen Ablehnung der Idee einer endgültigen Begreifbarkeit und folglich der Letztbegründbarkeit innerweltlicher Geschehnisse wurzelt. Mit seiner Bezeichnung aller Ergründungsversuche diverser Provenienz als »Märchen«, die am Ende nichts weiter als doxahafte Mutmaßungen sind, denen der Zugang zum Schlüssel des Welträtsels versagt bleibt, unterstreicht er terminologisch diesen konstitutiven Gedanken seines Weltverständnisses.
38 Nicht zuletzt ist es die Beobachtung der Vielheit unterschiedlicher, sich als Gewissheiten missverstehender »Märchenerzählungen«, die für Khayyam vor allem ihre epistemische Unzulänglichkeit, zugleich aber auch die Unzugänglichkeit der Wahrheit indiziert und seine wahrheitskritische Einstellung gegenüber dogmatischen Wahrheitsbehauptungen verifiziert. Im Lichte seiner skeptischen Lehre von der prinzipiellen Unerkennbarkeit des substantiellen Ansichseins der Welt entschärfen sich alle hypostasierten Wahrheitsentwürfe zu vielfältigen Modi vorläufigen Für-wahr-Haltens und verlieren damit ihren diskursiven Totalitarismus. Die einer Kultur der Toleranz und der Anerkennung entsprechende epistemologische Einstellung ist deshalb für Khayyam der Skeptizismus, nicht der Dogmatismus.
»Wir sind Marionetten und Marionettenspieler das Himmelsrad,

und das ist gewiss, keine Fiktion,

eine Weile spielten wir in diesem Weltgetriebe,

und entschwanden wieder ins Nichts einer nach dem andern.«

Omar Khayyam
(Anm. 14)
39 Aus einer Sphäre des Unbekannten in eine Welt hineingeworfen, deren opake Ordnung er nicht zu begreifen vermag, erleidet der Mensch Khayyam zufolge das sinnverschleierte Schicksal von »Marionetten«, die kurz auf der kosmischen Theaterbühne verweilen, bevor sie wieder ins Anonyme entschwinden. 14 Für die Welt als Ort permanenten Werdens und Übergangs ins Nichts, der vor allem die ontologische Grundweise menschlichen Existierens beschreibt, hat Khayyam die Metapher der »Töpferwerkstatt« geprägt, in der ein unbegreifliches, schöpferisch-zerstörerisches »Himmelsrad« das menschliche Dasein ständig formt und vernichtet. Ein Fatalismus ist Khayyams philosophische Position insofern nicht, als dieser die Annahme und die Erkennbarkeit eines die Welt determinativ regierenden Prinzips, wie etwa des weltimmanenten Logos der Stoiker, voraussetzen würde, was Khayyams Skeptizismus offenbar ausschließt. Auch ein substanzmetaphysisch fundierter, pantheistisch ausgeformter Determinismus spinozistischer Prägung läge Khayyams agnostizistisch geschulter Gesinnung fern. Von Heraklits Weltbild unterscheidet sich Khayyams Ontologie des Werdens dadurch, dass sich bei Khayyam die welt-durchwaltende Dynamik nicht im metaphysischen Kontext einer kosmologisch erwiesenen Sinnordnung vollzieht.
40 Es ist einzig das Phänomen der Zeitlichkeit als intrinsisches Konstitutivapriori alles Seienden, aus dem Khayyam auf eine eigenartige Weise sowohl seinen Nihilismus als auch seinen Hedonismus deduziert. Die faktische und unentrinnbare Unbeharrlichkeit und Nichtigkeit aller Dinge, aus der Khayyam das Bewusstsein der Vergeblichkeit und Bedeutungslosigkeit allen menschlichen Treibens herleitet, stellt die elementare, nihilistisch anmutende Fundamentaleinsicht dar, aus der er jedoch überraschende und ungewöhnliche praktische Konsequenzen zieht.
41 Anders als Schopenhauers willensmetaphysisch begründeter Pessimismus, der die Odnung der Welt und das menschliche Glück als einen unaufhebbaren Widerspruch deutet, der nur um den Preis der willensmortifikatorischen Negation des Lebens vermöge der genialen Objektanschauung in der künstlerischen Kontemplation und in endgültiger Weise in der asketischen Weltabwendung und ethischen Resignation des Heiligen aufgehoben werden kann, aber auch im Unterschied zum Entscheidungstypus von Shakespeares Macbeth, der die Nichtigkeit des Lebens zum Anlass nimmt, um die letzte Regung seines moralischen Bewusstseins abzutöten und seiner Grausamkeit ein gutes Gewissen zu verschaffen, gewinnt Khayyam seiner pessimistisch-nihilistischen Weltdeutung eine hedonistisch-humanistische Verpflichtung ab. Die Erkenntnis ontischer Bestandlosigkeit ergibt bei Khayyam die Konsequenz praktischer Verantwortlichkeit dem faktisch gegebenen Dasein gegenüber.
42 Diese Schlussfolgerung mutet umso befremdlicher an, wenn man berücksichtigt, dass Khayyam schonungsloser denn je zuvor die Möglichkeit einer individuumstranszendenten Sinnbegründung und Glückserwartung in Abrede stellt. Von seinem restriktiven Erkenntnisbegriff geleitet, verheißt er weder ein jenseitiges Heil noch einen innerweltlichen, geschichtlich zu verwirklichenden Glückszustand. Selbst die volkstümlichen Jenseitsvorstellungen von Himmel und Hölle werden von ihm zu Metaphern der flüchtigen Augenblicke diesseitigen Glücks und der vergeblichen Daseinsqualen verweltlicht und entmystifiziert. Im Unterschied zu Epikurs Hedonismus, der das Glück des Menschen durch die Dechiffrierung des Götter- und Todesmysteriums mittels der Aufstellung einer atomistischen Kosmologie und Seelenlehre zu verbürgen sucht, erlaubt Khayyams spekulationskritische These von der Insuffizienz des menschlichen Verstandes keineswegs ein solches Glücksversprechen kraft der vernünftigen Entzauberung der Lebensmysterien.
Edward J. Fitzgerald:
Omar Khayyam.
external linkBiographie


