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Elmar Holenstein

Ein Dutzend Daumenregeln
zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse

English
Summary

Intercultural understanding does not fail by reason of insurmountable ontological obstacles, which are only susceptible to philosophical analysis. Intercultural misunderstandings are of the same kind as intracultural misunderstanding on the part of members of one and the same culture who belong to different regions, social strata, professions and the like, and are like these susceptible to explanation in psychological and sociological terms. Observing a number of rules of thumb makes it possible to avoid such misunderstandings for the most part.
The governing principle of intercultural hermeneutics is the traditional hermeneutic principle of equity: What all, particularly those concerned, affirm on full consideration of the circumstances is taken as the basis. One of the first requirements is that one must take members of alien cultures seriously and that one must rather doubt one's own perception than their capacity for logical consistency, goal-orientated rationality and ethical responsibility.
Intercultural misunderstandings are often related to ideas now recognized as being dogmatic, to the assumption that cultures are homogeneous and stand in polar opposition to each other, to the supposition that ethical and ethnic differences are correlated, to the lack of distinction between is and ought, but also, among those who seek salvation in alien cultures, to the lack of distinction between what in fact cannot be understood and what fundamentally cannot be understood.

Inhalt

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españolespañol

0. Das Prinzip der hermeneutischen Fairness (»Billigkeit«)

Leonard Swidler:
The Dialogue Decalogue.
Ground Rules for Interreligious, Intercultural Dialogue
.
In: dialogue e-zine.
Original von 1983.
external linkArtikel


Gerald Hall:
Intercultural and Interreligious Hermeneutic: Raimon Panikkar.
In: dialogue e-zine.
Original von 2002.
external linkArtikel


Mauricio Beuchot:
Perfiles esenciales
de la hermenéutica:
hermenéutica analógica
.
Proyecto Ensayo Hispánico.
1997.
external linkArtikel
1 Der hilfreichste Leitsatz zur interkulturellen Verständigung ist das alte Prinzip der Billigkeit, das Grundprinzip der Hermeneutik, der klassischen Theorie des Verstehens, lateinisch entsprechend aequitas hermeneutica genannt. Sämtliche Regeln, die einen Weg zum Verständnis fremder Kulturen bahnen können, lassen sich diesem Grundsatz der Billigkeit zuordnen.
2 »Billigkeit« ist heute, wenn es um zwischenmenschliche Verständigung geht, kein selbstverständliches Wort mehr. Um zu begreifen, was mit ihm gemeint ist, mag es aufschlussreich sein, dass sein lateinisches Pendant aequus in der englischsprachigen rechtwissenschaftlichen Literatur gelegentlich mit fair übersetzt wird. Wir können uns aber auch an das umgangssprachlich noch immer geläufige Wort »billigen« halten: Wir billigen ein Urteil, wenn es der Sache angemessen ist. Das ist es, wenn es allen Umständen, dem gesamten Zusammenhang, in dem ein Gegenstand steht, Rechnung trägt. Bekannter als der Grundsatz der Billigkeit ist darum ein zweiter, daraus abgeleiteter Grundsatz der Hermeneutik geworden, demzufolge ein Text nur zusammen mit seinem Kontext, ein »Teil« nur zusammen mit dem »Ganzen«, zu dem es gehört, verständlich ist. Die nächste Frage ist dann, welcher Art dieser ganze Zusammenhang ist. Darüber gehen die Meinungen – je nach Sensibilität – weit auseinander. In erster Linie gehören dazu die Anliegen aller von einem Urteil Betroffenen. »Billig« ist ein Urteil also dann zu nennen, wenn es von allen, insbesondere den Betroffenen selber, »gebilligt« werden kann. In der Rechtspraxis ist es selbstverständlich, dass man diejenigen, über die ein Urteil ansteht, selber zu Wort kommen lässt. Sie haben das Anrecht auf einen Advokaten. Notfalls wird ihnen ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt.
3 »Billig« heißt in der Rechtswissenschaft darüber hinaus ein Urteil, das unterscheidet zwischen dem strikten Wortlaut des Gesetzes, seinem Buchstaben, und dem Ziel, das der Gesetzgeber mit ihm verfolgt hat, dem öffentlichen Wohl. Entsprechend war für Georg Christoph Lichtenberg »Schikane« der Gegenbegriff zu »hermeneutischer Billigkeit«. 1 Heute ist uns das Wort »billig« fast nur noch im Sinn von »wohlfeil« und »minderwertig« geläufig. Noch im 18. Jahrhundert, in der Blütezeit der Thematisierung hermeneutischer Billigkeit, verstand man dagegen unter einem billigen Preis einen »dem Wert der Ware angemessenen Preis«. »Unbill« nannte man etwas, das man als unrecht, unschicklich und im Besonderen auch als gewalttätig empfand. Zum angemessenen Verständnis einer Sache gehört, dass man ihr keine Gewalt antut. So soll in diesem Essay auch nicht, wie im Deutschen gängig, von »Faustregeln« die Rede sein, sondern in Anlehnung an das englische Rule of Thumb von »Daumenregeln« der interkulturellen Verständigung. Zwölf solcher Regeln, im Verlauf der Lektüre kulturtheoretischer Schriften notiert, seien hier zur Diskussion gestellt.

1. Rationalitätsregel (Logikregel)

»Man kann eben – dieser einfache Satz, der oft vergessen wird, sollte an der Spitze jeder Studie stehen, die sich mit ›Rationalismus‹ befaßt – das Leben … nach sehr verschiedenen Richtungen hin ›rationalisieren‹.«

Max Weber
(Anm. 5)
4 Anscheinend ohne Kenntnis des althermeneutischen Grundsatzes der Billigkeit, mit diesem jedoch konvergierend, ist in philosophischen Übersetzungstheorien der vergangenen Jahrzehnte ein principle of charity formuliert worden. Die übliche deutsche Wiedergabe mit »Prinzip der Nachsichtigkeit« klingt noch etwas herablassender als die bereits hinreichend paternalistisch-fraternalistisch anmutende englische Wortwahl. Gemeint ist, dass man Menschen, deren Sprache und Kultur einem fremd sind, möglichst kein un- oder vorlogisches Denken zuschreibt, sondern eher davon ausgeht, dass man sie missverstanden hat: »For certainly, the more absurd or exotic the beliefs imputed to a people, the more suspicious we are entitled to be of the translations [or interpretations].« 2
5 Sich auf seinen Kerngehalt beziehend, spricht man auch von einem »Rationalitätsprinzip«. Es gibt einen philosophischen Grund dafür, ein solches Prinzip als erste Regel der Verständigung anzuführen. Damit wir sprachliche Äußerungen nicht einfach nur als physikalische Vorkommnisse kausal erklären, sondern ebenso sinnhaft verstehen können, ist vorausgesetzt, dass zwischen ihnen ein logischer Zusammenhang auszumachen ist. Um zu beurteilen, ob und wie jemand sprachliche Äußerungen versteht, muss man herausfinden, welche Schlussfolgerungen er mit einer gewissen Konsistenz aus ihnen zu ziehen vermag.
6 Hegel hatte es noch anders gesehen. Es schien für ihn und seine Zeit Kulturen zu geben, in denen Absurdität, die man von vornherein nicht weiter zu hinterfragen hat, die Regel ist, und Rationalität, auf die man bei genauerem Hinsehen kommt, die Ausnahme. Hegel zitiert aus dem Vorwort von Warren Hastings zur ersten englischen Ausgabe der Bhagavad Gītā: »Jeder Leser müsse zum voraus die Eigenschaften von Dunkelheit, Absurdität, barbarischen Gebräuchen und einer verdorbenen Moralität zugegeben haben. Wo denn das Gegenteil zum Vorschein komme, habe er es nun als reinen Gewinn zu betrachten und es ihm als ein Verdienst zuzugestehen, das im Verhältnis mit der entgegengesetzten Erwartung stehe. Ohne eine solche Nachsicht [!] in Anspruch zu nehmen, hätte er [Hastings] es schwerlich wagen dürfen, dieses Gedicht zur Herausgabe zu empfehlen.« 3
7 Das schlichteste Beispiel dafür, dass etwas, das auf den ersten Blick und wörtlich verstanden ganz offensichtlich Widersinn ergibt, ist die doppelte Negation. Sie ist in vielen Sprachen üblich und umgangssprachlich auch dem Deutschen nicht fremd. Martin Heidegger schrieb an Ernst Jünger von einem »Vetter von mir«, der von sich zu sagen pflegte: »I bi nie kein Nazi gsei.« 4 Die zweite Verneinung hat in solchen Redewendungen nicht die Funktion, die erste aufzuheben, sondern im Gegenteil, sie mit Nachdruck zu verstärken. Verdoppelungen (»sehr, sehr interessant«) sind ein natürlichsprachliches Mittel, etwas hervorzuheben.
8 Die Rationalität einer kulturellen Leistung zu erfassen, setzt beim Interpreten die Fähigkeit zum Standpunktwechsel voraus. »Man kann eben – dieser einfache Satz, der oft vergessen wird, sollte an der Spitze jeder Studie stehen, die sich mit ›Rationalismus‹ befaßt – das Leben … nach sehr verschiedenen Richtungen hin ›rationalisieren‹.« 5 Max Webers »einfacher Satz« gehört auch an den Anfang jeder kulturvergleichenden Untersuchung.

