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Aharon Shear-Yashuv

Talmudische Gedanken über die
»Erkenntnisse der Glaubenslehren«

English
Summary

The dialectics between revelation and reason can be found throughout the history of Jewish philosophy of religion and Rabbinic thought. The different schools all try, each according to its special understanding, to point to the rational character of the contents of revelation. This paper differentiates between three main positions on that theme, illustrated by three Aggadot (stories) from the Talmud: The maximal position understands the revelation at Sinai as completely given, the minimal position as revelation of certain general contents, and, finally, the midway position understands revelation as contents which can be interpreted differently. Despite the differences, all the positions are based on the principle that in each generation the traditional texts have to be actualized. The necessary process of interpretation will be guided by the principle of reason which may also be termed the perceptions of beliefs.

Inhalt

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Vorbemerkung

Der Beitrag erschien zuerst in:

polylog: Austrian print edition
Nr. 5 (2000) zum Thema:
Erkenntnisquellen des Philosophierens
1 Am Beginn der mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophie steht das Hauptwerk des Sa'adja ben Josef (882-942) Kitab al-Amanat wal I'tiqadat, das im deutschsprachigen Bereich als Das Buch der philosophischen Meinungen und Glaubenslehren bekannt wurde. Dem Verfasser geht es aber nicht um doppelte Wahrheit, solche, die für das Menschliche, und solche, die für das Göttliche bestimmt ist, sondern vielmehr um den Beweis, dass der Inhalt der wahrhaften göttlichen Offenbarung mit dem der Vernunft weithin identisch ist. In diesem Sinne muss man die »philosophischen Meinungen und Glaubenslehren« als ein Hendiadyoin auffassen und besser mit »Erkenntnisse der Glaubenslehren« übersetzen. 1
Aharon Shear-Yashuv:
Jewish Philosophers on Reason and Revelation.
Paideia World Philosophy Conference Paper.
1998.
external linkArtikel
2 Die verschiedenen Schulen in der Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie, sowohl die rationalistischen als auch die sogenannten anti- oder überrationalistischen, sind keineswegs irrationalistisch, sondern bemühen sich alle, jede auf ihre besondere Weise, auf die ratio des Offenbarungsinhaltes hinzuweisen, wobei entweder die Vernunfterkenntnisse – wie bei den Rationalisten – sich mit dem Offenbarungsinhalt teilweise oder völlig decken, oder – wie bei den Antirationalisten – bestimmte Vernunftoperationen gewissermaßen von der Offenbarung gefangengenommen werden. 2
3 Die folgende Abhandlung beschäftigt sich mit der Frage nach den talmudischen Erkenntnissen der Glaubenslehren, dargestellt an einigen Diskussionen über das immanente Verhältnis von Vernunft und Offenbarung. Doch vorher einige kurze Bemerkungen über das Bemühen der talmudischen Weisen, in Gesprächen mit Vertretern der zeitgenössischen Philosophie allgemeine philosophische Themen zu diskutieren. Nach biblischem Verständnis hat ja jeder Mensch, der im Bilde Gottes geschaffen worden ist, Anteil an der göttlichen Vernunft und kann daher, unabhängig von jedem besonderen Offenbarungsverständnis, sich bemühen, auf diskursivem Wege zu philosophisch-theologischen Erkenntnissen zu gelangen.