Shahriar Shahriari:
Rubaiyat of Omar Khayyam. Philosophy.
external linkEinführung


The Rubbayat
of Omar Khayyam
.
external linkenglische Übersetzung


Die Rubaiyat
des Omar Chayyam
.
external linkdeutsche Übersetzung
43 So stellt er durch sein einzig sicheres Wissen um die Rätselhaftigkeit und Unergründlichkeit des Seinssinns und der geheimen Weltabsichten den Menschen vor eine abgründige Welt, in der die Existenz eine bloße Kontingenz, der Tod aber eine Gewissheit ist und die sich durch nichts rechtfertigen lässt, wenn man nur die Grenzen seines Wissens ernstnimmt.
44 Selten zuvor ist ein solches Maß an unerhörter Illusionslosigkeit, an unheimlicher Sinnunbedürftigkeit im Denken erreicht worden. Selbst Nietzsche, der alle metaphysischen Glücksverheißungen durch ihre Gleichsetzung mit einem »himmlichen Nichts« abzuschaffen sucht, benötigt am Ende ein Sinnsurrogat, das mittels einer säkularisierten Kosmodizee auf der Grundlage der geschichtsphilosophischen Wiederkehrthese verbürgt werden sollte.
45 Die Frage, wie der Mensch in einer sinnleeren Welt bestehen kann, in der er sein Dasein als eine eitle Episode, als einen folgenlosen Zwischenfall aushalten muss, wird kosequenterweise zur Grundfrage von Khayyams Denken. Seine Antwort, die Camus' Sisyphos-Idee antizipiert und dieser am nächsten kommt, ist unerwarteterweise weder pessimistisch-resignativ noch tröstend-palliativ. Sie kann nur als heroisch beschrieben werden, wenn mit diesem Wort kein verklärendes Pseudopathos, sondern ein um das menschliche Schicksal besorgtes Ethos der Humanität und der Lebenswürdigung konnotiert wird. Bei Khayyam ruft die nihilistische Welterfahrung einen hedonistischen Humanismus im Sinne einer gemeinschaftsbezüglichen sittlichen Freude hervor, die der individuellen Existenz die nötige Lebensmotivation und der gesellschaftlichen Koexistenz eine solide Bestandsgrundlage verschafft.
»Entledige dich des Vergangenen,

