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Andere Geschichten der Philosophie

Ingvild Birkhan, David Simo und Ram Adhar Mall im Gespräch mit
Franz Martin Wimmer und Michael Shorny





Der Beitrag erschien zuerst in:

polylog: Austrian print edition
Nr. 3 (1999) zum Thema:
Andere Geschichten der Philosophie

1

  Wimmer: Meine erste Frage bezieht sich auf die Kulturbedingtheit des Begriffs der Philosophie, das heißt, auf die Abgrenzung der Philosophie und ihrer Geschichte von anderen Bereichen: Welche Möglichkeiten gibt es, den Gefahren einer kolonialistischen oder bornierten Abgrenzung zu entgehen?


2

  Birkhan: Ich denke, daß das Polylog-Modell zunächst versucht, zentristische Modelle interkultureller Interaktionen hier und jetzt jeweils zu vermeiden. Und da ist es für mich eine neue Idee beziehungsweise Fragestellung, das Interkulturelle im Sinne des Polylog-Modells auch in Periodisierungsschemata wichtig zu nehmen, da könnten Riesengefahren auftauchen. In einer lebendigen Interaktion hören wir andere, hören wir einfach hin, was sagen die anderen, wir lernen voneinander, und wir können einander korrigieren. Aber wenn Geschichte und Periodisierung dazukommt, besteht die Gefahr, einerseits in ein Evolutionsschema zu verfallen, einige Kulturen als in einer niedereren Evolutionsstufe stehend einzustufen, und andererseits in zentristischer Weise ein Raster über alle drüberzulegen und so den synchron-offenen Polylog zu stören und zu unterwandern.






Ingvild Birkhan ist Lektorin für Philosophie und Leiterin der interuniversitären Koordinationsstelle für Frauenforschung an der Universität Wien.


Literaturbeispiel:

"Fremde sind wir uns selbst. Zum Pathos von Krieg und Tod im Kontext kollektiver Identitätsbildung",
in: Wiener Philosophinnenclub (Hg.):
Krieg/War. Eine philosophische Auseinandersetzung aus feministischer Perspektive,
München 1997.

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  Simo: Ich glaube, wir müssen uns dessen bewußt sein, daß sich diese ganze Diskussion um Interkulturalität und alle diese Versuche, neue Wege, neue Fragestellungen, neue methodische Ansätze zu entwickeln, in eine europäische, aufklärerische Diskurstradition einschreiben. Damit meine ich, daß wir nicht so tun sollen, als wären wir dabei, einen neuen Raum neben der europäischen Diskurstradition zu schaffen, sondern daß wir hier nur versuchen, diesen gegebenen Raum vielleicht zu erweitern. Damit möchte ich klarstellen, daß auch Versuche, andere Kulturen so zu übersetzen, daß sie in alternative Periodisierungsschemata passen – so berechtigt sie sein mögen –, doch immer klar vor Augen haben müssen, daß es nur eine Übersetzung ist – in eine europäische Sprache und in europäische wissenschaftliche und philosophische Fragen. Daher stelle ich die Frage, ob man den Begriff von Philosophie nicht neu definiert sollte.

4

  In der Diskussion in Afrika in den 60er und 70er Jahren um die Frage, ob es eine afrikanische Philosophie gibt, gab es zwei Grundpositionen: 1. Es gibt eine afrikanische Philosophie, wobei afrikanische Sachlagen und Texte in europäische philosophische Kategorien übersetzt werden, zum Beispiel, indem Sprachen analysiert werden, und 2. man geht von dem europäischen Philosophie-Begriff aus, denn da man nun nach Philosophie sucht, dann muß man sich danach richten, was von denjenigen, die Philosophie erfunden haben, unter Philosophie verstanden wird.

5

  Man sieht, in welche Aporie man da gerät. Ich will nur sagen: Jede Kultur hat ihre eigene Logik, ihr eigenes Modell der Selbstverständigung und wahrscheinlich auch ihre eigenen Metadiskurse und Typologien, vielleicht aber gibt es das auch nicht unbedingt in jeder Kultur. Wer eine interkulturelle Philosophiegeschichte schreiben möchte, erwartet, daß es unbedingt auch dort eine solche Klassifikation oder diesen Diskurs geben muß. Und dann findet man sich in der Situation, in der man sagt: »Das gibt es nicht hier!«. Gerät man da nicht wider Willen in dieses evolutionistische Denken? Verfängt man sich nicht schließlich in Aporien, aus denen man sich befreien wollte?