Gespräche zwischen Rabbinern und Philosophen

Der Universalcharakter des klassischen Judentums ist der Grund für die Offenheit und Bereitschaft der talmudischen Weisen, sich in Gesprächen mit Vertretern der zeitgenösssischen Philosophie über weltanschauliche Fragen zu unterhalten. 4 Der Universalcharakter des klassischen Judentums, der sich in der Noachiden-Theologie ausdrückt, 3 ist der Grund für die Offenheit und Bereitschaft der talmudischen Weisen, sich in Gesprächen mit Vertretern der zeitgenösssischen Philosophie über weltanschauliche Fragen zu unterhalten. So wird an zahlreichen Stellen in der talmudischen und midraschischen Literatur über Gespräche zwischen Rabban Gamliel II. und römischen Philosophen gegen Ende der Herrschaft Domitians berichtet; sie diskutierten zum Beispiel über das Problem der Theodizee oder über den Götzendienst, den empirischen Gottesbeweis oder den Konflikt zwischen Gott als Schöpfer, der einerseits an seine natürliche Ordnung gebunden ist, andererseits aber die sittliche durchsetzen will. 4 Aufschlussreich sind auch die Gespräche zwischen Rabbi Jehuda, dem Präsidenten des Sanhedrin, und dem Kaiser Marcus Aurelius Antonius, einem der wichtigsten Vetreter der späten Stoa, vor allem über ethische Fragen. 5
5 Das enge Verhältnis jüdischer Gelehrter zu den Vertretern der verschiedenen griechischen und römischen Philosophenschulen führte sogar zu der weit verbreiteten Ansicht, dass die klassische Philosophie aus der jüdischen Offenbarung geschöpft habe. So nennt zum Beispiel Theophrastos, der Schüler und Nachfolger des Aristoteles, die Juden philosophoi to genos, Philosophen von Geburt; und dessen Zeitgenosse Megasthenes, Gesandter des seleucidischen Reiches an einem der indischen Höfe, meinte, was die Brahmanen in Indien sind, nämlich die Philosophen im Lande, das seien die Juden im vorderasiatischen Raum. Der Peripatetiker Hermippos schreibt in seinem Leben des Pythagoras, dass Pythagoras seine Lehren teilweise von den Juden entlehnt habe; und der Neupythagoräer Numenios führt die Philosophie der Griechen auf die Weisheit der Orientalen zurück und nennt Platon einen attisch redenden Moses. Auch die Kirchenväter Justinus und Clemens Alexandrinus meinten, dass die Vorstellungen der griechischen Weltweisen über Gott den mosaischen Schriften entlehnt worden seien, eine Ansicht, die nach Averroes im Mittelalter allgemein vertreten wurde. 6

Die Weisen des Talmuds über Offenbarung und Vernunft

»Forsche in der Tora und forsche immer wieder in ihr, denn in ihr ist alles enthalten, durch sie wirst du erkennen, werde alt und grau in ihr, und weiche nicht von ihr, denn es gibt keinen besseren Maßstab als den ihren.«

