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![]() Amartya Sen ![]() Globale Gerechtigkeit Mehr als internationale Fairness ![]() |
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English Summary ![]() |
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Creating a new perspective for justice, this article investigates global dimensions seriously, in regard to the formation of international solidarity and the constructions of identity patterns that go beyond national borders. It seeks a way between the established approaches of "grand universalism" and "national particularism", while avoiding over-arching generalizations on the one hand and simplistic assumptions about the subjection of individuals to a national framework on the other. Taking off from a critical discussion of Rawls' idea of justice as fairness (where a hypothetical "original position" of human equity is the starting point), the own conception of "plural affiliation" becomes central for the formulation of a third alternative. This idea expresses the range of multiple identities accessible to individuals and makes "justice" applicable to a corresponding diversity of socio-political realities, independent of the idea of national frameworks. |
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Inhalt
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Einleitung |
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![]() ![]() Einleitung ![]() ![]() |
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»Globale Fairness bzw. Gleichheit wird manchmal mit internationaler Fairness gleichgesetzt. Dennoch sind die beiden sehr unterschiedlich.« |
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Globale Fairness bzw. Gleichheit (equity) 1 wird manchmal mit internationaler Fairness gleichgesetzt. Dennoch sind die beiden sehr unterschiedlich, sowohl in ihren konstitutiven Inhalten als auch in ihren politischen Implikationen. In diesem Artikel untersuche ich die Natur dieser Unterscheidung, die meines Erachtens sowohl für politische Philosophie als auch für politische Analyse zentral ist. Die Implikationen dieser Unterscheidung für das Verständnis von globalen öffentlichen Gütern sind ebenfalls relativ weitreichend. Der Kontrast zwischen globaler und internationaler Gleichheit hängt zusammen mit ziemlich starken Unterschieden in: |
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Christoph Wagner: |
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Etwas sehr Wichtiges ist mit diesen Unterscheidungen verbunden, die weitreichende Implikationen für die Natur der praktischen Vernunft auf globaler Ebene und für die Wahl der Handlungen potentieller Akteure haben. Grenzüberschreitende Ideen von Gerechtigkeit – und korrespondierende Handlungen – dürfen nicht mit generellen internationalen Beziehungen oder insbesondere mit den Forderungen internationaler Gleichheit (equity) verwechselt werden. |
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![]() ![]() Rawls'sche Gerechtigkeit als Fairness ![]() ![]() |
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Ben Rogers: |
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Wie in vielen anderen Diskussionen sozialer Gerechtigkeit ist es auch hier hilfreich, mit dem Rawls'schen Verständnis von "Gerechtigkeit als Fairness" zu beginnen (Rawls 1971, 1993). Der Bezugsrahmen von politischer und sozialer Analyse, der auf John Rawls' klassischen Beiträgen beruht, hat eine grundlegende Wirkung auf das zeitgenössische Verständnis der Natur der Gerechtigkeit hinterlassen. Obwohl, wie ich im Folgenden argumentiere, eine ernsthafte Abwendung von dem Ergebnis der Rawls'schen Analyse letztlich notwendig sein wird, ist die Grundidee von "Gerechtigkeit als Fairness" ein angemessener Ausgangspunkt. |
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Im Rawls'schen Ansatz bedeutet Fairness für eine Gruppe von Menschen, dass man zu einer Einigung über Regeln und Handlungsprinzipien für soziale Gemeinschaften gelangt, die die Interessen, Ängste und Freiheiten eines jeden gleichermaßen berücksichtigen. Für die Bestimmung, wie dies zu verstehen sei, hat sich das Rawls'sche Hilfsmittel der "ursprünglichen Position" (original position) als nützlich erwiesen. In diesem hypothetischen Urzustand, einem imaginären Status ursprünglicher Gleichheit (equality), kommen Individuen durch kooperative Handlungen zu Regeln und Leitprinzipien, ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben, wer sie letztlich sein werden (so dass sie sich bei der Auswahl sozialer Regeln nicht von ihren Eigeninteressen beeinflussen lassen, die an ihre aktuelle Situation geknüpft sind, wie z.B. ihr jeweiliges Einkommen und finanzielles Vermögen). |