Ram Adhar Mall ist Professor für Philosophie an der Universität Bremen und Lehrbeauftragter an der Ludwig- Maximilians-Universität in München.


Literaturbeispiel:

Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie - eine neue Orientierung.
Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1995.

6

  Mall: In der Frage wurde deutlich, daß es eine grundsätzliche Kulturbedingtheit gibt, und die gilt grundsätzlich, ob es um europäische oder außereuropäische Philosophien und Systeme geht. Wenn eine bestimmte Kulturbedingtheit sich verabsolutiert, aus welchen Gründen auch immer, dann ist dies nichts anderes als das Verabsolutieren einer relativen Position.

7

  Zweitens: Die systematische Bearbeitung des Gegenstandes Philosophie ist ja zum Beispiel auch im Indischen geschehen. Die Auseinandersetzungen haben aber immer wieder die europäische Philosophie als Ausgangspunkt gehabt. Einerseits hat man vor allem früher behauptet, indische Philosophie sei zu religiös und indische Religion sei zu philosophisch. Doch das setzt die Stimme des christlichen Europas voraus, das von der Trennung von Philosophie und Religion ausgeht. Indien kennt eine solche Trennung in dieser Strenge nie. Dieser Vorwurf kommt aus Unkenntnis oder aus der inneren Überzeugung, daß es die einzige Religion und die einzige Philosophie nur in einer bestimmten Kultur gibt. Worauf die interkulturelle Philosophie und auch das Konzept des Polylogs – soweit ich es verstehe – Wert legt und Wert legen sollte, ist, daß Vergleichsparadigmata sowohl in Europa als auch in Nicht-Europa zu finden sind. Das Fehlen irgendeines Merkmales dieses Paradigmas in einer anderen Kultur bedeutet nur, daß eine andere Kultur mit gleichgearteten Problemen anscheinend anders umgegangen ist.

8

  In der Frage nach dem Philosophiebegriff sollten wir uns fragen – eine Vorstellung völliger Identität oder eine völliger Unvereinbarkeit und Differenz –, was tut man, wenn man philosophiert? In diesem Tun sollten wir versuchen die Definition von Philosophie zu suchen.








David Simo ist Professor für Germanistik an der Universität Yaoundé.


Literaturbeispiel:

Interkulturalität und ästhetische Erfahrung. Untersuchungen zu Hubert Fichte.
Stuttgart: Metzler, 1993.

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  Daß Philosophien immer wieder übersetzt worden sind, ist ein Faktum, das der theoretischen Begründung immer vorausgegangen ist. Man sagt von Europa her manchmal, daß der Begriff der Philosophie oder Logos oder Vernunft sehr schwer in nicht-europäische Sprachen übersetzbar ist. Andererseits hat man ja auch in Europa Begriffskonkordanzen, analogische Gemeinsamkeit gefunden – und zum Beispiel Logos übersetzt in "Gottvater", "ratio", "raison", "Vernunft". Keine Übersetzung ist restlos deckungsgleich, selbst aus zwei Sprachen aus derselben Kultur.


10

  Shorny: Interkulturelles Philosophieren ist ein Projekt, ein Versuch zu einem sich gegenseitig befruchtenden und – das heißt – auch verändernden Verstehen zu kommen, um so gegenwärtig philosophisch zu arbeiten. Die Tradition spielt für das Philosophieren eine herausragende Rolle, und Philosophiegeschichte ist in irgendeiner Form immer konstitutiv für gegenwärtiges Philosophieren. Was ließe sich nun als Regeln für einen Polylog, den wir hier und jetzt an diesem Tisch führen, aufstellen, oder aber als Anweisungen für Gestalt und Methode einer Philosphiegeschichte, die verschiedene Traditionen aus verschiedenen Kulturen zusammenzieht?


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  Wimmer: Die Fixierung auf die europäische Philossophiegeschichte ist nicht nur von Europäern, sondern auch von anderen praktiziert worden, zum Beispiel im Verhältnis der ostasiatischen und der südasiatischen Traditionen. Mir schiene, wenn man nach inhaltlichen und formalen Ähnlichkeiten sucht, dann ist man nicht mehr an die absolute Chronologie gebunden, sondern man sucht nach strukturell ähnlichen Stationen der Denkgeschichte. Es stellt sich aber die Frage, ob das wieder eine evolutionistischer Zentrismus ist.