bange um das Kommende nicht,

baue nicht auf Künftiges und Gewesenes,

erfreu dich des Augenblicks und vergeude das Leben nicht.«

Omar Khayyam
(Anm. 15)
46 Die Frage, aus welchem Beweggrund und Sinnempfinden eine solche humane Einstellung eingenommen werden könnte, kommt Khayyam nicht in den Sinn, und zwar deshalb, weil sie auf einer Prämisse beruht, der in seinem Denken keine fraglose Selbstverständlichkeit zukommt. Eine solche Frage, so könnte man interpretativ anführen, impliziert nämlich die Überzeugung, dass die Humanität einen sie begründenden Grund, eine sie ermöglichende und rechtfertigende Sinnquelle benötigt. Nach Khayyam könnte man aber für den partiellen Bereich des Praktischen keinen Sinn annehmen, da die weit fundamentalere Frage nach dem Sinn der Existenz als solcher unbeantwortet bleibt. Weitaus wesentlicher wäre aber die Überlegung, dass eine solche sinnfordernde Auffassung selbst von einem dürftigen Humanitätsbegriff zeugt. Denn eine Humanität, die Gründe braucht, um human zu sein, ist eben darum nicht human genug. Khayyam vertieft damit den Humanitätsbegriff und stellt ein gesteigertes Menschlichkeitsideal auf, indem er nahelegt anzunehmen, dass eine metaphysische Sinnbegründung nicht nur aus epistemologischen Gründen unmöglich, sondern auch für die Absicht eines sittlichen Lebensvollzugs unnötig sei.
47 Mit dieser gewagten Entbindung der Sittlichkeit von der Bedingung einer metaphysischen Plausibilitätsgarantie erteilt Khayyam implizit der wirkungsmächtigen platonistischen Denktradition, welche die Möglichkeit sittlicher Praxis von der Begründung ewiger Wahrheitsgebilde jenseits endlicher Weltverhältnisse abhängig macht, eine eindeutige Absage. So verabschiedet er das Grundtheorem von der notwendigen Kausalität von der Universalisierbarkeit und Geltung etwa der praktischen Handlungsnormen, das unter anderem den traditionellen tugendethischen und neueren deontologischen und diskursethischen Grundlegungskonzepten der Sittlichkeit zugrundeliegt. Khayyams paradigmenwechselndes Programm einer relativitätsbewussten und vielheitsädaquaten Humanismusidee besteht darin, die Humanität von ihrer Legitimation durch absolute Universalinstanzen zu befreien und sie dennoch angesichts der relativen Gültigkeit endlicher Perspektiven zu ermöglichen.
48 Nicht ein endgültig einsehbarer Weltsinn oder ein definitiv einleuchtender Seinsgrund, die laut Khayyam mythisch-illusorische Konstruktionen wären, sondern allein die nackte Evidenz zudringlicher Faktizität der konkreten Existenz des Menschen legt es nahe, das Dasein angesichts seiner erlebten Flüchtigkeit erträglicher zu gestalten und das faktische Leid des Aufsichgestelltseins, das der Mensch mit seinen Mitmenschen teilt, zu lindern. Als konkrete Gegebenheit wird der Mensch sich selbst zu einer unabwendbaren Aufgabe, die ihn der Not aussetzt, sich zu der Daseinskonstellation, in die er gestellt ist, zu verhalten. Das existentielle Bewusstsein der nihilistischen Konstitution des menschlichen Lebens, die sich in der beharrlichen Penetranz des Todes ankündigt, ermöglicht die Erinnerung an den Wert des Augenblicks und an die Prävalenz der Gegenwartsdimension der Zeit, welche zudem durch die Skepsis gegenüber der durch die Ungewissheit bestimmten Zukunft begründet wird. 15
49 Diese Ungewissheit, die dem Künftigen den Charakter des Unverfügbaren und Unberechenbaren verleiht und ihm jeder programmatistischen Beherrschbarkeit enthebt, bildet das zentrale Definitionsmerkmal von Khayyams Schicksalsbegriff. Das Schicksal wird demzufolge weder mythisch auf die Wirkung wirklichkeitstranszendenter Mächte zurückgeführt noch theologisch der providentiellen Apperzeption der Welt als eines zweckhaft determinierten Vernunftplans entnommen. Es ist vielmehr die immanente Unberechenbarkeit der ungewissen Zukunft, welche die Möglichkeit des faktischen Nicht-mehr-Seins des Menschen einschließt. Als ein der Ungewissheit und der Unabsehbarkeit des Künftigen entstammendes Realitätsphänomen ist Schicksal ein elementarer Bestandteil der zeitlichen Ordnung der menschlichen Existenz. Aus dieser Einsicht heraus erweist sich jede gegenwartsignorierende, futuristisch-teleologische Fixierung auf die Zukunft, deren Wesen darin besteht, dass sie ausbleiben kann, indem sie sich als Tod vergegenwärtigt, als theoretisch irrational und praktisch unfruchtbar.
50 So gelangt Khayyam zu einer Zeit- und Geschichtsauffassung, in der die Vergangenheit und die Zukunft nur insofern von Bedeutung für das Leben sind, als sie die Gegenwart als den real erlebten Zeitpunkt befruchten. Jenseits einer retrospektiven Vergangenheitshörigkeit und über alle irrationale Zukunftsgläubigkeit hinaus plädiert Khayyam deshalb für eine achtsame Geisteshaltung, die vermöge der Einsicht in die Zeitlichkeit als der ontologischen Grundstruktur alles Seienden den Augenblick in seiner ganzen Seinsfülle gewahrzuwerden und zu entfalten versucht. Das ist der genuine Sinn von Khayyams Hedonismus, der jenseits aller gedankenlosen Unbekümmertheit durch die existentielle Sorge um die konstruktive Gestaltung jedes einzelnen Augenblicks des menschlichen Lebens inspiriert ist.
51 Anders als Shakespeare und Schopenhauer aber in vorgreifender Übereinstimmung mit Camus' Sisyphos-Konzept schließt Khayyam somit gerade aufgrund der nihilistischen Ausweglosigkeit des menschlichen Daseins auf die Notwendigkeit einer human-hedonistischen Lebensführung, die dem Menschen kraft der Unabwendbarkeit seines Daseinsfaktums auferlegt wird. Aus derselben sinn-pessimistischen Weltsicht, die er mit diesen Denkern teilt, zieht Khayyam auf diese Weise grundverschiedene, ihm eigentümliche Konsequenzen.
»Kann man ohne Gott ein Heiliger sein? Das ist das einzig wirkliche Problem, das ich heute kenne.«