Sprüche der Väter
6 Der rationale Charakter der talmudischen Anschauungen, der sich in Gesprächen mit nichtjüdischen Philosophen und Theologen und deren Auffassungen über den Einfluss der jüdischen Tradition auf die griechische Philosophie ausdrückt, spiegelt sich auch in den zahlreichen Aggadot (Erzählungen) im »Meer des Talmuds« über das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft wider. Man kann meiner Einschätzung nach zwischen drei Hauptpositionen unterscheiden, die durch das Vernunftprinzip miteinander verbunden sind: die Maximal- und Minimalansicht und eine zwischen diesen beiden Polen stehende Meinung, die am häufigsten vertreten wird.
7 Die Maximalansicht lässt sich z.B. mit dem im Babylonischen Talmud (Traktat Megilla, Folio 19b) genanntem Dictum beschreiben, wonach »Gott dem Mose alle Einzelheiten der schriftlichen und mündlichen Lehre, und was die Gelehrten in der Zukunft erneuern werden, gezeigt hat«. Demnach ist der ganze Offenbarungsinhalt bereits dem Mose gegeben, und was die Gelehrten erneuern werden, ist als Aufdecken der bereits gegebenen Wahrheit, nicht aber als deren diskursive Erkenntnis zu verstehen. Eine ähnliche Ansicht vertritt Ben Bag-Bag am Ende des 5. Kapitels der Sprüche der Väter: »Forsche in der Tora und forsche immer wieder in ihr, denn in ihr ist alles enthalten, durch sie wirst du erkennen, werde alt und grau in ihr, und weiche nicht von ihr, denn es gibt keinen besseren Maßstab als den ihren.« 7
8 Zur Erklärung der Minimalansicht führe ich zwei Beispiele an. Das erste Beispiel ist eine midraschische Auslegung von Exodus, Kap. 31, Vers 18: »Und er gab Mose, nachdem er mit ihm auf dem Berg Sinai zuende geredet hatte, die beiden Tafeln der Bezeugung, Tafeln von Stein, beschrieben vom Finger Gottes.« Der Midrasch Tanchuma erklärt das »zuende« mit einem Wortspiel: »Hat denn Mose die Thora bis zuende gelernt [ganz gelernt]? Es heißt doch ›sie ist länger als die Erde und breiter als das Meer‹? (Hiob 11.9) Es muss vielmehr so verstanden werden: Der Ewige, gepriesen sei Er, hat dem Mose nur allgemeine Regeln überliefert.« 8 Mit den »allgemeinen Regeln« sind wohl die 13 hermeneutischen Richtlinien des Rabbi Jischmael am Anfang des Midrasch Sifra zum Buche Leviticus gemeint, mit deren Hilfe die Texte der hebräischen Bibel ausgelegt werden. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der talmudischen Logik. 9 Das zweite Beispiel für die Minimalansicht ist die folgende Erzählung aus dem babylonischen Talmud, Traktat Menachot, Folio 29b:
9 Es sagte Rav Jehuda im Namen des Rav: Als Mose auf den Berg stieg, … sagte ihm der Ewige, gepriesen sei Er: In der Zukunft, nach 25 Generationen, wird ein gewisser Akiba, Sohn des Joseph, von jedem Buchstabenhaken ganze Gesetzeswälle bauen. Da sagte er: Herr der Welt, zeige mir ihn doch. Da sagte Er: Gehe zurück. Da setzte Mose sich an den Schluss der achten Reihe und verstand nichts von dem, was sie sagten. Danach fühlte er sich sehr schwach. Als dann Rabbi Akiba eine schwierige Stelle erklärte, fragten ihn seine Schüler, woher er dies denn wisse? Da antwortete Rabbi Akiba: Das ist ein Gesetz des Mose vom Sinai. Danach fühlte Mose sich dann wieder wohl.
10 Nach dieser Aggada sind dem Mose am Sinai nur gewisse Offenbarungsinhalte zuteil geworden. Die Weisen, wie Rabbi Akiba, erweiterten im Laufe der Generationen durch intensives Studium diese Inhalte, die teilweise im Sinaigeschehen angedeutet sind oder nicht ausdrücklich textlich bewiesen werden können, wie die Gesetze des Mose vom Sinai, die zwar sehr alten Ursprungs, aber in den biblischen Texten nicht einmal angedeutet sind. 10
»Die Tora ist bereits vom Berge Sinaj her verliehen worden. Wir achten nicht auf die Hallstimme, denn bereits hast du am Berge Sinaj in die Tora geschrieben: nach der Mehrheit zu entscheiden.«