»Das ist im Griechischen deutlich mit dem Beginn der Philosophie verknüpft: die Kommunikation von Männern im wesentlichen unter Ausschluß der Frau. Somit heißt für mich Beginn von Philosophie: deutlicher Androzentrismus.«

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  Birkhan: Ich greife die Frage nach den Kriterien und den strukturell ähnlichen Stationen auf und möchte hierfür auch das Gender-Problem ins Spiel bringen. Herr Mall, wenn Sie sagten, Logos sei sinnvollerweise mit "Gottvater" zu übersetzen, obwohl das nicht die ursprünglich griechische Idee sei, dann möchte ich darauf hinweisen, daß die Griechen wohl ähnliche Vorstellungen hatten: Die Gestalt des Zeus geht in die Richtung eines Gottvaters und der Mann in die Richtung, sich als Repräsentanten des Menschseins zu positionieren. Das ist im Griechischen deutlich mit dem Beginn der Philosophie verknüpft: die Kommunikation von Männern im wesentlichen unter Ausschluß der Frau. Somit heißt für mich Beginn von Philosophie: deutlicher Androzentrismus. Der Faktor Zeit und die Bedingtheit des Entstehens dieser Rede vom Logos - als "Gottvater", wie Sie sagten, und in Bedeutung des Mannes als entscheidenden Repräsentanten – wie ich hinzufügte – ist für mich und meine Fragestellung sehr relevant. Gibt es eine strukturelle Ähnlichkeit gerade in einer bestimmten Art der Verdrängung, der Verdeckung der Kreativität und des wichtigen kulturellen Beitrages der Frau auch in anderen Kulturen zu bestimmten Zeiten? Wenn man diese Dimension einfach ausläßt, könnten alle Periodisierungsvorschläge ziemlich problematisch/einseitig aussehen.


 

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  Wimmer: Alle Historiographie und so auch die Geschichtsschreibung der Philosophie hat eine wesentliche Tendenz zur Reduktion von Differenzen: die "eigentliche" Geschichte schreiben. Wir haben es aber immer und in erster Linie mit Differenz zu tun, reduziert wird in einem Dominanz-Prozeß, wo dann abgeschnitten, ausgesondert, zum Schweigen gebracht oder gar nicht erst zum Reden zugelassen wird.


 

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  Simo: Ich spiele in dieser Runde wohl eine doppelte Außenseiterrolle: Zum einen als Afrikaner und zum anderen als Literat. Als Afrikaner muß ich hier anmerken, daß die Kommunikation zwischen Europa und manchen Kulturräumen leichter ist, schon aufgrund der Schriftlichkeit. In Europa des 19. Jahrhunderts wußte man sehr genau, daß es eine indische, eine chinesische Philosophie gibt, und man hat sich bemüht, dieses Denken zu entdecken, selbst wenn dies wie bei Hegel reduktionistisch ist. Für Hegel gehört Afrika aber zur Zoologie.


»Die Philosophie hat immer den Anspruch gehabt, absolut zu sprechen, und nicht von einer geschichtlichen, kulturellen Perspektive her zu reden, sondern grundsätzlich absolut und transkulturell.«

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  Aber zu den vorgeschlagenen Periodisierungsbespielen: Ist es Zufall? Afrika ist wieder außen. Nicht einmal Ägypten erscheint hier! Nicht einmal Ägypten. Ägypten wurde auch in der europäischen Geschichtsschreibung ganz bewußt von Afrika getrennt, obwohl oder weil da auch eine vergleichbare Grundlage besteht, nämlich Schriftlichkeit, Schrift, Text. So sehen Sie die Außenseitersituation Afrikas. Wir haben da nichts anzubieten, was ein Vergleichsmoment ermöglichen würde, wir gehen von einer ganz anderen Situation aus. Da müssen wir verstehen, warum bei der Diskussion, ob es eine afrikanische Philosophie gibt, nur auf Europa Bezug genommen wurde – schon weil die ganze Diskussion von Europa her kam.

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  Als Literat sage ich: Die Philosophie hat immer den Anspruch gehabt, absolut zu sprechen, und nicht von einer geschichtlichen, kulturellen Perspektive her zu reden, sondern grundsätzlich absolut und transkulturell. Es gibt vielleicht überall solche Versuche, und da könnte man einen Vergleich anstellen.