Jean Tarrou
in Die Pest
von Albert Camus
(Anm. 16)
52 Ins Dasein katapultiert, ist es ratsam, die flüchtige Lebensfrist möglichst freudig und human zu leben. Die Frage nach dem Rechtfertigungsgrund einer solchen Lebensführung könnte Khayyam mit dem Hinweis auf die Unangemessenheit und die mangelnde Evidenz jeder anderen, leidvermehrenden Entscheidung angesichts einer ohnehin leiderfüllten Welt beantworten. Khayyams undogmatische Begründung für seine Position wäre somit die unzureichende Begründbarkeit und die praktische Unfruchtbarkeit anderer möglicher Alternativen. Dies hängt damit zusammen, dass Khayyams Nihilismusbegriff nicht präskriptiv, sondern konstativ intentioniert ist. Er beinhaltet keineswegs die Absicht der Annihilierung einer möglicherweise seienden Sinndimension, sondern beschreibt lediglich die Unkonstatierbarkeit einer solchen Seinssemantik. Dieses deskriptive Nihilismuskonzept ermöglicht es ihm deshalb, hinsichtlich der Wahl der sich aus diesem Nihilismus ergebenden Alternativen nicht der Indifferenz zu verfallen und die Empfehlung einer hedonistisch-humanistischen Entscheidung als einer angemesseneren zu rechtfertigen.
53 Die philosophische Singularität von Khayyams Konzeption eines hedonistischen Humanismus oder humanistischen Hedonismus besteht darin, zum ersten Mal die Bedeutung der Sinnfrage für die Begründung einer humanen Praxis erheblich relativiert und die Wertschätzung des Lebens von deren Bedingtheit durch einen rechtfertigenden metaphysischen Sinn befreit zu haben. Denn dem Leben erst unter der restriktiven Bedingung einer solchen Sinnordnung zu huldigen, würde bedeuten, es bereits in seiner genuinen Selbstgenügsamkeit zu heteronomisieren und in seiner immanenten Dignität zu degradieren. In Abwesenheit eines lebenstranszendenten Legitimationsgrundes für das menschliche Dasein in einer fragwürdigen Welt avanciert das Dasein selbst für Khayyam zu einem nicht weiter ableitbaren und legitimationsbedürftigen, aber als solchem zu wahrendem Faktum. Die faktische Lebensgegebenheit reicht aus, sich zu ihrer humanen Wahrung zu verpflichten, ohne einer darüber hinausgehenden Rechtfertigung zu bedürfen.
54 In der Aufforderung zu einer derartig sinnunbedürftigen Humanität, die dem desillusionierten Bewusstsein tiefster Abgründigkeit des menschlichen Daseins entspringt, besteht die Herausforderung von Khayyams Humanismus, der dem Menschen zumutet, für das Leben auch ohne erkennbaren Sinn Verantwortung zu übernehmen. Auf Camus' Frage: »Kann man ein Heiliger ohne Gott sein« 16 antwortet Khayyam Jahrhunderte früher mit einem dezidierten Ja.
55 Diese Antwort gestattet sich Khayyam aufgrund seines optimistischen, dem Menschen hohe Fähigkeiten zuweisenden Menschenbildes. In seiner Doppelnatur ist der Mensch einerseits eine nichtige und flüchtige Erscheinung, die der unbesiegbaren Macht der Vergänglichkeit unterworfen ist, andererseits aber besitzt er vortreffliche mentale Möglichkeiten, die ihn dazu befähigen, über die Weise seines Weltverhältnisses aus eigener Kraft bestimmen zu können. So ist der Mensch prinzipiell imstande, sich lebensentfaltend zu seinem düsteren Geschick des existentiellen Aufsichgestelltseins zu verhalten.
»Und sollten auch der Wein und deine Küsse enden,