2. Zweckrationalitätsregel (Funktionalitätsregel)

María Lidia Juliá:
Razón y Lenguaje:
La proximidad de razón y lenguaje en la hermenéutica gadameriana
.
Paidea World Philosophy Conference.
1998.
external linkArtikel
9 Menschen können und wollen mehr, als sich nur logisch-rational zu äußern. Sie verfolgen, wie das für Lebewesen natürlich ist, mit dem, was sie unternehmen, einen Zweck. Wenn man logische und teleologische Rationalität, die wörtliche Bedeutung eines Satzes und den mit ihm verfolgten Zweck nicht auseinander zu halten vermag, erscheinen viele Äußerungen als irrational. Mit doppelten Negationen werden schlichte Unwahrheiten behauptet, wenn man allein auf die Bedeutung der einzelnen Wörter und ihre Syntax achtet. Aussagen, die sich auf Offenkundiges beziehen, z.B. auf die fortgeschrittene Uhrzeit, wenn alle Angesprochenen gerade gehört haben, wie oft es geschlagen hat, erscheinen als überflüssig und zwecklos, sofern man nicht merkt, dass der Sprecher mit seiner (der Form nach berichtenden) Aussage eigentlich einen Wunsch oder eine Sorge zum Ausdruck bringen will. Gar viele Äußerungen erscheinen schließlich als zweckwidrig, wenn man zwar mit der funktionalen Sichtweise vertraut ist, dabei aber auf einem engen Zweckbegriff fixiert ist und Zweckmäßigkeit mit Sparsamkeit oder bloßer Nützlichkeit gleichsetzt, oder wenn einem entgeht, dass in Abhängigkeit von den Umständen einander diametral entgegengesetzte Verhaltensformen zweckmäßig sein können.
10 Zu Beginn der Pragmatik-Welle in der Linguistik lautete eine (für manche sogar die erste) Kommunikationsregel »Be short!«. Weltweit hält man sich jedoch intuitiv an die ungeschriebene Höflichkeitsregel »Je länger (eine Anrede oder ein Gruß), desto vornehmer«. Viele klassische Texte der indischen Philosophie mit ihren Wiederholungen wirken auf heutige Leser überaus ermüdend. Was bei einer schriftlichen Tradition Überdruss erzeugt, kann bei einer – jahrhundertelang – nur mündlichen Weitergabe eine Gedächtnisstütze gewesen sein. Susan Taubes beschreibt in einem autobiographischen Roman, wie ihr Vater, ein früher Anhänger der Freudschen Psychoanalyse, sich erbarmungslos die Ausrottung von Umschweifigkeit zum Erziehungsziel gemacht hatte. In umschweifigen Redewendungen sah er nur Heuchelei, und so verbot er seiner Tochter den Gebrauch von Höflichkeitsformeln: »Wenn man um etwas bat, durfte man nicht sagen ›Hast Du bitte…‹ oder ›Könntest Du mir geben…‹ oder ›Ich möchte Dich gern um etwas bitten‹, nein, Sophie bekam das Stück Schokolade erst, wenn sie sagte: ›Gib mir…‹ Sie konnte es nicht, sie weinte.« 6
11 Für Menschen ist nicht nur bedeutsam, was gesagt wird, sondern auch, wie es gesagt wird. Es gibt Texte, die ihre Eindringlichkeit einer versteckten poetischen Form verdanken. Im Testament des vor einiger Zeit verstorbenen Essayisten Niklaus Meienberg steht die anscheinend sachliche Verfügung: »Meine Asche in den Oberlauf der Seine.« Die Anziehung, die vom Satz ausgeht, hat nicht nur mit der Evokation von Paris und der Champagne zu tun, mit denen der Schriftsteller schwärmerisch verbunden war. Was sich wie ein gewollt spröder Telegrammstil liest, ist in Wirklichkeit ein sechsfüßiger Trochäus: Méine Ásche ín den Óberláuf der Séine. Der testamentarische Hexameter (»Sechsheber«) tut seine Wirkung, ohne dass die meisten Leser ihn als solchen erkennen. Buddhas »edle Wahrheit« vom Ursprung des Leidens endet in der Aufzählung von drei Arten von Durst (tanha): »Liebesdurst, Lebensdurst, Wohlstandsdurst.« Ein Blick auf den indischen Text legt die Vermutung nahe, dass bei der Aufzählung der Durstarten gerade in dieser Reihenfolge lautliche und rhythmische Faktoren mit eine Rolle gespielt haben dürften: kāma-taṇhā, bhava-taṇhā, vibhava-taṇhā.