»Wie vergleicht man? Was vergleicht man? Es kann nur verglichen werden, was vergleichbar ist, und das heißt, nur da wo es Beziehungen gibt, gegenseitige Einflüsse.«

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  Die Literatur war von vorneherein nicht immer darauf ausgerichtet, vom Menschen hier und jetzt, vom Menschen, gebunden in einer kulturellen Tradition zu sprechen. Diese Auffassung der Literatur gibt es aber seit dem 19. Jahrhundert. Es hat früher eine andere Auffassung gerade in Europa gegeben, die die Literatur als einen Ausdruck des Menschen schlechthin sah, die Literatur wurde da nicht im kulturellen Sinne definiert, sondern einfach als Diskurs über den Menschen. Dies ging sehr schnell zu Ende, als Nationen entstanden, als die Philologien entstanden und zu einer Wissenschaft wurden, für die die Literatur zur Konstitution der Nation beitragen sollte. Und heute gibt es eine deutsche Literaturgeschichte, eine französische ... und es gibt das Spezialfach der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Auch sie hatte große methodologische Schwierigkeiten von Anfang an: Wie vergleicht man? Was vergleicht man? Es kann nur verglichen werden, was vergleichbar ist, und das heißt, nur da wo es Beziehungen gibt, gegenseitige Einflüsse. Auch der Begriff der Weltliteratur entstand erst, als der Modernisierungszug gemeinsame oder vergleichbare Grundlage für die Entstehung von Literatur in vielen Teilen der Welt schuf.



»Das habe ich in Europa gelernt: Europa enthält selber unterschiedliche Konzeptionen, die von der Sache her anderswo zu finden sind und gefunden werden können.«

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  Mall: Daß Philosophie sich immer auf das Absolute festgelegt hat, ist ein Strang (aber eben nur ein Strang) der europäischen Philosophie, aber auch in Afrika, wo einige afrikanische Kollegen in Kenya Weise gefragt haben, nämlich: Was ist Gerechtigkeit, was ist Gott, was ist das Gute? Und die Art und Weise, wie sie gesprochen haben, enthält ein System, einen Begründungszusammenhang. Andererseits haben zum Beispiel die Sophisten die Philosophie überhaupt nicht mit Absolutismus identifiziert. Das habe ich in Europa gelernt: Europa enthält selber unterschiedliche Konzeptionen, die von der Sache her anderswo zu finden sind und gefunden werden können.

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  Wenn Sie als Afrikaner in Europa über Gott und die Welt reden, dann heißt es, Sie kommen vielleicht aus Afrika, aber im Grunde genommen sind Sie Europäer: Hier sind Sie groß geworden, hier haben Sie akademische Grade erlangt usw. Schopenhauer hat so viel von den Upanishaden übernommen, er sagt sogar, ohne die Upanishaden wäre seine Philosophie nicht. Kein Mensch aber bezeichnet deswegen Schopenhauer als einen indischen Philosophen. Mir würde man eher sagen, Sie, Herr Mall, sind zwar aus Indien, aber Sie sind im Grund genommen Europäer.

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  Vieles, was in Europa gesagt oder getan wird, verdankt sich nicht der Kraft der Argumentation, sondern außertheoretischen Faktoren: Ein Beispiel: Lukian von Samosata und Diogenes Laertius erzählen beide eine Geschichte über die Königin der Philosophie. Bei Lukian war sie zuerst in Indien, dann in Äthiopien, dann in Thrakien. Das Gegenteil erzählt Diogenes Laertius: Philosophie sei eine Leistung der Griechen, die Barbaren haben das nicht. Aufgrund von Machtverhältnissen kam man nie dazu, Lukian irgendwie ernsthaft zu diskutieren, nicht einmal an den Universitäten in Kalkutta, die dieselben Fakultäten hatten wie Oxford.


 

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  Shorny: Es stimmt natürlich, daß eine Philosophiegeschichtsschreibung, die sich auf Texte als Daten und Grundlage für die Philosophiegeschichte bezieht, auch wenn sie guten Willens ist, die afrikanischen Traditionen draußen läßt, aber nicht nur die afrikanischen, sondern überhaupt alle nicht-schriftlichen Traditionen (die gibt und gab es ja auch in Europa). Damit marginalisiert sie neuerdings.