Babylonischer Talmud
Traktat Baba Mezia
11 Und nun zur dritten, häufigeren Ansicht, die eine Zwischenposition zwischen den oben kurz beschriebenen beiden Extrempositionen einnimmt. Einige Beispiele sollen diese erläutern.
12 Es sagte Rabbi Abba im Namen Samuels: Drei Jahre diskutierten die Vertreter der Schule des Schammai mit denen der Schule des Hillel. Beide sagten, dass das Gesetz nach deren Auslegung ist. Da rief eine himmlische Hallstimme: Beide Ansichten stimmen mit den Worten des lebendigen Gottes überein. Die Halacha ist allerdings nach der Meinung der Schule des Hillel. Wenn also beide die Worte des lebendiges Gottes reflektieren, warum ist denn das Gesetz nach Hillel? Weil sie gemäßigter waren und nicht nur ihre, sondern auch die Ansichten der Schule des Schammai lernen. ('Erubin 13b)
13 Für beide Schulen ist also der Offenbarungsinhalt seit dem Offenbarungsereignis am Sinai überliefert, aber dessen Verständnis bedarf der Diskussion. Das himmlische Echo, eine niedrige Form der Prophetie, kritisiert in gewisser Hinsicht den Satz des Widerspruches zugunsten einer synthesis oder einer coincidentia oppositorum, die die Gegensätze im Hinblick auf Gott verneint. 11
14 Eine ähnliche Zwischenstellung drückt die folgende Aggada aus dem babylonischen Talmud, Traktat Baba Mezia, Folio 59a.b, aus, die hier ausführlicher diskutiert werden soll.
15 Dort haben wir gelernt: Hat man ihn in einzelne Ringe geschnitten und Sand zwischen die Ringe getan, so ist er nach R. Elieser nicht verunreinigungsfähig und nach den Weisen verunreinigungsfähig; das ist der Schlangenofen. – Weshalb [heißt er] Schlangenofen? R. Jehuda erwiderte im Namen Schemuels: Weil man ihn mit Worten gleich einer Schlange umringt hat. Schließlich erklärten sie ihn als verunreinigungsfähig. Es wird gelehrt: An jenem Tage machte R. Eliezer alle Einwendungen der Welt, man nahm sie aber von ihm nicht an. Hierauf sprach er: Wenn die Halakha wie ich ist, so mag dies dieser Johannisbrotbaum beweisen! Da rückte der Johannisbrotbaum hundert Ellen von seinem Orte fort; manche sagen: vierhundert Ellen. Sie aber erwiderten: Man bringt keinen Beweis von einem Johannisbrot baume. Hierauf sprach er: Wenn die Halakha wie ich ist, so mag dies dieser Wasserarm beweisen! Da trat der Wasserarm zurück. Sie aber erwiderten: Man bringt keinen Beweis von einem Wasserarme. Hierauf sprach er: Wenn die Halakha wie ich ist, so mögen dies die Wände des Lehrhauses beweisen! Da neigten sich die Wände des Lehrhauses [und drohten] einzustürzen. Da schrie R. Jehoschua sie an und sprach zu ihnen: Wenn die Gelehrten einander in der Halakha bekämpfen, was geht dies euch an! Sie stürzten hierauf nicht ein, wegen der Ehre R. Jehoschuas, und richteten sich auch nicht gerade auf, wegen der Ehre R. Eliezers; sie stehen jetzt noch geneigt. Hierauf sprach er: Wenn die Halakha wie ich ist, so mögen sie dies aus dem Himmel beweisen! Da erscholl eine Hallstimme und sprach: Was habt ihr gegen R. Eliezer; die Halakha ist stets wie er. Da stand R. Jehoschua (auf seine Füße) auf und sprach: Sie ist nicht im Himmel. – Was heißt: sie ist nicht im Himmel? R. Jirmeja erwiderte: Die Tora ist bereits vom Berge Sinaj her verliehen worden. Wir achten nicht auf die Hallstimme, denn bereits hast du am Berge Sinaj in die Tora geschrieben: nach der Mehrheit zu entscheiden. R. Nathan traf Elijahu und fragte ihn, was der Heilige, gepriesen sei er, in dieser Stunde tat. Dieser erwiderte: Er schmunzelte und sprach: meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt. Man erzählt, daß sie an jenem Tage alles holten, was R. Eliezer als rein erklärt hatte, und im Feuer verbrannten. Alsdann stimmten sie über ihn ab und taten ihn in den Bann. 12
16 Die Aggada berichtet also über eine halachische Streifrage zwischen Rabbi Eliezer und den Weisen. Ist der ›Schlangenofen‹ verunreinigungsfähig oder nicht? Dieser besondere Ofen besteht aus einigen Ringen, die aufeinandergelegt und mit Sand verbunden werden. Solch ein Ofen kann aus Transportgründen auseinandergelegt werden. Kann man ihn als Gefäß bezeichnen? Nur ein Gefäß ist verunreinigungsfähig, wenn zum Beispiel Aas dort hineinfällt. Rabbi Eliezer meint, dass er wegen der verschiedenen Ringe, die ab- und anmontiert werden können, nicht als vollständiges Gefäß angesehen werden könne und deshalb nicht verunreinigungsfähig sei. Die Weisen sind der gegenteiligen Meinung. Nach deren Auffassung ist der ›Schlangenofen‹ ein vollständiges Gefäß, und deshalb erklärten sie ihn als verunreinigunsfähig.
»R. Nathan traf Elijahu und fragte ihn, was der Heilige, gepriesen sei er, in dieser Stunde tat. Dieser erwiderte: Er schmunzelte und sprach: meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt.«