3. Menschlichkeitsregel (Natürlichkeitsregel)

Bevor man Menschen aus einer anderen Kultur sinnloses, unnatürliches, unmenschliches oder unmündiges Verhalten und entsprechende Wertvorstellungen unterstellt, zweifelt man fürs Erste besser an der Zulänglichkeit des eigenen Verstandes und Wissenshorizontes. 12 Die Wörter »Rationalität« und »Funktionalität« oder »Zweckmäßigkeit« werden in den Geisteswissenschaften meistens nur in einem engen, technischen Sinn gebraucht. Wenn es um die angemessene Einstellung Fremdem gegenüber geht, zieht man es deshalb vor, von einem principle of humanity oder auch – etwas weniger anthropozentrisch – von einem »Natürlichkeitsprinzip« 7 zu sprechen: Bevor man Menschen aus einer anderen Kultur sinnloses, unnatürliches, unmenschliches oder unmündiges Verhalten und entsprechende Wertvorstellungen unterstellt, zweifelt man fürs Erste besser an der Zulänglichkeit des eigenen Verstandes und Wissenshorizontes.
13 Der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka zitiert in seiner Nobelpreisrede 8 Hegel, der es für angemessen befunden habe, zu behaupten: »Bei den Negern ist nämlich das Charakteristische gerade, daß ihr Bewußtsein noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott, Gesetz, bei welchem der Mensch mit seinem Willen wäre und darin die Anschauung seines Wesens hätte.« 9 Es sei unsinnig, fährt Soyinka fort, »auch nur einen einzigen Augenblick darauf zu verschwenden, die banale Unwahrheit dieser Behauptungen zu widerlegen«. In der Tat hat man Mühe, sich vorzustellen, wie das Selbstwertgefühl und die Würde, welche Afrikaner allein schon mit ihrer Haltung und mit ihrem auffallenden Ehr- und Schamgefühl zum Ausdruck bringen, vereinbar sein könnten mit der kognitiven Unfähigkeit, zwischen dem, was faktisch ist, und dem, was man idealiter, »an sich« gerne wäre, zu unterscheiden.
14 Es wäre wirklich sinnlos, Hegel zu zitieren, fände man seine Auffassungen nicht in zeittypisch abgewandelter Sprache bis in unsere Tage hinein in der Literatur über außereuropäische Kulturen wieder. Hier eine Blüte aus dem vorletzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts: »Denkt man noch strenger, so ist sogar eine Vokabel wie ›Selbstverwirklichung‹ als Kategorie zur Erfassung japanischer Realität fragwürdig, denn sie fußt auf dem abendländischen Konzept einer autonomen Persönlichkeit, das in Japan letztlich weder für Männer noch für Frauen anerkannte Gültigkeit besitzt. Eine Formulierung wie ›Traditionelle Formen der Selbstverwirklichung [in Japan]‹ ist so gesehen ein Widerspruch in sich.« 10
15 Der für die konfuzianische Philosophie charakteristische Topos der Selbstkultivierung (Selbstachtung, Selbststärkung und Selbstprüfung) ist jedoch auch von der japanischen Philosophie rezipiert worden. 11 In jedem (eigens für den Westen gedrehten) Samurai-Film wird ad oculos demonstriert, welche Form das Ideal der Selbstverwirklichung im traditionellen Japan annehmen konnte. Abgesehen davon macht ein Kleinkind in Japan nicht anders als in Europa schon in den ersten Monaten seines Lebens die Erfahrung, dass es ein von seiner Umgebung verschiedenes Wesen ist. Ein Menschenkind versteht sehr bald zwischen seinen Gefühlen und Regungen und jenen seiner Kontaktperson zu unterscheiden. Es realisiert, dass es an ihm liegt, wie es sich benimmt und wie es daraufhin von andern und daran anschließend von sich selber geschätzt wird. Angeborene Fähigkeiten solcher Art zeichnen sich dadurch aus, dass mit ihnen eine ebenfalls biologisch motivierte Tendenz einhergeht, von ihnen auch Gebrauch zu machen. Es wäre überraschend, wenn ausgerechnet eine solche nachweislich frühkindliche Kompetenz in Kulturen, die als besonders kinderfreundlich gelten, keine Förderung erfahren würde. 12 Zu erwarten ist vielmehr eine realistische Einschätzung der Bedingungen der Selbstverwirklichung, nämlich ihrer anfänglichen Abhängigkeit von Vorbildern und von der Unterstützung und vor allem der Anerkennung durch andere (eine Bedingung die gerade Hegel nicht entgangen ist). Man wird in diesen Kulturen nicht leicht und illusionär die menschliche Selbstverwirklichung, die Individuation und Sozialisation in einem ist, mit einer Eigenverwirklichung im Alleingang verwechseln.
16 Finden wir in einer fremden Kultur etwas, das uns unmenschlich erscheint und das doch von den Angehörigen dieser Kultur allem Anschein nach ohne viel Aufhebens akzeptiert wird, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zusätzlich etwas gibt, das das anscheinend Unerträgliche erträglich macht. Ein »Schulbeispiel« (im wörtlichen und übertragenen Sinn) ist die japanische »Prüfungshölle«. Man ist in dieser »Hölle« gerade nicht »gottverlassen« und »mutterseelenallein« völlig auf sich gestellt, wie man sich das im Westen vorstellt. Man bereitet sich gruppenweise und wie in einem Lager lebend auf die Prüfung vor. Zusammengehörigkeitsgefühl und Teamgeist, die dabei aufkommen, werden später an Universität und Arbeitsplatz weiter gepflegt. Die Erfahrung, dass man in einer schwierigen Lebensphase nicht allein gelassen wird, macht die »Hölle« – und gleichzeitig die Aussicht auf das kommende Leben – erträglich. Man gelangt rechtzeitig zu einer realistischen Selbsteinschätzung, was das eigene Vermögen und das Angewiesensein auf Kooperation anbelangt. Die »Prüfungshölle« hat Züge eines Initiationsritus an der Schwelle einer neuen Lebensphase. 13