In dem Nichts, wo alle Dinge enden – Ja –

Dann stell dir vor, solang du bist, dass du bist, was

Du sein sollst – Nichts – Nicht weniger sollst du sein.«

Omar Khayyam
(Rubaiyat, 47)
56 In diesem Sinnzusammenhang lässt sich Khayyams enthusiastische Rede von »Wein« als die treffliche Metapher jener orgiastischen Trotzigkeit verstehen, welche dem äußersten Erschöpfungspunkt räsonierender Entgeheimnisungsversuche des Weltlaufes entspringt und der Tragik des Daseins den rebellischen Rausch einer lebensekstatischen Unerbittlichkeit entgegensetzt. Khayyams bacchantische Lebenshuldigung ist die revoltive Konsequenz, die er aus seiner tragischen Erkenntnis der Unbegreiflichkeit und der Absurdität des Daseinsereignisses zieht und mit der er den Nihilismus in Hedonismus umschlagen lässt. So intendiert er visionär eine Seinsweise, die das Leben in seinem unaufhaltsamen Schwundstrom dennoch inbrünstig zelebriert und das Pathos hedonistischen Widerstandes gegen das trauergezeichnete Dasein mit dem Ethos humaner Gesinnung als der Bedingung sittlicher Freude verbindet.
57 Ein trunkener Tänzer am Rande des Abgrunds mit dem ihm unabgekehrten Blick. So könnte man sich den Menschentypus vorstellen, den Khayyam in einer trostlosen Welt statuiert und dem er jene Bürde der Freiheit und Verantwortung anheimstellt, welche ihn nötigt, die nihilistische Elegie der Existenz in eine hedonistische Hymne der Humanität zu verwandeln. Ein östlicher Sisyphos, jener »Virtuose des Lebens«, der immer dann aufersteht, ja auferstehen muss, wenn der Mensch rettungslos der übermenschlichen Zumutung ausgeliefert ist, human zu leben, wo es keinen Grund gibt, überhaupt noch zu leben. Jahrhunderte später fand ein anderer großer Menschenfreund in einem anderen Besinnungshorizont für Khayyams tragischen Hedonismus und heroischen Humanismus ein treffendes Wort: Das Leben steht höher als die Erkenntnis des Lebens. 17

5. Resümee

58 Von der Erörterung des Verhältnisses zwischen Religion und Philosophie ausgehend und die Bedeutung der existentiellen Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins als einer zentralen Erkenntnisquelle in Religion und Philosophie hervorhebend, wurde der Versuch unternommen, die unterschiedlichen Beantwortungsmöglichkeiten dieser Frage in der nihilistischen Situation der Sinnabwesenheit zu erörtern. In einer interkulturellen Vergleichsperspektive sollte deshalb deutlich gemacht werden, wie eine solche Situation zu einer Erkenntnisquelle wird, indem die Philosophie genötigt wird, darauf mit der Aufstellung unterschiedlicher Konzepte zu reagieren, was seinerseits zu Erkenntnissen führt, die sich in verschiedenen Thematisierungsweisen dieser Frage niederschlagen. Diese Thematisierungsweisen wurden an einigen Denkern aufgezeigt, um aus ihren paradigmatischen Lösungsvorschlägen Orientierungsmöglichkeiten für die Besinnung auf die genannte Frage zu gewinnen, die auch heute nichts an Brisanz und Aktualität eingebüßt hat.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 4 (2003).
Online: http://them.polylog.org/4/fgm-de.htm
ISSN 1616-2943
© 2003 Autor & polylog e.V.