Babylonischer Talmud
Traktat Baba Mezia
17 Rabbi Eliezer, der in der Generation nach der Zerstörung des zweiten Tempels (zwischen 90 bis 130 u.Z.) neben Rabbi Jehoschua als der wichtigste Gelehrte galt, versucht mit allen möglichen Gesetzesargumenten die Weisen von der Richtigkeit seiner Meinung zu überzeugen, allerdings ohne Erfolg. Deshalb entschließt er sich, durch Wunder die Richtigkeit seiner Auffassung zu bestätigen. Alle vier Elemente – der Johannisbrotbaum (Feuer und Luft), der Wasserarm (Wasser) und die Wände des Lehrhauses (Erde) – werden hier beschworen. Rabbi Jehoschua kritisiert darauf das Verhalten der Wände, die ja Zeugen der talmudischen Diskussionen im Lehrhaus sind und wissen müssen, dass alles auf den richtigen Gebrauch der Vernunft ankommt, um die Richtigkeit des Gesetzes zu beweisen. Als dann Rabbi Eliezer sogar die himmlische Hallstimme zu seinen Gunsten engagieren kann, erinnert Rabbi Jehoschua zornig daran, dass die Tora nicht mehr im Himmel ist und alles auf demokratische Entscheidung ankommt. Die Weisen lehnen also Wunderbeweise in halachischen Diskussionen ab. Rabbi Jehoschua galt als scharfer Opponent christlicher Einflüsse, Rabbi Eliezer dagegen war von der neutestamentlichen Wundertheologie beeinflusst.
18 Unsere Aggada, die sich zugunsten der Weisen, einschließlich des Rabbi Jehoschua, ausspricht, muss wohl auf dem Hintergrund gewisser antichristlicher Polemik verstanden werden. 13 Der Heilige bestätigt ja die Entscheidung der Mehrheit und schmunzelt darüber, dass seine Kinder Ihn mit Hilfe der Tora besiegt haben. 14 Sowohl die Weisen und Rabbi Jehoschua als auch Rabbi Eliezer nehmen meiner Einschätzung eine Zwischenposition ein, da sich ja alle, auch Rabbi Eliezer am Anfang der Aggada, bemühen, den Ofen »mit Worten gleich einer Schlange zu umringen«, also mit Hilfe halachischer Argumente die Frage nach dem Charakter des Ofens zu entscheiden. Rabbi Eliezer begnügt sich allerdings nicht damit und wendet schließlich magische Praxis an. 15
19 Die Texte der drei erläuterten Positionen, die entweder das Sinaigeschehen als vollständige Offenbarung der Tora (Maximalansicht) oder als Offenbarung von gewissen allgemeinen Inhalten (Minimalansicht) verstehen oder als Offenbarung, dessen Inhalt verschiedenartig interpretiert werden kann (Zwischenposition), zeichnen sich alle durch ihren antifundamentalistischen Charakter aus. Für alle gilt, mit verschiedenen Akzentverschiebungen, der Grundsatz, dass die überlieferten Texte in jeder Generation interpretiert und aktualisiert werden müssen. Der ewige Prozess der Interpretation ist der ewige Prozess der Offenbarung. Das Sinaigeschehen ist die »Achsenzeit der Weltgeschichte« 16, um die sich stets der mit Hilfe der geschaffenen Vernunft sich vollziehende neu entdeckte Offenbarungsinhalt dreht. Der ewige Offenbarungsprozess ist also im Sinaigeschen verwurzelt, geht aber auch über ihn hinaus, so dass man beim Lernprozess nicht nur vom Entdecken bisher verborgerner Wahrheiten und Ansichten sprechen soll, sondern auch von Neuerungen im Sinne von Neuschaffungen, die den Ausleger zum Mitschöpfer und Mitoffenbarer machen, wobei allerdings der verpflichtende Autoritätscharakter der originellen Neuschöpfungen von den in jeder Generation allgemein anerkannten Gelehrten gewahrt bleibt. 17 Diese Neuschöpfungen können auch zu anderen legalen Bestimmungen führen als die, die in talmudischen Zeiten üblich waren, weil »die Zeiten sich geändert haben«. 18

Talmudische Weisheit im Spiegel moderner Philosophie

»Solange wir keinen Begriff haben, haben wir auch kein Erkennen, und ohne Erkennen können wir auch keinen Begriff haben. Denn nur durch das Erkennende erlangen wir ihn.«