 

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  Was für eine Form kann Philosophiegeschichtsschreibung haben, die nicht-schriftliche Traditionen genauso gleichberechtigt einbezieht wie schriftliche Traditionen? Müssen wir zum Beispiel, um nicht Ungleichzeitigkeiten zu produzieren, uns von der Vorstellung, Geschichte sei eine zeitliche Anordnung, verabschieden?


 

23

  Birkhan: Wir müssen neben den nicht-schriftlichen Traditionen auch auf Schriften achten, die nicht kanonisiert waren, oder Seitenstränge, die nicht einem siegreichen Diskurs angehören, wieder aufdecken. Also zum Beispiel die häretischen Bewegungen im Mittelalter.

»Aus dem, was in der Philosophie an Schriften wichtig wurde, ist ganz besonders ... die weibliche Seite ausgenommen ...«

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  Aus dem, was in der Philosophie an Schriften wichtig wurde, ist ganz besonders, wie gesagt, die weibliche Seite ausgenommen, vielleicht weil Frauen mit dem Hier und Jetzt, das Herr Simo ins Spiel gebracht hat, und dem Prozeß des Werdens und Geburt und Tod so sehr verbunden wurden. Allein dadurch, daß der gegenwärtige Raum, was nun die Wissenschaft betrifft, derart männlich dominiert ist, werden diese Dinge wenig hinterfragt.

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  Ich lasse durchaus offen, ob Mann/Frau ein derart entscheidendes Kriterium für Differenz und geschichtliche Periodisierung sein muß, aber als Konstrukt gilt es nun so. Kann der Polylog interkulturell laufen und dennoch wieder diese Differenz ausblenden, diskriminieren oder gar nicht wahrnehmen?


 

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  Simo: Schriftlichkeit ist in Afrika nicht ganz abwesend: Es gibt Versuche in Afrika, Ägypten wieder als Quelle zu entdecken und zu gewinnen, Ägypten sozusagen als unser Griechenland neu zu entdecken und von dort aus die Geschichte, auch die des Denkens, in Afrika neu zu schreiben.

 

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  Das bedeutet, daß man sich heute in einer Epoche befindet, die durch die Schrift weitgehend bestimmt wird. Um überhaupt noch einen Platz in dieser Kultur zu haben, ist es wichtig, eine Tradition der Schrift auch für sich zu entwicklen und zu reklamieren. Und da sieht man den Druck dieser ganzen Tradition der Schriftlichkeit, einen starken Druck, der auf uns lastet. Auch wenn man nett ist und sagt, auch die Nicht-Schriftlichkeit hat ja wichtige Hervorbringungen, muß man einsehen, daß wir doch in einer allgemeinen Kultur, wo ganz andere Werte gelten, leben.

 

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  Das, was in Afrika "Ethnophilosophie" genannt wurde, war ein Versuch, ausgehend von der Sprache oder vom Denken eines Volkes philosophische Fragen herauszuarbeiten und schriftlich zu fixieren, was deutlich zeigt, daß es nicht mehr möglich ist, außerhalb dieser schriftlichen Kultur zu leben. Man muß reinkommen! Es geht ja ums Existieren, um Sein, wenn Sein nur möglich ist durch Teilhabe an Sachen, die nur durch die Schrift möglich sind. Das ist nicht nur Verschriftlichung, sondern auch Übersetzung in einen Diskurs, der mündlich nicht gegeben ist.

»Ob in der Philosophie oder in der Literatur, Europa für sich allein gibt es nicht. Es hat sich im Prozeß der Auseinandersetzung mit anderen Völkern konstituiert.«

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  Wie Bachtin zeigt, kann man – aus der Lektüre von Lukian – die Geschichte des europäischen Denkens und der Literatur ganz anders schreiben. Die Konstruktion einer naturwüchsigen, teleologischen Geschichte verdecke eine Wirklichkeit, nämlich, daß sich Europa im Grund nur in Auseinandersetzung mit anderen als Europa konstituiert hat. Das bedeutet: Ob in der Philosophie oder in der Literatur, Europa für sich allein gibt es nicht. Es hat sich im Prozeß der Auseinandersetzung mit anderen Völkern konstituiert. Wenn man von Brüchen und Sprüngen sprechen kann, die sind immer bedingt durch das Auftauchen in den Horizont von ganz neuen, von fremden, von anderen Kulturen. Bachtin nennt das das »Dialogische Prinzip« – ein Denken mit dem Bewußtsein von der Existenz des Anderen, und dieses Denken modifiziert automatisch die eigene Tradition des Denkens. Das Bewußtsein, daß man nicht ganz allein ist, zwingt dazu, selbst dann, wenn man sich als der einzige, der Alleinexistierende behaupten will, die Begründung dafür anders zu organsieren. Der Polylog sollte oder könnte zunächst darin bestehen, aus diesem Bewußtsein der Existenz des Anderen die Selbstverständlichkeiten, die in der Betrachtung der eigenen Geschichte existieren, in Frage zu stellen, neu zu bedenken, und das bedeutet: eine neue Geschichte zu schreiben, aus der klar wird, daß es im Grunde das europäische Denken vielleicht so nicht gibt, sondern ein Denken der Europäer in Beziehung auf viele andere, von denen sie auch oft borgen.