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Die Rawls'sche Analyse schreitet vom Urzustand voran zur Identifizierung bestimmter Prinzipien von Gerechtigkeit. Unter diesen Prinzipien ist die Priorität der Freiheit das "erste Prinzip", indem der maximalen Freiheit der einzelnen Person Vorrang eingeräumt wird, mit der Bedingung einer ähnlichen Freiheit für alle. Das "zweite Prinzip" behandelt andere Dinge, wie Gleichheit und Effizienz in der Verteilung von Möglichkeiten, sowie auch das Unterschiedsprinzip (Difference Principle). Dieses beinhaltet das "lexikographische Maximin" in dem "Raum" des Eigentums an Primärgütern (oder allgemein nützlichen Ressourcen) verschiedener Individuen anhand von Verteilungskriterien und gibt den Leuten Vorrang, denen es in jeder Gemeinschaft am schlechtesten geht. |
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Die Plausibilität der spezifischen Prinzipien der Gerechtigkeit, die Rawls von seinen Grundprinzipien der Fairness ableitet, kann hinterfragt werden; und es kann insbesondere gefragt werden, ob das Mittel des Urzustands tatsächlich unmissverständlich auf diese Gerechtigkeitsprinzipien hindeuten muss (vgl. meine eigene Skepsis in Bezug auf diesen Punkt: Sen 1970, 1990). Besonders fragwürdig in Rawls' Argumentation ist seine Konzentration auf Primärgüter, da somit sein Unterschiedsprinzip eher auf Ressourcen als auf Freiheit bezogen wird. 2 Mit diesen Schwierigkeiten will ich mich in diesem Artikel aber nicht primär befassen (dennoch muss, wenn die grundlegendere Arbeit bezüglich der Idee des Urzustands abgeschlossen ist, die Auswirkung dieser Unterscheidung auf die Anwendung der Grundlegungsarbeit in die folgende Analyse aufgenommen werden). |
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![]() ![]() Drei Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit ![]() ![]() |
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»Wer sind diese Individuen, von denen hypothetischerweise angenommen wird, dass sie sich im Urzustand versammeln, um knallhart die Regeln und Leitprinzipien auszuhandeln?« |
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Der Schwerpunkt meines Artikels liegt in der grundlegenderen Frage nach der Komposition des "Urzustands" und deren Implikationen für das Verständnis von Fairness mitsamt seinen manifesten praktischen Konsequenzen. Insbesondere: wer sind diese Individuen, von denen hypothetischerweise angenommen wird, dass sie sich im Urzustand versammeln, um knallhart die Regeln und Leitprinzipien auszuhandeln? Sind es alle Menschen der Erde – unabhängig von ihrer Nationalität und Staatsbürgerschaft –, von denen man annimmt, dass sie zu Regeln gelangen, die die Angelegenheiten der ganzen Welt leiten werden? Oder sind es statt dessen die Bürger einer jeden Nation, eines jeden Staates für sich, die sich in ihren eigenen Urzuständen versammeln? |
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Diese beiden Auffassungen können wir einerseits als "universalistisch" im größtmöglichen Sinn und andererseits als "partikularistisch" im Hinblick auf die nationalstaatliche Orientierung bezeichnen: |
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Rodney G. Peffer: |
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Obwohl der Urzustand nicht mehr ist als eine Kreation unserer konstruktiven Einbildung, hat der Kontrast dieser rivalisierenden Konzeptionen einen weitreichenden Einfluss auf die Art, wie wir globale Gerechtigkeit betrachten. Die Formulierung der Forderungen nach globaler Gerechtigkeit sowie die Identifizierung der Institutionen, die diese Anforderungen umsetzen müssen, sind stets beeinflusst von der Wahl der jeweils angemessenen Konzeption von Fairness und der Charakterisierung ihres Geltungsbereichs. Sogar das Verständnis der Natur der begrifflichen Zwillinge "globale Allgemeingüter" und "globale Haushaltung" wird zwangsläufig durch die Wahl des Anwendungsbereichs und des Begriffs der Gerechtigkeit beeinflusst. Fragen wie etwa wessen Haus in Stand zu halten sei und welche gemeinsamen und unteilbaren Ergebnisse als relevante Allgemeingüter betrachtet werden sollen, basieren auf den grundsätzlichen Gegebenheiten, die den Bereich gegenseitiger Verantwortung und die Identifizierung geeigneter Verhandlungsführer betreffen. |