Maimonides
20 Die drei skizzierten Positionen zur Frage nach der Dialektik von Offenbarung und Vernunft lassen sich in der Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie und des rabbinischen Denkens weiter verfolgen. Sie haben zu rationalen oder überrationalen, nicht aber irrationalen Konzeptionen geführt. Ein Beispiel für die Weiterführung rabbinischer Gedanken aus dem Gebiete der Erkenntnislehre soll dies erläutern. Es heißt im dritten Kapitel der Sprüche der Väter: »Rabbi Elasar, Asarjas Sohn, sagte: Wo kein Erkennen, da ist kein Verstehen, wo kein Verstehen, da ist auch kein Erkennen.« Der Tannati Rabbi Elasar, Nachfolger Rabbi Gamliels II. als Präsident des Sanhedrin in Jawne (etwa 95 u.Z.), drückt hier in aller Kürze sein Verständnis des Erkenntnisprozesses aus, mit dessen Hilfe die Überlieferung interpretiert und die allgemeinen theologischen und philosophischen Wahrheiten erkannt bzw. verstanden werden können. Maimonides (1135-1204) erklärt dies in seinem Mischnakommentar zur Stelle assoziativ:
21 Rabbi Elasar will damit sagen, daß jedes der zwei Dinge (die er zusammenpaart) zur Existenz des anderen beiträgt, und daß das eine das andere ergänzt. Was er aber von Erkennen und Verstehen sagt, ist eine sehr feine philosophische Spekulation. Ich will es nur berühren, indem ich mich auf den Verstand dessen, der darüber nachgedacht hat, verlasse. Also: Erkennen ist, was wir (ohne Zutun unserer freiwilligen Tätigkeit) bekommen. Daß wir aber Verstandesbegriffe erlangen, und dies (auf zweierlei Weise) entweder, indem wir die Form (von der Materie) abstrahieren und uns einen Begriff davon machen, oder, indem wir Begriffe von den an sich abstrakten Formen erlangen, ohne daß wir sie zu einem Erkennen machen, sondern so, daß sie schon ihrer Existenz nach (an sich) ein Erkennen sind, d.h.: Verstehen. Und dies eben ist Erkennen, und durch das Erkennen bekommen wir Begriffe. Er wollte gleichsam damit sagen: Solange wir keinen Begriff haben, haben wir auch kein Erkennen, und ohne Erkennen können wir auch keinen Begriff haben. Denn nur durch das Erkennende erlangen wir ihn. Dieses ist selbst aus den Büchern, die darüber geschrieben sind, schwer zu begreifen, um wieviel mehr hier, wo wir nur einen Wink davon geben wollen. 19
22 Der Philosoph Salomon Maimon (1753-1800) hat dann in seinem in der Berliner Monatsschrift 1789 veröffentlichten Aufsatz »Probe rabbinischer Philosophie« die Erklärung des Maimonides im Sinne dessen hebräisch-philosophischen Sprache und im Sinne der Kantischen Epistemologie zu erläutern versucht. 20 Hermann Cohen (1842-1918), der Gründer der neukantianischen Marburger Schule, entwickelt dann im Gefolge dieser Erkenntnistheorie eine »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums« 21, nach der die geschaffene Vernunft zum Ursprungsprinzip der Offenbarung wird. Das Sinaigeschehen wird also in das Herz des Menschen verlegt. »Die Vernunft fängt nicht mit der Geschichte an, sondern die Geschichte muß mit der Vernunft anfangen. Denn der Anfang soll mehr als ein zeitlicher Anfang sein; er soll einen ewigen Ursprung bedeuten.« 22
23 Es dürfte deutlich geworden sein, dass das talmudische Dictum »Das Studium der Tora wiegt alle anderen Pflichten auf« (Traktat Shabbath, Folio 127a) sich in all den genannten talmudischen und religionsphilosophischen Positionen widerspiegelt und schließlich bei Hermann Cohen in der »Religion der Vernunft« gipfelt, an der das Judentum mit seiner Ursprünglichkeit und seinen klassischen Quellen, die sich durch das Vernunftprinzip und die »Erkenntnisse der Glaubenslehren« auszeichnen, fruchtbaren Anteil hat.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 4 (2003).
Online: http://them.polylog.org/4/fsa-de.htm
ISSN 1616-2943
Quelle: external linkpolylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 5 (2000), 19-25.
© 2003 Autor & polylog e.V.