4. Nos-quoque-Regel (»Auch-wir«-Regel)

»Tout comprendre
c'est tout pardonner.«

Französisches Sprichwort
17 Bedeutet »alles verstehen« auch »alles verzeihen«? J.L. Austin, der Begründer der Sprechakttheorie, soll dem französischen Sprichwort Tout comprendre c'est tout pardonner entgegengehalten haben: Understanding might just add contempt to hatred. »Blasiert, wie man sich nur in Oxford zu Wort melden kann«, ist man versucht – den eigenen Regeln zur Vermeidung von Vorurteilen zum Trotz – zu denken!
18 Es ist gut, realistisch zu sein, aber dazu gehört, dass man die Linie zwischen dem, was man »nachsichtig« vergibt, und dem, was man »nachtragend« verurteilt, gerade nicht zwischen der eigenen und der fremden Kultur zieht. Nicht nur die anderen, »auch wir« (nos quoque) verhalten uns der Tendenz nach unter gleichen Bedingungen gleich. Wenn man sich in einer fremden Kultur an etwas stößt, das man beim besten Willen nicht unwidersprochen hinzuzunehmen bereit ist (z.B. das Todesurteil über Salman Rushdie), ist es nicht unwahrscheinlich, dass man vergleichbare, wenn nicht noch ärgere Vorkommnisse auch in der eigenen Kultur findet, in ihrer Geschichte (Auschwitz) und in ihrer Gegenwart (die Menschenhatz auf Schwarzafrikaner 1994 in Magdeburg).
19 Wie die Gegenbeispiele zeigen, brauchen wir in Europa nicht ins Mittelalter zurückzugehen, zurück hinter jene Aufklärung, mit der wir gerne erklären, was die westliche von anderen Kulturen abhebt. Wir brauchen auch nicht aufs Land zu gehen, in ein wirtschaftlich unterentwickelt gebliebenes Hinterland, wir können uns an die Zentren der europäischen Moderne halten.
Wenn man sich in einer fremden Kultur an etwas stößt, das man beim besten Willen nicht unwidersprochen hinzuzunehmen bereit ist, ist es nicht unwahrscheinlich, dass man vergleichbare, wenn nicht noch ärgere Vorkommnisse auch in der eigenen Kultur findet, in ihrer Geschichte und in ihrer Gegenwart. 20 Vor einigen Jahren irritierte im Westen die Prügelstrafe, die ein junger Amerikaner in Singapur verabreicht bekommen hatte, eine Strafform, die von der britischen Kolonialregierung auf der malaysischen Halbinsel eingeführt worden war. Ulrich Bräker, der »arme Mann« aus dem ostschweizerischen Toggenburg, der unfreiwillig in den Solddienst Friedrichs des Großen geraten war, schildert in seiner Autobiographie, wie man 1756 in Berlin Söldner, denen die Desertion missglückt war, Spießruten laufen ließ, »bis Fetzen geronnenen Bluts ihnen über die Hosen hinabhingen. Dann sahen Schärer [ein Landsmann] und ich einander zitternd und todblass an und flüsterten einander in die Ohren: Die verdammten Barbaren!« 14
21 In der Ausgabe vom 30. September 1994 wird in der Wochenzeitung Die Zeit Japan vorgehalten, dass seine Armee zwischen 1932 und 1945 mehr als 100 000 Frauen aus besetzten Gebieten in Frontbordelle gezwungen habe. Die Täter seien bis heute nicht zur Verantwortung gezogen worden, und die Opfer würden noch immer auf eine offizielle Entschuldigung und auf eine angemessene Wiedergutmachung warten. Die Anklage war begleitet von einem bewegenden Bild heute hochbetagter ehemaliger koreanischer »Trost-Frauen« 15, wie die Vergewaltigten im Krieg genannt wurden. Unabhängig davon erschien am Tag darauf in der Neuen Zürcher Zeitung die Rezension eines Buches von Ingrid Strobl, das sich mit der Vergewaltigung von Frauen in der deutschen Armee befasst: »Das Thema unterliegt bis heute in Deutschland einem besonders strengen ›Verbot‹.« Dabei wurde im Nürnberger Prozess dokumentiert, »daß von den deutschen Truppen systematisch vergewaltigt wurde«. Neben den Bordellen lag der »Wissenschaftsblock«, wo an den Jüdinnen unter den Geschändeten verschiedene Methoden der Sterilisation »wissenschaftlich erprobt« wurden. Für sie war die Zwangsprostitution eine »Vorstufe zum administrativen Massenmord«.
22 Die Koreanerinnen in der japanischen Armee wurden »Trostmädchen« genannt; die Jüdinnen in der deutschen Armee wurden mit dem Stempel »Feldhure« oder »Hure für Hitlers Truppe« zusätzlich verhöhnt. Ein Bericht über die beiden gleichzeitigen Verbrechen im selben Artikel in derselben Zeitung wäre der Ursachenforschung förderlich gewesen. Mit der einäugigen Bloßstellung von Schändlichkeiten, die in fremden Kulturen begangen wurden, insinuiert man, es handle sich um kulturspezifische Grausamkeiten. Das makabre ethische Überlegenheitsgefühl, zu dem man im Westen neigt, erhält dadurch insgeheim neue Nahrung.
23 Von Seiten Japans wird auf eine Art »Besatzungsmachträson« verwiesen. Über die Zwangsprostitution meist armer und ungebildeter Frauen habe man versucht, die Schändung von Frauen in den besetzten Gebieten unter Kontrolle zu halten. Die Grundübel sind die Kriegsursachen. Bei ihnen muss man ansetzen. Die massive Zunahme von Prostitution (Beispiel: Vietnam) und Vergewaltigung (Beispiel: Jugoslawien) ist eine unaufhaltsame Kriegsfolge, die man auf einer »höheren«, rationalisierten Stufe der Frauenverachtung mit dem Mittel der Zwangsprostitution zu kanalisieren versucht hat – in Mitteleuropa noch um eine Dimension schnöder als in Ostasien. 16
24 Aus japanischer Sicht sucht, wer Schamkultur hat, nach einer privaten und möglichst diskreten Entschuldigung und Entschädigung für ein Vergehen. Indirekte Formen der Kompensation werden vorgezogen, Formen, die es erlauben, die fremden Wunden und das eigene Gesicht gleicherweise verhüllt zu lassen. Mit verbalen und intellektuellen Vergangenheitsbewältigungen, laut als solche verkündet, und mit ostentativen finanziellen Abfindungen lässt sich auch darüber hinwegtäuschen, dass es Verbrechen gibt, für die es keine Exkulpation gibt, das ganze Leben lang nicht, und auch in der Geschichte der Staaten nicht, die sie begangen haben. Mit der Rationalisierung der Vergangenheitsbewältigung kann man sich eine Autonomie einbilden, ohne zu realisieren, wie trügerisch die Selbsteinschätzung der Menschen im emotionalen Bereich ist. Zwischen schamhafter Verhüllung und schuldgetriebener Verdrängung gibt es eine ganze Reihe feiner Abstufungen.

5. Vos-quoque-Regel (»Auch-ihr«-Regel)

Wohl in sämtlichen Kulturen lassen sich ideelle Ansätze zugunsten einer menschenrechts-
konformen Ethik ausmachen.
25 Stößt man in fremden Kulturen auf Vergehen gegen die Menschlichkeit, die man nicht widerspruchslos zur Kenntnis zu nehmen bereit ist, dann ist es nicht allein wahrscheinlich, dass man vergleichbar anstößige Vorkommnisse in der eigenen Kultur findet. Nicht weniger wahrscheinlich ist es, auch in der fremden Kultur auf Personen zu treffen, die das skandalöse Vorkommnis ablehnen. Auch viele Moslems, Theologen und Laien, lehnen Selbstmordattentate auf unschuldige Zivilpersonen als verwerflich ab. Wohl in sämtlichen, sicherlich aber in den zeitlich, räumlich und bevölkerungsmäßig umfangreicheren Kulturen lassen sich ideelle Ansätze zugunsten einer menschenrechtskonformen Ethik ausmachen. 17 Sie sind nicht widerspruchsfrei und meistens auch nicht dominant. Aber so sind sie auch nicht in der westlichen – in der griechischen und christlichen – Tradition zu finden.
26 Zu weltweiter Einhaltung verhilft man den Menschenrechten nicht dadurch, dass man sie überall in der gleichen Weise und in derselben formalrechtlichen Gestalt, wie sie sich im Westen durchgesetzt haben, durchzusetzen drängt. Angezeigt ist eine sokratisch-paulinische Vorgehensweise: Ausgehend von einem Menschenbild und von Wertvorstellungen, die von den Gesprächspartnern selbstverständlich geteilt werden (vos quoque – »auch ihr haltet euch an die Maxime …«), lässt sich schrittweise belegen, dass ein menschenrechtskonformes Verhalten in der kultureigenen Philosophie wohlbegründet ist. Wenn in einer Kultur wie der chinesischen ren (Menschlichkeit) und yi (das chinesische Pendant zum römischen Grundsatz der aequitas) Leitwerte darstellen und staatsphilosophische Weisheiten wie »Nur wer kein Menschenblut zu vergießen trachtet, kann das Reich zusammenhalten« 18 verbreitetes Sprachgut sind, dann ist ein Terrorregime auch von der eigenen chinesischen Tradition her fragwürdig.