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Ich argumentiere derzeit, dass keine dieser beiden Konzeptionen – weder ein umfassender Universalismus noch ein nationaler Partikularismus – uns ein adäquates Verständnis der Anforderungen der globalen Gerechtigkeit bieten kann, und dass eine dritte Konzeption vonnöten ist, die die Pluralität der bestehenden globalen Beziehungen angemessen berücksichtigt. Aber zuvor möchte ich die Ansprüche dieser beiden Konzeptionen ein wenig erläutern. |
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Der umfassende Universalismus hat ein ethisches Format, dem in Bezug auf umfassende Anwendung und nicht-sektiererische Offenheit schwer gleichzukommen ist. Dabei ringen der Universalismus des klassischen Utilitarismus und der einer verallgemeinernden Interpretation der Kantischen Vernunftethik um Vorherrschaft (siehe Kant 1785; Bentham 1789; Mill 1861; Sidgwick 1874; Edgeworth 1881; Pigou 1920). Dieser Ansatz kann für die gesamte Menschheit in einer Weise Wort ergreifen, die der Separatismus von national-partikulären Konzeptionen nicht erlauben würde. |
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Dennoch ist das Model des umfassenden Universalismus schwer anzuwenden, um die institutionellen Implikationen Rawls'scher Gerechtigkeit als Fairness herauszuarbeiten. Die Ausübung der Fairness durch ein Mittel wie dem Urzustand wird in der Rawls'schen Analyse benutzt, um die Wahl der grundlegenden politischen und sozialen Struktur einer jeden Gesellschaft hervorzubringen, die als politische Einheit operiert und in welcher das Prinzip der Gerechtigkeit seine Anwendung findet. Es entstehen große Schwierigkeiten, wenn man versucht, diese Art der Argumentation auf die gesamte Menschheit zu übertragen, ohne eine angemessen ausführliche institutionelle Basis zu haben, von der aus die hypothetischen Regeln, die vom Urzustand her stammen, für die ganze Welt umgesetzt werden können. Es wird mir, so hoffe ich, nicht als respektlos gegenüber den Vereinten Nationen ausgelegt werden, wenn ich sage, dass sie in keiner Weise fähig sind, diese Rolle zu übernehmen. In der Tat ist die Konzeption der Vereinten Nationen selbst schon – wie der Name verrät – vollkommen abhängig von den grundlegenden politischen und sozialen Organisationen, die bereits in den jeweiligen Nationalstaaten dominieren. |
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All dies scheint eindringlich nahezulegen, die Anwendbarkeit und Stimmigkeit der nationalistischen partikularistischen Konzeption der Rawls'schen Gerechtigkeit zu verfolgen. Das ist tatsächlich die Richtung, in die Rawls selbst vorgegangen ist, indem er die Anwendung von Gerechtigkeit als Fairness in jeder politischen Gesellschaft getrennt betrachtete, aber dann diesen Ansatz durch Verbindungen zwischen Gesellschaften und Nationen durch den Gebrauch von zwischengesellschaftlichen Normen ergänzte. Diese Verbindungen nehmen eine Form an, die Rawls als "das Gesetz der Völker" bezeichnet (siehe Rawls 1996). Die "Völker" – als Gemeinschaften – in voneinander unterschiedenen politischen Formationen berücksichtigen dabei ihre gegenseitigen Anliegen (und die Forderungen, die aus solchen Verbindungen folgen). Das Prinzip der Gerechtigkeit als Fairness kann benutzt werden, um die Beziehung zwischen diesen politischen Gemeinschaften zu verdeutlichen (nicht nur die zwischen Individuen wie in der ursprünglichen Rawls'schen Konzeption). |