Anmerkungen

1
Vgl. dazu H. Cohen (1951): Der Begriff der Religion im System der Philosophie. Giessen, 13. go back
2
Über dieses Thema handelt mein Vortrag während des 20. Weltkongresses für Philosophie, der vom 10. bis 16. August 1998 in Boston stattfand: "Jewish Philosophers on Reason and Revelation". Online: external linkhttp://www.bu.edu/wcp/Papers/Reli/ReliShea.htm. go back
3
Vgl. dazu meinen Aufsatz "Der universale Aspekt des Judentums – Israel und die Völkerwelt". In: A. Shear-Yashuv (1987): Religion, Philosophy and Judaism. Jerusalem, 232-240. go back
4
Babylonischer Talmud, Abodah Sarah, Folio 44,45. go back
5
Babylonischer Talmud, Sanhedrin, Folio 91. go back
6
Siehe A. Weiss (1923): Mose ben Maimon. Führer der Unschlüssigen, 1. Buch. Leipzig, 280, und Leo Baeck (1957): "Maimonides – der Mann, sein Werk und seine Wirkung". In: In Memoriam Leo Baeck. Düsseldorf, 36 (Schriften des Zentralrats der Juden in Deutschland 1). go back
7
Der Rationalist Maimonides spricht in seinem Kommentar zur Stelle von der Erkenntnis der Wahrheit, die vom »Auge des Verstandes« gesehen werden kann. go back
8
Im Hebräischen klingen »zuende« (kekaluto), »ganz« (kol) und »allgemeine Regeln« (kelalim) ähnlich. go back
9
Als ein Beispiel für diese Richtlinien führe ich den Schluss a minori ad maius oder umgekehrt an: Zwei sich ähnelnde Sachverhalte, deren einer leicht und der andere streng ist, belehren sich gegenseitig. Handlungen, die zum Beispiel am Sabbath erlaubt sind, sind um so mehr am Feiertag erlaubt, Handlungen, die am Feiertag verboten sind, sind um so mehr am Sabbath verboten.
Vgl. dazu M. Mielziner (1968): Introduction to the Talmud. New York. 4th ed., part II. go back
10
Der Ausdruck »Gesetze des Mose vom Sinai« darf also nicht wörtlich verstanden werden. Nach Maimonides in seiner Einleitung zum Mischnakommentar werden im Talmud 23 solcher Gesetze erwähnt. Wenn Mose in unserer Erzählung sich wieder wohl fühlte, dann hat das wohl seinen Grund darin, dass Rabbi Akiba seinen Namen erwähnte, was aber nicht bedeutet, dass Mose diese Gesetze am Sinai bekommen hat. go back
11
Das mag wohl in diesem Falle zutreffen, will aber nicht besagen, dass die Rabbiner generell den Satz des Widerspruches ablehnen. go back
12
In der Übersetzung von L. Goldschmidt: Der babylonische Talmud. Berlin. go back
13
Vgl. dazu A. Guttmann (1968): The Significance of Miracles for Talmudic Judaism, Bd. XX. New York: HUCA, 363-406. Seine Untersuchung, die sich auch ausführlich mit der Erzählung vom Schlangenofen beschäftigt, kommt zu dem folgenden einleuchtenden Ergebnis: »The decline of miracle as regards influencing law and practice goes parallel with the growth of Christianity. The Bat Kol, a post-Biblical revelation, at first recognized as the highest authority chiefly in deciding the Beth Hillel versus Beth Shammai controversies and playing elsewhere, too, a role in legal matters, later became all but outlawed. This step was taken about the time when Pharisaic Judaism became aware of the imminent danger coming from nascent Christianity which had previously been considered as one of many obscure ephemeral sects. With such revelation, all other miracles had been outlawed, too, as an active agent influencing the decision of halakic controversies.« (405f) go back
14
»Sie haben mich besiegt« wird zweimal erwähnt, was sich wohl auf die mündliche und schriftliche Lehre bezieht. Außerdem haben »besiegen« (lenazeach) und »ewig« (nizchi) die gleiche hebräische Wurzel, wobei also auf die ewige Geltung der mündlichen und schriftlichen Lehre angespielt wird. go back