6. Anti-Kryptorassismus-Regel

Rassisten sehen Mängel und Übel (a) nur in der anderen Gruppe, (b) bei sämtlichen Angehörigen der Gruppe, und sie sehen (c) nur sie, Mängel und Übel, in der anderen Gruppe. 27 Menschen haben heimtückische Veranlagungen. Frustriert und unter Stress neigen sie dazu, Mängel, die ihnen persönlich und in der Gruppe, mit der sie sich identifizieren, zusetzen, in übersteigerter Form bei den Angehörigen anderer Gruppen wahrzunehmen. Von Rassismus spricht man, wenn für die Antigruppenbildung Aussehen (im Besonderen die Hautfarbe), Herkunft und eine andere Sprache und Kultur ausschlaggebend sind. Rassisten assoziieren mit abweichenden und besonders augenfälligen äußeren Merkmalen »tiefgreifende« innere Verschiedenheiten. Eine systematische Korrelation, Koextension und Kovariation (gleiche Ausdehnung und gleichförmige Abwandlung) ist aber weder anatomisch und physiologisch zwischen körperoberflächlichen und körperinternen Eigenschaften noch psychologisch und soziologisch zwischen sichtbaren körperlichen und mentalen Eigenschaften nachweisbar. Rassisten sehen Mängel und Übel (a) nur in der anderen Gruppe, (b) bei sämtlichen Angehörigen der Gruppe, und sie sehen (c) nur sie, Mängel und Übel, in der anderen Gruppe.
28 Rassismus ist heute in den Wissenschaften geächtet und verpönt. Aber Rassismus ist einem Krankheitserreger zu vergleichen, gegen den man eine breit angelegte Kampagne geführt hat. Er verwandelt sich unvermerkt und ist nun in sublimierter Form unterschwellig wirksam. Er ist nicht immer sogleich und überall eindeutig als solcher erkennbar. Man kann sich jedoch daran halten, dass Rassismus in der Regel mit einer Selbstüberschätzung der eigenen Kultur einhergeht. So verrät sich Kryptorassismus, versteckter Rassismus, leicht, wenn das eigene Überlegenheitsgefühl bedroht ist. Es kommt zu deplatzierten Ausfällen gegen einen erfolgreichen Konkurrenten.
29 In einem philosophischen Essay 19 heißt es beispielsweise völlig unvermittelt und irrational: Dem Streit um Wissenschaft und Technik »die Naivität lobend entgegenzuhalten, mit der gegenwärtig südostasiatische Kulturen mit Wissenschaft und Technik umgehen, ist selbst naiv. Eine solche Optik würde bedeuten, unserer Kultur zu empfehlen, an ihre Anfänge zurückzukehren.« Wie in Südostasien zur Zeit Wissenschaft und Technik eingesetzt werden, ist in der Tat zu bedauern. Im Westen haben wir jedoch keinen Grund, uns darüber abschätzig zu äußern, im Gegenteil. Die südostasiatischen Staaten suchen aus eigener Kraft ihre immensen Entwicklungsprobleme zu bewältigen. Es geht um die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums in einem überbevölkerten Erdteil und verständlicherweise auch um das internationale Ansehen für eine Bevölkerung, die vom Westen lange nicht als ebenbürtig anerkannt worden ist. Auch wir sind bereit, zur Reduktion der Arbeitslosigkeit und ihrer sozialen Folgen und ebenso zur Wahrung unserer weltpolitischen Position Umweltanliegen zurückzustellen. Im Übrigen sind wir im Westen mit unserem Lebensstandard individuell noch immer die größten Umweltschädiger. Die bisher übelste Umweltzerstörung in Südostasien stammt aus dem Westen: die chemische Entlaubungsaktion im Vietnamkrieg. Dass die Übernahme der Wissenschafts- und Technologiepolitik südostasiatischer Länder für uns eine Rückkehr an die Anfänge unserer Kultur bedeuten würde, ist eine Selbstglorifizierung. Sie würde einen Rückfall in die fünfziger Jahre bedeuten, in die Jahrzehnte vor der beklemmenden Einsicht in die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums. Im schlimmsten Fall wäre sie ein Rückfall ins 19. Jahrhundert, doch nicht in die Anfänge unserer Kultur, nur in die Anfänge der Industrialisierung.
30 Man kann nicht zulassen, dass sich die Abneigung gegen eine konkurrierende Zivilisation auf den einem Akademiker zur Verfügung stehenden Kanälen und Wegen ungehemmt ausbreitet, ohne dass sich dies früher oder später auch enthemmend auf andere Teile der Bevölkerung auswirkt, die ihren Widerwillen gegenüber sich geltend machenden Fremden allein mit handfesten Mitteln, mit Steinen und Brandfackeln, abzureagieren in der Lage sind. Es gibt akademische Anfänge des Rassismus, denen man besser widersteht.
Die gelungene Analyse einer fremden Kultur wirft immer auch ein erhellendes Licht auf die eigene Kultur. 31 Gefährlicher als plumpe und schlichte Unwahrheiten sind Halbwahrheiten. Kulturelle Entwicklungen haben in der Regel zwei Seiten. Sie sind ambivalent. Jedermann kennt die Flasche, die der Pessimist halb leer, der Optimist dagegen halb voll sieht. Wenn in einer Kultur wie der japanischen die Autarkie des Einzelnen kleingeschrieben wird, wenn Erfolg und Misserfolg, Glanzleistung und Vergehen in ihrer Abhängigkeit von der Gruppe gesehen werden, welcher der Einzelne angehört und von der er immer auch getragen wird, dann mag ein Fremdkulturpessimist – oder, gewählter ausgedrückt, ein Heterokulturpessimist – von der japanischen Gesellschaft als von einer »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« schreiben, »die es tendenziell vermeidet, den Einzelnen haftbar zu machen und Verantwortung eindeutig zu lokalisieren.« 20 Fremd- oder Heterokulturoptimisten, die glauben, dass es an fremden Kulturen mehr zu lernen als zu kritisieren gibt, sehen es von der anderen, komplementären Seite, von der aus die Flasche halb voll erscheint. Die japanische Gesellschaft erscheint den psychologisch und soziologisch in Japan selber Geschulten unter ihnen als eine Gesellschaft mit geteilter, partizipativer Haftung. 21
32 Die oft zitierte Übernahme der Schuld durch den Gruppenchef hat mehrere Funktionen. Mit der Selbstbezichtigung als »Sündenbock« schützt er den bedauernswerten, durch seine Tat oft schon hinreichend bloßgestellten Delinquenten ebenso wie die übrigen Gruppenmitglieder. Er hilft die Autonomie der Gruppe zu bewahren, da sich mit der bezeugten Fähigkeit zur Selbstkorrektur ein Eingriff von außen, von Seiten des Staates im Besonderen, erübrigt. Das Schuldbekenntnis des Vorgesetzten dient nicht so sehr der Wahrheitsfindung, als Beweisstück für einen richterlichen Schuldspruch, sondern vielmehr dazu, die Wiederherstellung ordentlicher Verhältnisse in die Wege zu leiten und die Rehabilitationsbefähigung zu beglaubigen. Ein die ganze Gruppe und alle Mitverantwortlichen umfassendes Schuldgeständnis erleichtert es dem Opfer, dem Schuldigen zu vergeben, und dem Richter, einen Streit vor dem Gericht und ein förmliches und auch hartes Urteil abzuwenden. Beides ist der Wiederherstellung der Harmonie dienlich.
33 Zu einem nicht einseitig abschätzigen Bild von einer fremden Kultur kommt man, wenn man dort, wo etwas in ihr despektierlich erscheint, das Gegenstück in der eigenen Kultur in die Evaluation einbezieht. Wenn man Japan als »Land der rituellen Harmonie« hinstellt, kann man sich fragen, ob man nicht mit ebenso gutem Grund in Bezug auf westliche Länder von einem »rituellen Individualismus« sprechen könnte. 22 Der Konformismus in den Moden, Medien und selbst im Wissenschaftsbetrieb kontrastiert im Westen in seltsamer Weise mit dem gleichzeitig proklamierten Individualismus.
34 Die gelungene Analyse einer fremden Kultur wirft immer auch ein erhellendes Licht auf die eigene Kultur.