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Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass in dieser partikularistischen Konzeption die globalen Anforderungen an Gerechtigkeit eher durch zwischengesellschaftliche Beziehungen funktionieren als durch interpersonale, wobei letztere von manchen als zentral für ein adäquates Verständnis der Anforderungen an globale Gerechtigkeit betrachtet werden mögen. Tatsächlich identifiziert die auf der "Nation" basierende Charakterisierung, grob definiert, den Bereich der internationalen Gerechtigkeit. Die daraus folgenden Forderungen haben, trotz der Eingrenzung bei der Formulierung, weitreichenden moralischen Inhalt, der von Rawls mit der für ihn charakteristischen Klarheit analysiert worden ist. Dennoch: die Limitierungen eines "internationalen" Ansatzes (wie ich sie in der obigen Einleitung ausgemacht habe) – im Gegensatz zu einem stärker direkt "globalen" Ansatz – treten hier ganz deutlich auf und begrenzen die Reichweite des Rawls'schen "Gesetzes der Völker". |
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Wie sollen wir die Rolle der direkten grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen verschiedenen Menschen berücksichtigen, deren Identitäten, unter anderem, Formen von Solidarität beinhalten, die auf anderen Klassifizierungen beruhen als die nach nationalen und politischen Grenzen verlaufenden Kategorien von Klasse, Geschlecht oder politischen und sozialen Überzeugungen? Wie gehen wir, ohne Grenzen, mit professionellen Identitäten um (z.B. Arzt oder Lehrer zu sein) und mit den Forderungen, die daraus folgen? Diese Fragen, Verantwortungen und Verpflichtungen mögen sich nicht nur parasitisch zu nationalen Identitäten und internationalen Beziehungen verhalten, sondern sie können auch in Abständen in Gegenrichtung zu internationalen Beziehungen verlaufen. Selbst die Identität als "menschliches Wesen" – vielleicht unsere grundlegendste Identität – kann, wenn voll ausgenutzt, unser Blickfeld erweitern; und die Forderungen, die wir mit der Menschheit verbinden, an der wir teilhaben, werden unter Unständen nicht vermittelt durch unsere Mitgliedschaft in den Gemeinschaften wie etwa der "Nationen" oder "Menschen." In Kalkutta, wo ich diesen Artikel gerade schreibe, während der indische Subkontinent noch von den Nachwehen der nuklearen Explosionen bebt, hat die Perspektive der direkten interpersonalen Sympathien und Solidaritäten über Grenzen hinweg ein Gewicht, das den nationalen Partikularismus der entfremdeten Regierungsformen grundlegend transzendieren kann. |
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»Der Ausgangspunkt dieser Position – ich werde sie 'plurale Einbindung' nennen – kann die Anerkennung der Tatsache sein, dass wir alle multiple Identitäten haben und jede dieser Identitäten Sorgen und Forderungen erzeugen kann, die Sorgen oder Forderungen anderer Identitäten signifikant ergänzen oder mit ihnen ernsthaft konkurrieren können.« |
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Wir brauchen, so glaube ich, eine andere Konzeption globaler Gerechtigkeit – eine, die weder so unrealistisch wie der umfassende Universalismus ist, der von einem weltweiten "Urzustand" ausgeht, noch wie das separatistische und eindimensionale Konzept des nationalen Partikularismus (ergänzt durch internationalen Beziehungen). Der Ausgangspunkt dieser Position – ich werde sie "plurale Einbindung" (plural affiliation) nennen – kann die Anerkennung der Tatsache sein, dass wir alle multiple Identitäten haben und jede dieser Identitäten Sorgen und Forderungen erzeugen kann, die Sorgen oder Forderungen anderer Identitäten signifikant ergänzen oder mit ihnen ernsthaft konkurrieren können. |
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Mit pluraler Einbindung kann die Ausübung von Fairness auf verschiedene Gruppen angewandt werden (inklusive, aber nicht ausschließlich Nationen), und die jeweiligen Forderungen, die unseren multiplen Identitäten entspringen, können sämtlich ernst genommen werden (abgesehen davon, wie die Konfliktinteressen letztendlich gelöst werden). Die Ausübung von "Fairness", die mit dem Hilfsmittel des Urzustands verdeutlicht werden kann, braucht nicht nach einer einzigartigen Anwendung zu streben. Der Urzustand ist ein fruchtbarer Ansatz, um die Verfahren der Reziprozität und gruppeninterner Universalisierung zu charakterisieren, und man kann sie benutzen, um Einsichten und Anregungen für unterschiedliche Gruppenidentitäten und Verbindungen zu erhalten. Auch ist es nicht unumgänglich, ein ausgearbeitetes System zu erstellen, in detaillierter Beschreibung eines stufenhaften Auftretens von Grundstrukturen, Gesetzgebung und Administration (wie Rawls selbst), wenn man Rawls' Grundcharakterisierung von Fairness nutzen möchte. Das Hilfsmittel des Urzustands kann in weniger umfassenden, weniger einzigartigen und weniger durchstrukturierten Formen benutzt werden, ohne dass man einer einzigen kanonischen Formulierung von Seiten des nationalen Partikularismus totalen Vorrang gäbe. |