15
Das Verhalten der Wände des Lehrhauses muss auch aufgrund der Gelehrsamkeit Rabbi Eliezers verstanden werden. »Da erscholl eine Hallstimme und sprach: Was habt ihr gegen R. Eliezer; die Halakha ist stets wie er.« Außerdem berichtet der weitere Verlauf unserer Aggada von der Größe und geistigen Kraft Rabbi Eliezers. Die Kränkung durch den Bann bewirkte nämlich, dass jede Stelle, worauf er seine Augen richtete, verbrannte und dass sein Schwager, Rabbi Gamliel, der Präsident des Sanhedrins, der u.a. für den Bann verantwortlich war, starb. Aber diese magischen Kräfte halfen ihm nicht bei der halachischen Entscheidung. go back
16
Nach Karl Jaspers entstehen die Grundgedanken der großen Kulturen (China, Indien und Abendland) in der Achsenzeit zwischen 800-200 v.u.Z. Nach klassischem jüdischen Verständnis ist die talmudische Zeit (200 v.u.Z bis 500 u.Z.) die Achsenzeit. Die talmudischen Weisen sind ja für die Kanonisierung der hebräischen Bibel verantwortlich. Die mündliche Lehre bestimmt also die Heiligkeit der schriftlichen und damit die Achsenzeit. Die Achsenzeit des Sinaigeschehens ist also das Spiegelbild der talmudischen Achsenzeit. go back
17
Weitere Beispiele für den Originalcharakter der Erneuerung (hebr. Chiduschim mekoriim) führt Jochanan Silman in seinem Aufsatz (1992) "Die Tora Israels im Lichte ihrer Erneuerung. Phänomenologische Studie" (Hebräisch) an. In: Publications of the American Academy for Jewish Studies 57. go back
18
Neue Forschungsergebnisse in den exakten Wissenschaften, der Medizin und Technologie ermöglichem nach dem halachischen Prinzip der schinnui ha'ittim (Änderung der Zeiten) Neuschöpfungen in der Rechtssprechung, wie zum Thema der Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft, der Sexualethik, der Sabbathgesetze etc. go back
19
In der Übersetzung von Salomon Maimon, abgedruckt in: K. Wilhelm (Hg.) (1961): Jüdischer Glaube. Bremen, 334f. go back
20
Vgl. dazu meinen Aufsatz "Eine epistemologische Erklärung von Aboth 3, 17" (Hebräisch). In: Mosche Hallamisch (ed.) (1990): Alei Shefer. Studies in the Literature of Jewish Thought. Ramat-Gan, 163-173. go back
21
So der Titel seines Alterswerkes, das 1919 erschien. Die Werke Cohens werden neu herausgegeben vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey und erscheinen im Olms Verlag in Hildesheim. go back
22
Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Ende des 4. Kapitels. go back

Autor

Aharon Shear-Yashuv (*1940 in Bochum, Deutschland, als Wolfgang Schmidt) ist seit 1984 Dozent für Philosophie an der Bar-Ilan University in Ramat-Gan (Israel). 1960-67 studierte er Theologie, Philosophie und klassische Philologie in Wuppertal, Mainz und Hamburg. Daran schloss sich ein Doktoratsstudium in moderner jüdischer Theologie am Hebrew Union College in Cincinnati an, das er mit einer Arbeit zur Theologie von Salomon Ludwig Steinheim abschloss. 1970 emigrierte er nach Israel, wo er in Jerusalem das Studium zum Rabbiner absolvierte und 1976 ordiniert wurde. Es folgten verschiedene Stationen in Pastoral und wissenschaftlicher Lehre. Seine Hauptforschungsgebiete sind moderne jüdische Philosophie (in Beziehung zu moderner westlicher Philosophie) sowie rabbinisches Denken.
Prof. Dr. Aharon Shear-Yashuv
Bar-Ilan University
Faculty of Humanities
Department of Philosophy
52900 Ramat-Gan
Israel
emailshearya@mail.biu.ac.il
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