7. Personalitätsregel

»Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst!«

Immanuel Kant
(Anm. 23)
35 Kants praktischer Imperativ ist wohl bekannt: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst!« 23 Dennoch ist wenig über seine Auffassung zu lesen, dass man mit dem Verhalten sich selbst und andern gegenüber zum Ausdruck bringt, welche Idee man von der Menschheit hat.
36 Fehlurteilen und Taktlosigkeiten kann man zuvorkommen, indem man Angehörige einer anderen Kultur nie nur als Untersuchungsgegenstand behandelt, auch nicht bloß als Untersuchungsmittel (als untergeordnete Informanten und Dolmetscher), sondern als gleichberechtigte Untersuchungspartner. Es sind Personen. Sie haben das Recht, angehört zu werden und Gegenfragen zu stellen, bevor ein Urteil über sie veröffentlicht wird. Ein wechselseitiger Meinungsaustausch, und zwar von Gleich zu Gleich, dient der Wahrheitsfindung. Zu einem umfassenden Urteil über Personen gehören Innen- und Außenansicht, Eigen- und Fremddarstellung. Kulturelle Untersuchungen werden daher idealiter in einem Tandem oder Team durchgeführt, von Angehörigen einer fremden Kultur zusammen mit Angehörigen der zu erforschenden Kultur. Methode, Ergebnis und Deutung sind immer auch in der Sprache der untersuchten Kultur zu veröffentlichen, zur Diskussion zu stellen und zur Rezension auszuschreiben.

8. Subjektivitätsregel

Alexander Kremer:
Are All Interpretations Possible?
Paidea World Philosophy Conference.
1998.
external linkArtikel


Hamlet A. Gevorkian:
The Concept of Encounter of Cultures in the Philosophy of History: Problems and Solutions.
Paidea World Philosophy Conference.
1998.
external linkArtikel


Koula Mellos:
The Fragility of Freedom Gadamerian.
Paidea World Philosophy Conference.
1998.
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37 Selbstdarstellungen sind ohne Gegenprobe ebenso wenig zum Nennwert zu nehmen wie die Eindrücke eines Außenstehenden. Beide bedürfen der gegenseitigen Kontrolle. Menschen neigen je nach ihrer psychischen Verfassung und der Art der Begegnung zu Selbstüberschätzung, Selbstüberhöhung, Selbstverschönerung oder aber zu Selbstunterschätzung, Selbsterniedrigung, Selbstanschwärzung.
38 Es hat sich gezeigt, dass Menschen Verhaltensformen, die in ihren Augen minderwertig sind oder die sie als gesellschaftlich geächtet ansehen, bei sich selber und bei Angehörigen, denen sie nahe stehen und mit denen sie sich identifizieren, leicht übersehen. Sprachforscher haben bemerkt, dass sie sich aus diesem Grund nicht einfach auf das Zeugnis von native speakers verlassen können. Eine Innerschweizerin soll auf die Frage, ob sie das einheimische »eister« (ein Dialektwort für »immer«) oder das hochdeutsche »immer« gebrauche, sich selber widerlegend geantwortet haben: »Ich sage eister immer.« 24
39 Zu Selbsterniedrigungen und zu »förmlichen« Selbstdenigrationen kommt es nicht selten aus reiner Höflichkeit. Für Gastgeber und Gastgeberinnen gehört es vielerorts zum »guten Ton«, dass sie, was sie anbieten und anzubieten vermögen, herabsetzen. Fremden gegenüber, vor allem wenn sie einer überlegen geltenden und sich auch so aufführenden Kultur angehören, verhält man sich in vielen Kulturen mit besonders ausgeprägten Höflichkeitsformen. Ein naiver Forscher kann sich so seine Ansichten über eine andere Kultur vermeintlich »objektiv«, intersubjektiv beobachtbar, bestätigen lassen und sie mit Film und Diskette belegen.
40 Aufschlussreich ist es, wenn zwei Gesprächspartner sich wechselseitig mit Selbsterniedrigungen zu unterbieten versuchen, vor allem dann, wenn es weniger um eine Selbstkritik der eigenen Person als vielmehr um eine Bloßstellung des eigenen Landes geht. Es mag ein gutes Zeichen sein, dass dies auch zwischen Vertretern verschiedener Kulturen möglich geworden ist. An der Frankfurter Buchmesse 1990 mit Japan als Gastland wurde eine Podiumsdiskussion zwischen den beiden Schriftstellern (und späteren Literaturnobelpreisträgern) Günter Grass und Ōe Kenzaburō veranstaltet, die sich beide, derselben Nachkriegsgeneration zugehörig, in ähnlicher Weise als kritisches Sprachrohr verstehen:
41 Grass begann mit einem Klagelied über die deutsche Vereinigung. Auschwitz, so sagte er, hätte die Wiedervereinigung unmöglich machen müssen. Ein vereinigtes Deutschland sei eine Gefahr für sich selber und für die ganze Welt. Ōe nickte ernst und fügte hinzu, daß Japan eine ebenso große Gefahr darstelle. Die Japaner, sagte er, hätten sich mit ihren Verbrechen niemals auseinandergesetzt. Japan sei ein rassistisches Land. Ja, aber das sei Deutschland auch, beteuerte Grass, der sich nicht übertrumpfen lassen wollte, auch Deutschland sei ein rassistisches Land, ja noch viel schlimmer, man müsse bloß an den Haß gegen Polen, gegen Türken, gegen Ausländer im allgemeinen denken. Ah, sagte Ōe, aber man dürfte dabei nicht die japanische Diskriminierung der Koreaner und der Ainu vergessen, nein, die Japaner seien eindeutig die Schlimmeren. 25
42 Die seltsamste Form des Selbstmissverständnisses, zu dem die Begegnung mit einer fremden, wissenschaftlich und technologisch überlegen geglaubten Kultur führen kann, ist die Selbstexotisierung. Sie kann sowohl in der Gestalt der Selbstdenigration wie der Selbstglorifizierung auftreten. Im ersten Fall übernimmt man die abschätzigen Urteile der Fremden und sieht das Heil in der vollständigen Aufgabe der eigenen und in der Übernahme der fremden Kultur, deren Sprache, Kleidung, Etikette, Lebensweise, Wertsystem. Nicht nur für die eigene Tradition, auch für alle andern Kulturen, die sich nicht der Zielkultur anschließen, hat man bloß Verachtung übrig. Im zweiten Fall verinnerlicht man die schwärmerischen Urteile der Fremden. Statt die eigene Kultur, herausgefordert durch die fremde, mit ihren Stärken und Schwächen neu zu entdecken, fängt man an, sie so zu sehen und in der eigenen Literatur und Kunst so darzustellen, wie es den bewusst oder unbewusst wahrgenommenen Sehnsüchten und Fantasievorstellungen der Fremden entspricht. Der japanische Schriftsteller Mishima Yukio gestaltete am Ende sein eigenes Leben so, wie es einem burlesken westlichen Japanbild entsprach. 26

9. Ontologie-Deontologie-Regel (»Ist-Zustand/Soll-Zustand«-Regel)

43 Verhaltenskodizes und Gebotslisten, »Fürstenspiegel«, Knigges Über den Umgang mit Menschen und Verfassungstexte geben die Verhältnisse nicht wieder, wie sie sind, sondern wie sie nach der Auffassung der Gruppe oder Schicht, die das Sagen hat, sein sollten. Gelegentlich zeigen sie spiegelverkehrt an, wie es nicht ist. Vorschriften erlässt man und Hagiographien schreibt man, wenn etwas, das sich nach Ansicht von Gesetzgebern und Sittenwächtern »gehört«, gerade nicht allgemeine Praxis ist. In Japan gibt es eine Verhaltensregel, nach der Frauen drei Schritte hinter den Männern gehen sollen. Nicht erst heute kann man das Gegenteil beobachten; schon der portugiesische Jesuit Luis Frois hat es 1585 festgehalten: »In Europa gehen die Männer voran und die Frauen hinterher, in Japan die Männer hinterher und die Frauen voran.« 27
44 Wer seine Kenntnisse einer fremden Kultur nur aus einer Bibliothek zu beziehen vermag, ist nicht immer in der Lage, zwischen Ist-Zustand (Ontologie) und Soll-Zustand (Deontologie) zu unterscheiden.