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Beispielsweise könnte eine Ärztin danach fragen, welche Verpflichtungen sie in einer Gemeinschaft von Ärzten und Patienten hätte, aber die betroffenen Parteien müssten nicht notwendigerweise der gleichen Nation angehören. (Es sollte erinnert werden, dass der Hippokratische Eid nicht – explizit oder implizit – durch irgendeinen nationalen Vertrag vermittelt worden ist.) Auf ähnliche Weise könnte eine feministische Aktivistin überlegen, wie ihre persönlichen Verpflichtungen in der Beschäftigung mit der speziellen Benachteiligung von Frauen generell aussehen sollten – nicht notwendigerweise nur in ihrem eigenen Land. Die anerkannten Verpflichtungen können selbstverständlich nicht jeweils über alle anderen konkurrierenden Belange dominieren, weil es andere Belange geben kann, die von anderen Identitäten und Verbindungen herrühren und die mit ihnen konkurrieren. Das Abwägen der relativen Stärke divergierender Forderungen, die aus konkurrierenden Interessen entstehen, ist kein trivialer Akt. Aber unsere multiplen Identitäten und Verbindungen zu verneinen, nur um dieses Problem zu vermeiden, ist weder intellektuell zufriedenstellend noch angemessen für praktische Politik. Die Alternative, alle Verbindungen einer übergreifenden Identität unterzuordnen – der Mitgliedschaft in einer nationalen Regierungsform –, verkennt die Kraft und die weitreichende Relevanz der diversen Beziehungen, die zwischen Personen bestehen. Die politische Konzeption einer Person als eines Staatsbürgers – so wichtig sie auch ist – kann nicht einfach alle anderen Konzeptionen überstimmen, noch die Verhaltensformen in anderen Arten von Gruppenzugehörigkeit. |
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![]() ![]() Institutionen und Vielfältigkeit von Vermittlungsinstanzen ![]() ![]() |
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Amartya Sen: |
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Es gibt viele verschiedene Vermittlungsinstanzen (agencies), die globale Vereinbarungen und ihre Konsequenzen beeinflussen können. Einige davon sind eindeutig "national" in ihrer Form. Dazu gehören innenpolitische Regelungen bestimmter Staaten wie auch internationale Beziehungen (Verträge, Vereinbarungen, Tauschgeschäfte) zwischen Staaten, die als nationale Regierungen operieren. Aber andere grenzübergreifende Beziehungen und Aktivitäten beinhalten oft auch Einheiten wirtschaftlicher Operationen, die sich von Nationalstaaten unterscheiden und sowohl lokal als auch jenseits der Grenzen operieren – wie z.B. Firmen und Handelsgeschäfte, soziale Gruppen und politische Organisationen, Nicht-Regierungs-Organisationen usw. Transnationale Firmen stellen hierfür einen Sonderfall dar. Es gibt auch internationale Organisationen, die direkt von einzelnen Staaten in Zusammenarbeit gegründet worden sein können (so wie der Völkerbund oder die Vereinten Nationen) oder indirekt von einer bereits existierenden internationalen Organisation (wie die Internationale Arbeiterorganisation, der Kinderfond der Vereinten Nationen, die Universität der Vereinten Nationen oder das Weltinstitut für Forschung in Entwicklungsökonomie). Sobald solche Institutionen gegründet sind, erhalten sie einen bestimmten Rahmen an Unabhängigkeit von tagtäglichen Überprüfungen durch einzelne nationale Regierungen. |
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Wieder andere Institutionen sind nicht-regierungsgesteuerte, nicht profit-orientierte Einheiten, die über Grenzen hinweg operieren, um bei Notstand zu helfen, mit Impfungen vorzusorgen, um Bildung und Weiterbildung sicherzustellen, lokale Organisationen zu unterstützen, öffentliche Diskussionen anzuheizen und um sich in einer Reihe von anderen Aktivitäten zu engagieren. Aktionen können auch von Individuen initiiert werden, die in direkter Beziehung zueinander stehen, in Form von Kommunikation, Argumentation und Parteiergreifung, die lokale soziale, politische, und wirtschaftliche Aktionen beeinflussen können (selbst wenn die Kontakte nicht von so berühmter Art sind wie beispielsweise Bertrand Russells Briefe an Nikita Chruschtschow anlässlich der nuklearen Konfrontationen im Kalten Krieg). Für ein adäquates Verständnis von globaler Gerechtigkeit (und, darüber hinaus, für Einsicht in die Rolle "globaler Allgemeingüter" und gar des "globalen Haushaltens") ist es von enormer Wichtigkeit, die Vielfältigkeit der Vermittlungsinstanzen und die Grundmuster und Motive ihrer jeweiligen Operationen angemessen zu berücksichtigen. |