Anmerkungen

1
Vgl. Friedrich Nietzsche (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 13. München: dtv, 285. go back
2
Friedrich Nietzsche (1980), Bd. 2, 356. go back
3
Vgl. hierzu Goethes unterschiedlich kontextualisierte Äußerungen (etwa Nr. 577, 1207, 1208, 1286) in: Johann Wolfgang Goethe (1976): Maximen und Reflexionen. Frankfurt/Main: Insel. go back
4
Dass Camus'die Frage nach dem »Selbstmord«, also danach, »ob das Leben sich lohne oder nicht«, zu dem einzigen ernsten philosophischen Problem erhebt, drückt symptomatisch die gravierende Verschiebung philosohpischer Fragestellung in einer Krisensituation des modernen Bewusstseins aus und kann nur in diesem geistesgeschichtlichen Gesamtzusammenhang adäquat nachvollzogen werden. Hierzu vgl. Albert Camus (1960): Der Mythos von Sisyphos. Düsseldorf: Rauch, 13. go back
5
Omar Khayyam (ca. 1048-1122), auch Chajjam geschrieben, gehört zu den bedeutendsten persischen Dichter-Philosophen, dessen philosophischer Gedankenreichtum bisher kaum hinreichend erschlossen worden ist. Das universale Wissen dieses Existenzdenkers umfasst die Bereiche der Mathematik, Astronomie, Medizin und Philosophie. Seine philosophischen Reflexionen hat er in seinen berühmten Vierzeilern versifiziert, die in Europa vor allem in Gestalt nachdichterischer Adaptation durch den englischen Lyrikers Edward Fitz Gerald im 19. Jahrhundert bekannt wurden. Der vorliegenden Interpretation liegt die persische Originalausgabe zugrunde, aus der auch zitiert wird. Zitate werden vom Verfasser ins Deutsche übertragen. Einen Eindruck von Khayyams Denken in seinen Vierzeilern verschafft trotz mancher übersetzerischer Unzulänglichkeit unter anderem: Omar Khayyam (1927): Die Vierzeiler des Omar Chajjâm. Übertragen v. Walter von der Porten. Hamburg: Friedrichsen. go back
6
Vgl. Arthur Schopenhauer (1988): Werke in fünf Bänden, Bd. 2. Zürich: Haffmanns, 737f. go back
7
Vgl. Arthur Schopenhauer (1988), Bd. 1, 422, und Bd. 2, 683. go back
8
William Shakespeare: Macbeth, 4. Akt, 5. Szene. go back
9
William Shakespeare: König Lear, 4. Akt, 1. Szene. go back
10
William Shakespeare: Hamlet, 2. Akt, 2. Szene. go back
11
William Shakespeare: Hamlet, 1. Akt, 2. Szene. go back
12
Vgl. William Shakespeare: Hamlet, 5. Akt, 1. Szene. go back
13
Friedrich Nietzsche (1980), Bd. 12, 213. go back
14
Sinngemäß heißt es bei Khayyam: »Wir sind Marionetten und Marionettenspieler das Himmelsrad, /und das ist gewiss, keine Fiktion, /eine Weile spielten wir in diesem Weltgetriebe, /und entschwanden wieder ins Nichts einer nach dem andern.« go back
15
»Entledige dich des Vergangenen, /bange um das Kommende nicht, /baue nicht auf Künftiges und Gewesenes, /erfreu dich des Augenblicks und vergeude das Leben nicht.« go back
16
Albert Camus (1997): Die Pest. Hamburg: Rowohlt, 290. go back
17
Vgl. Fjodor M. Dostojewski (1986): Der Traum eines lächerlichen Menschen. Frankfurt/Main: Insel, 355. go back

Autor

Morteza Ghasempour (*1958 im Iran) lehrt Philosophie an der Universität zu Köln. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich der Ästhetik, der praktischen Philosophie, der Hermeneutik und der interkulturellen Philosophie. Er ist Gründungsmitglied der internationalen Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (GIP).
Dr. Morteza Ghasempour
Universität zu Köln
Philosophisches Seminar
Raum 5.107
Albertus-Magnus-Platz
50923 Köln
Deutschland
Fax +49 (221) 470 50 06
emailmorteza.ghasempour@uni-koeln.de
external linkhttp://www.uni-koeln.de/phil-fak/phil/dozenten/
themen literatur agenda archiv anthologie kalender links profil