10. Entpolarisierungsregel (Anti-Kulturdualismus-Regel)

Man findet häufig dieselben Gegensätze, die man zwischen zwei Kulturen (interkulturell) festhalten zu können glaubt, der Art wie dem Grad nach auch innerhalb ein und derselben Kultur (intrakulturell), ja auch innerhalb ein und derselben Person (intrasubjektiv). 45 Polarisierungen sind ein elementares Mittel der Komplexitätsreduktion und der Klassifikation von Dingen. Ihre erste Funktion ist nicht, die Dinge so wiederzugeben, wie sie faktisch sind, sondern sie so darzustellen, wie sie brauchbar sind. Nicht auf allen Ebenen der Sprache und der Wirklichkeit ist das Ergebnis einer systematischen Polarisierung von gleichem Nutzen wie auf der phonologischen, auf der lautliche Gegensätze (hell – dunkel; gespannt – ungespannt) eine bedeutungsunterscheidende Funktion erhalten.
46 In den Kulturwissenschaften hat sich der Glaube an eine systematische Korrelation zwischen den Gegensatzpaaren (hell – dunkel; aktiv – passiv; belebt – unbelebt; rational – emotional; männlich – weiblich; okzidental – oriental; yang – yin) als etwas erwiesen, das die Verhältnisse in verheerender Weise verfälscht. Es gäbe überhaupt nur zwei Kulturen (in der Welt: Orient und Okzident; in der Gesellschaft: Frau und Mann; in den Wissenschaften: Natur- und Geisteswissenschaft), wenn sämtliche in den Kulturwissenschaften grassierenden Gegensatzpaare koextensiv wären. In Wirklichkeit findet man häufig dieselben Gegensätze, die man zwischen zwei Kulturen (interkulturell) festhalten zu können glaubt, der Art wie dem Grad nach auch innerhalb ein und derselben Kultur (intrakulturell), ja auch innerhalb ein und derselben Person (intrasubjektiv), in Abhängigkeit von Lebensalter, Umgebung und Aufgabenstellung oder auch nur von Laune und Stimmung. Ein berühmt gewordenes, weil von einem repräsentativen Angehörigen der fremden Kultur erst verinnerlichtes und dann laut verkündetes Beispiel stammt von Léopold Senghor: »L'émotion est nègre, comme la raison hellène.« 28
47 Polarisierungen mit ihren Vereinfachungen, Verabsolutierungen, Überspitzungen und Ausschließlichkeitsansprüchen beugt man am besten vor, indem man, statt exklusiv zwei, mehrere Kulturen miteinander vergleicht und gezielt darauf achtet, unter welchen Umständen sich ein solches polares Verhältnis zwischen zwei Kulturen behaupten lässt und unter welchen Bedingungen es auch innerhalb der kontrastiv einander entgegengesetzten Kulturen zu finden ist.
Polarisierungen beugt man am besten vor, indem man, statt exklusiv zwei, mehrere Kulturen miteinander vergleicht und gezielt darauf achtet, unter welchen Umständen sich ein solches polares Verhältnis zwischen zwei Kulturen behaupten lässt und unter welchen Bedingungen es auch innerhalb der kontrastiv einander entgegengesetzten Kulturen zu finden ist. 48 Wenn Frois festhält, dass die Frauen in Japan anders als in Europa den Männern vorangehen, dann wäre darauf hinzuweisen, dass es hier wie dort bestimmte Anlässe, feierliche Auftritte und Prozessionen gibt, bei denen traditionell Frauen (und Kinder) den Männern vorausgehen. Es gibt Zeremonien, bei denen es vornehmer ist, am Schluss aufzutreten, zu sprechen und zu gehen. In einem Brief von 1565 vermerkt Frois als differenzierter Beobachter, dass in Japan auch die Farben Schwarz und Grau »Zeichen der Trauer« seien. Im zitierten Traktat von 1585, in dem er es auf eine kontrastive Gegenüberstellung von Japan und Europa abgesehen hat, heißt es nur noch zugespitzt und schlicht: »Wir [Europäer] gebrauchen Schwarz für Trauer, die Japaner Weiß.« 29 Zu ergänzen wäre, dass z.B. für Kinder und bei der Wahl der Blumen in Europa die Trauerfarbe ebenfalls Weiß sein kann.
49 In der älteren Literatur gehen die Autoren bei einem kontrastiven Kulturvergleich in der Regel von konkreten Beobachtungen aus. So vermerkt Herodot im 5. vorchristlichen Jahrhundert in seiner Liste von sechzehn Kulturgegensätzen zwischen Ägypten und Griechenland, dass die Ägypter im Gegensatz zu den Griechen von rechts nach links schreiben, nicht anders als dies Frois im 16. nachchristlichen Jahrhundert in seiner Liste von 609 Gegensätzen zwischen Japan und Europa bei den Japanern verzeichnete. 30
50 Neuzeitliche Gegenüberstellungen orientieren sich zunehmend an allgemeinen und abstrakten Kategorien und Grundsätzen. Typologisierungen, die sich an komplementäre mentale Vermögen wie Vernunft und Intuition oder Verstand und Gefühl halten, an ebenso komplementäre Verhaltensweisen wie Passivität und Aktivität oder aber an globale Einstellungen wie Weltbejahung und Weltverneinung, gelangen fast unvermeidlich zu einem Zerrbild der beschriebenen Kulturen. 31
51 Jahrzehntelang sahen europäische Wirtschaftswissenschaftler in der konfuzianischen Ethik ein Hindernis für die Modernisierung Chinas. Heute rühmen sie die gleiche Ethik als einen treibenden Faktor des wirtschaftlichen Aufschwungs, wie Max Weber analog in der protestantischen Ethik einen solchen Motor gesehen hatte. Es ist nicht so, dass die heutige Sicht richtig und die frühere falsch ist. Beide sind gleich undifferenziert. Sie übersehen, dass es in Weltanschauungssystemen von der geschichtlichen Komplexität des Konfuzianismus und des Christentums Motive zu einander entgegengesetzten Verhaltensweisen gibt. In Abhängigkeit von der jeweiligen Konstellation kommt die eine oder andere Richtung zum Zuge.
52 Je nach den Epochen und Strömungen, die innerhalb eines Kulturgebietes bevorzugt werden, kommen Typologen zu untereinander völlig widersprüchlichen Klassifikationen. Bei Jürgen Habermas werden – in Anlehnung an Max Weber, aber ohne dessen ausdrückliche geschichtliche Relativierung des gewählten typologischen Ansatzes – das Christentum und der Hinduismus als weltverneinende Religionen dargestellt. 32 Im Indien-Buch des liberalen Theologen Albert Schweitzer wird das christliche Denken zusammen mit dem von Zarathustra und dem chinesischen als weltbejahend dem weltverneinenden indischen Denken gegenübergestellt. 33 Für Friedrich Nietzsche schließlich ist die altindische Religion »eine ja-sagende arische Religion«: »vornehme Werte überall, ein Vollkommenheitsgefühl, ein Jasagen zum Leben, ein triumphierendes Wohlgefühl an sich und am Leben – die Sonne liegt auf dem ganzen Buch« des altindischen Gesetzgebers Manu. 34
53 Weder die christlichen Konfessionen noch die indischen Religionen lassen sich pauschal in all ihren Entwicklungsphasen und Ausgestaltungen im Prokrustes-Bett einer dualistisch konzipierten Typologie unterbringen.
54
Christentum Indien
Habermas Weltverneinung (–) Weltverneinung (–)
Nietzsche Lebensverneinung (–) Lebensbejahung (+)
Schweitzer Welt- und Lebensbejahung (+) Welt- und Lebensverneinung (–)