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»Sen scheut vor einer genauen Klärung der 'Ursachen' der Armut zurück – vielleicht, weil er das intellektuelle Milieu kennt, in dem er sich bewegt. Er analysiert das Problem stets nur partiell; er wendet sich den 'Tatsachen' zu und studiert die Kriterien der Bewertungsmaßstäbe; doch niemals geht er auf das Problem ein, dass die Armut – sowohl absolut wie relativ – möglicherweise einen strukturellen Ursprung hat.« |
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In ihren grenzübergreifenden Aktivitäten müssen transnationale Institutionen (und allgemeiner, auch transnationale Kontakte) sich unausweichlich mit Fragen nach Absicht, Relevanz und moralischer Korrektheit auseinandersetzen, und diese Fragen können nicht wirklich von Gerechtigkeitsanliegen abgetrennt werden. In der Auseinandersetzung mit dieser Bedingung wäre ein Ansatz, die direkten Verbindungen über die Grenzen hinweg zu widerrufen und jede einzelne grenzübergreifende Beziehung in die begrenzte Struktur der "internationalen Beziehungen" einzubetten, mitsamt dem "Gesetz der Völker". Dieses kann erreicht werden, aber nur, wie ich meine, auf Kosten von großer Verarmung an Inhalt und Reichweite, und sicherlich auch nur durch massives Drumherumreden. |
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Eine weit angemessenere Alternative ist, die Frage der Gerechtigkeit – und die der Fairness – anders zu stellen: in mehreren verschiedenen, aber miteinander verknüpften Bereichen, anhand verschiedener Gruppen, die über nationale Grenzen hinausgehen. Diese Gruppen müssen weder so universell allumfassend sein wie die Gemeinschaft "aller" Menschen der Welt, noch so spezifisch und begrenzt wie Nationalstaaten. Es gibt viele politische Themen, die in keiner dieser beiden Extremformate vernünftig behandelt werden können. |
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Wie soll ein transnationales Konglomerat die lokalen Arbeitnehmer, andere Geschäfte und Rivalen, regionale Kunden oder überhaupt nationale Regierungen oder die lokale Administration behandeln? Wenn da Fragen nach Fairness auftreten, wie sollten diese formuliert werden und bezogen auf welche Bereiche? Wenn die Verbreitung von Geschäfts- oder "Business-Ethik" (die Verhaltensregeln erzeugt, und dabei gegenseitiges Vertrauen bestärkt oder Korruption beschränkt) ein "globales Allgemeingut" ist, dann müssen wir uns fragen, wie die Stichhaltigkeit und Verdienste einer bestimmten Geschäftsethik beurteilt werden können und sollen. Gleichermaßen, wenn die Solidarität zwischen verschiedenen feministischen Gruppen dazu beiträgt, sozialen Wandel über Grenzen hinweg herbeizuführen (eventuell indem lokale Gruppen unterstützt werden, indem die Politik von Regierungen oder Geschäften kritisiert wird, oder einfach indem in öffentlichen Diskussionen auf vernachlässigte Ungleichheiten aufmerksam gemacht wird), dann kann der Anspruch solcher Organisationen – und auch die Art solchen Denkens – in die Kategorie der globalen Allgemeingüter integriert werden. Aber wir müssen auch die Frage ansprechen, wie die Einbindungen und Interaktionen und ihre Konsequenzen normativ bewertet werden sollen, unter Einbezug solcher Ideen wie Gerechtigkeit und Fairness. All dies ruft nach ausgiebiger Benutzung der Perspektiven pluraler Einbindungen und nach der Anwendung der Verfahren von Gerechtigkeit und Fairness in diesen jeweiligen Gruppen. |
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In diesem Artikel habe ich argumentiert, dass die Notwendigkeit besteht, zwischen globaler und internationaler Fairness bzw. Gleichheit (equity) zu unterscheiden. Die Unterscheidung hat, wie ich glaube, weitreichende Implikationen für Politik und das öffentliche Allgemeinwesen, wie auch für begriffliche Klarheit. Ich habe versucht, einige dieser Implikationen zu untersuchen. |