 

30

  In Black Athena wird gezeigt, daß Ägypten nicht nur afrikanisch, sondern schwarz war. Die griechische Kultur, die die ägyptische beerbt, ist also doch letzten Endes eine schwarze Kultur, die nach Europa verpflanzt wurde. Und was in Black Athena nachgewiesen wurde, läßt sich vielleicht bei anderen Kulturen in anderen Epochen zeigen. Das Abwesende in den Texten wird zum grundlegenden Moment, und da wo man glaubt, es mit einem Monolog zu tun zu haben, ist im Grunde schon ein Dialog implizit vorhanden.




»Wie soll man verhindern, daß man die Differenz für die eigene Identität mißbraucht, sondern das Andere wirklich sein läßt?«

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  Mall: Wenn es stimmen sollte, empirisch, daß alle Vereinheitlichung oder Systematisierung eine Art von Reduktion von Differenz mit sich bringt – ist es ein Machtfaktor, der die ganze Zeit am Werke gewesen ist? Ist es ein Fehlen der Solidarität zwischen Mann und Frau? Wie steht es mit einigen Matriarchaten? Gibt es ein Polylogmodell, wo es weder um Machtfaktoren, noch um Rache geht? Wie soll man verhindern, daß man die Differenz für die eigene Identität mißbraucht, sondern das Andere wirklich sein läßt?


 

32

  Birkhan: Die aufregende Frage nach Interkulturalität zwischen differenten Kulturen in der Jetzt-Zeit gewinnt in einer diachronen Betrachtung etwas ähnlich Irritierendes. Es kommt dadurch vieles durcheinander an Fragen und Antworten. Insbesondere stellt sich die Frage, inwieweit es doch wichtig ist, auf eine bestimmte Geschichte als Geschichte unserer Kultur zu bestehen – im Sinne unserer Identität, aber auch Schuld?


Michael Shorny arbeitet am Polycollege Wien als Programmorganisator und ist Chefredakteur von polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren.

Franz Martin Wimmer ist Professor für Philosophie an der Universität Wien.

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  Wimmer: Du sagst, es kommt durch einen solchen Blick vieles durcheinander, oder Kategorien, Grenzen lösen sich auf oder müssen überschritten werden. Wärest du einverstanden, wenn man dieses "Durcheinander" einmal als "zusammen" übersetzen würde? Das Lateinische hat ein Wort, in dem beide Bedeutungen zusammenkommen: confusio . Durcheinander kommt etwas im Deutschen, wenn etwas konfus wird, aber das lat. confusio heißt ja eigentlich zusammenfließen, confundere, zusammenströmen, und das schiene mir hier passend: eine positive Konfusion. Eine fruchtbare Konfusion.


34

  Birkhan: Ich sehe das als sehr fruchtbar an, was da alles auftaucht. Es ist zugleich eine Konfusion, die mich eher durcheinander bringt. Es ist jedenfalls ein produktives Durcheinandergebrachtsein, das ein neues Lesen erlaubt.


35

  Simo: Die Geschichtsschreibung ist natürlich immer eine Konstruktion, und diese Konstruktion gehorcht manchen Interessen und manchen Wünschen. Geschichtsschreibung geschieht ja immer in Hinblick auf eine Zukunft, und es ist wichtig zu beobachten, wie man zu dieser Konfusion steht. Die Europäer haben es gut. Die können es sich aussuchen, ob sie sich dieser Konfusion aussetzen oder nicht. Wir sind in die totale Konfusion hineingestellt worden, so daß wir die Wahl gar nicht mehr haben. Wir würden uns wünschen, wenn die Europäer stärker konfus werden, vielleicht würden wir uns dann besser verstehen.



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