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Individuen leben und handeln in einer Welt von Institutionen, von denen viele über Grenzen hinweg arbeiten. Unsere Möglichkeiten und Aussichten hängen stark davon ab, welche Institutionen existieren und wie sie funktionieren. |
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Institutionen tragen nicht nur zu unseren Freiheiten bei, ihre Rolle oder Funktion kann auch im Licht ihrer Beiträge zu unseren Freiheiten vernünftig bewertet werden. Entwicklung selbst als Freiheit zu betrachten eröffnet eine Perspektive, in der institutionelle Bewertung systematisch geschehen kann (vgl. Sen 1999). |
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Amartya Sen |
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Obwohl verschiedene Kommentatoren beschlossen haben, ihr Augenmerk auf bestimmte Institutionen zu richten (wie den Markt, das demokratische System, die Medien oder das öffentliche Verteilungssystem), müssen wir alle Institutionen berücksichtigen, um beurteilen zu können, was sie einzeln oder gemeinsam erreichen können. Viele dieser Institutionen – nicht nur der Marktmechanismus – übersteigen nachdrücklich nationale Grenzen und operieren nicht über Nationalstaaten und deren Politik. Sie leisten Beiträge mit starken Elementen von Unteilbarkeit und Nicht-Exklusivität, die für Allgemeingüter charakteristisch sind, und ihre Forderung, als "globale Allgemeingüter" betrachtet zu werden, ist ziemlich stark. Die Forschungsliteratur muss diese wichtige Angelegenheit zur Kenntnis nehmen. |
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Sudhir Anand / Martin Ravallion (1993): "Human Development in Poor Countries: On the Role of Private Incomes and Public Services". In: Journal of Economic Perspectives 7.1, 133-50. Jeremy Bentham (1789): An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. London: Payne. Wiederauflage Oxford: Clarendon Press, 1907. Meghnad Desai (1995): Poverty, Famine and Economic Development. Aldershot: Elgar. Jean Drèze / Amartya K. Sen (1989): Hunger and Public Action. Oxford: Clarendon Press. Francis Y. Edgeworth (1881): Mathematical Psychics. London: Kegan Paul. Keith Griffin / John Knight (eds.) (1989): "Human Development in the 1980s and Beyond". In: Journal of Development Planning 19 (Spezialnummer). Geoffrey Hawthorn (ed.) (1987): The Standard of Living. Cambridge: Cambridge University Press. Immanuel Kant (1785): Fundamental Principles of Metaphysics of Ethics. Englische Übersetzung von T.K. Abbott. Wiederauflage London: Longman, 1907. John Stuart Mill (1861): Utilitarianism. London: Longman. A.C. Pigou (1920): The Economics of Welfare. London: Macmillan. John Rawls (1971): A Theory of Justice. Cambridge/Mass.: Harvard University Press. John Rawls (1993): Political Liberalism. New York: Columbia University Press. John Rawls (1996): A Theory of Justice. Oxford: Oxford University Press. Amartya K. Sen (1970): Collective Choice and Social Welfare. San Francisco: Holden-Day. Republished Amsterdam: North Holland 1979. Amartya K. Sen (1984): Resources, Values and Development. Oxford: Blackwell – Cambridge/Mass.: Harvard University Press. Amartya K. Sen (1985a): Commodities and Capabilities. Amsterdam: North-Holland. Amartya K. Sen (1985b): "Well-being, Agency and Freedom: The Dewey Lectures 1984". In: Journal of Philosophy 82. Amartya K. Sen (1990): "Justice: Means versus Freedoms". In: Philosophy and Public Affairs 19. Amartya K. Sen (1999): Development As Freedom. New York: Alfred A. Knopf. Henry Sidgwick (1874): The Method of Ethics. London: Macmillan. United Nations Development Programme – UNDP (1990): Human Development Report 1990. New York: Oxford University Press. |
![]() Anmerkungen |
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1 |
Anm. d. Übers.: Das englische equity hat auch starke Konnotationen von "Gleichheit" (vor dem Gesetz). |
2 |
Der Kontrast in der Informationsperspektive für den begrifflichen Grundansatz kann viele praktische Implikationen nach sich ziehen, was ich anderswo diskutiere (Sen 1985b). Zu deren Relevanz für die Wirtschaftspolitik und verwandte Bereiche, vgl. auch Sen 1984, 1985a, Hawthorn 1987, Drèze / Sen 1989, Griffin / Knight 1989, UNDP 1990, Anand / Ravallion 1993 und Desai 1995. |
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