11. Inhomogenitätsregel

Rui Sampaio:
The Hermeneutic Conception of Culture.
Paidea World Philosophy Conference.
1998.
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55 Nach einem seit der Frühromantik gepflegten Denkmodell gibt es zwar die Menschheit, jedoch »sehr wohl Gesellschaften und Kulturen, über die sich, wie über Pflanzenarten oder Tiergattungen, allgemeine Aussagen machen lassen«. 35 Heterogene Menschheit (möglicherweise sogar polygenetisches Menschengeschlecht) und homogene Kulturen (gleicher Stamm, gleiche Sitten, gleiche Sprache) lautete der Glaubenssatz.
56 Die Annahme, dass Kulturen homogen sind, verleitet dazu, ihre verschiedenen Epochen, Strömungen und Ausgestaltungen unilinear zu ordnen, als ob sie sich nur ihrem Entwicklungsgrad nach unterschieden und keine von ihnen etwas Eigenwüchsiges und Eigenständiges aufwiese. Ihre qualitative Besonderheit, Originalität und gelegentlich auch ihre antagonistischen und alternativen Züge werden ausgeblendet.
57 In Indien gilt der Buddhismus als heterodoxe Weltanschauung. Jaspers jedoch erklärt und verklärt ihn als »Vollendung indischer … Lebensform« und als »Abschluß der indischen Philosophie«, an der »im besonderen nichts neu« gewesen sei. 36 Diese Sichtweise findet sich schon bei Max Weber angelegt, allerdings, wie zu erwarten, von vornherein umsichtig und deutlich relativiert: »Der alte Buddhismus war … die rücksichtslos konsequenteste der hinduistischen vornehmen Intellektuellensoteriologien und insofern [!] deren Vollendung 37 Als Vollendung der vedischen Tradition gilt im Hinduismus eine andere philosophische Strömung, der Vedanta (»Veda-Ende«).
58 In Bezug auf Korea, einen Satellitenstaat Chinas, hält sich auch Weber uneingeschränkt an die lineare Sicht: »Die koreanische Sozialordnung war ein verblasstes Abbild der chinesischen.« 38
59 Nicht anders erschien im 19. Jahrhundert Gottfried Keller die Schweiz gegenüber ihrem großen Nachbarstaat Deutschland: »Das nüchterne Treiben seiner eigenen Landsleute hielt er [der grüne Heinrich, ein Schweizer] für Erkaltung und Ausartung des Stammes und hoffte jenseits des Rheines die ursprüngliche Glut und Tiefe des germanischen Lebens noch zu finden.« 39 Aber gerade in Gottfried Keller sah dann Max Weber ein »Deutschtum« von ganz besonderer, einzigartiger Ausprägung, wie es nur außerhalb eines nationalen Machtstaates möglich sei, in Gemeinwesen, die auf politische Macht verzichten. 40
60 Es ist denkbar, dass bei hinreichender Kenntnis Korea in Gegenüberstellung mit China in einem ähnlich autochthonen Licht aufleuchtet, wie die Schweiz während des Ersten Weltkrieges Max Weber in einem solchen erschien. Immerhin hat Korea im 15. Jahrhundert unabhängig vom politisch und kulturell gleicherweise übermächtigen Nachbarn China ein in der Sprachwissenschaft heute überschwänglich gerühmtes Alphabet für seine mit dem Chinesischen nicht verwandte Volkssprache geschaffen.

12. Agnostizismus-Regel

61 Es gibt Geheimnisse, die in allen Kulturen und über sie hinweg, transkulturell, ein Geheimnis bleiben. Natürlich können auch Beweise der Unentscheidbarkeit auf irrigen Voraussetzungen beruhen und täuschen. Dennoch wird man darauf gefasst sein, in keiner Kultur eine befriedigende Antwort auf Leibniz' Frage zu finden: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Dasselbe gilt für Lockes Frage, wie es möglich sei, dass bare, nicht denkende Materie ein denkendes, intelligentes Wesen hervorbringe. Was man in anderen Kulturen lernen kann, ist höchstens, wie man vor solchen Fragen Halt macht.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 4 (2003).
Online: http://them.polylog.org/4/ahe-de.htm
ISSN 1616-2943
Quelle:
Elmar Holenstein (1998): Kulturphilosophische Perspektiven. Schulbeispiel Schweiz – Europäische Identität – Globale Verständigungsmöglichkeiten.
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 288-312.
© 1998 Suhrkamp Verlag
© 2003 Autor & polylog e.V.

Anmerkungen

1
Georg Christoph Lichtenberg (1801): »Sudelbücher« (J 1207). In: Schriften und Briefe. Bd. 1. Frankfurt/M. 1992, 499: »Hermeneutische Billigkeit kann jeder Schriftsteller von seinem Leser verlangen; denn diese ihm versagen, ist eigentlich Schikane.« go back
2
Willard Van Orman Quine (1960): Word and Object. Cambridge/Mass., 69. go back
3
G.W.F. Hegel (1827): »Über die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode des Mahabharata«. In: Werke. Bd. 11. Frankfurt/M. 1970, 134f.
Zu den selbstverständlichen Regeln der Texthermeneutik gehört, dass man ein Zitat nicht weitergibt, ohne seinen Kontext zu kontrollieren. Ebenso gehört es zu den Grundregeln des Übersetzens, dass man nicht sorglos Rückübersetzungen von Zitaten vornimmt, wenn der originale Wortlaut auffindbar ist. Der Übersetzer dieses Aufsatzes ins Englische, Donald Goodwin, hat sich in dankenswerter Weise um diese beiden Regeln gekümmert. Dabei stellte es sich heraus, dass Hegel nur ein negatives Zugeständnis aus Hastings' Vorwort zitiert und dessen Plädoyer für eine andere Kultur, in das dieses Zugeständnis eingebettet ist, außer Acht lässt. Hastings' Vorwort zu Charles Wilkins' Übersetzung von The Bhagvat-Geeta (London 1785) ist geradezu ein Musterbeispiel für die Anwendung des hermeneutischen principle of charity. Ein längerer Auszug ist darum angebracht. Hastings schreibt (7f):
»Might I, an unlettered man, venture to prescribe bounds to the latitude of criticism, I should exclude, in estimating the merit of such a production, all rules drawn from the ancient or modern literature of Europe, all references to such sentiments or manners as are become the standards of propriety for opinion and action in our own modes of life, and equally all appeals to our revealed tenets of religion, and moral duty. I should exclude them, as by no means applicable to the language, sentiments, manners, or morality appertaining to a system of society with which we have for ages been unconnected, and of an antiquity preceding even the first efforts of civilization in our own quarter of the globe.«
Hier folgt die von Hegel nahezu wörtlich zitierte Passage. Hastings fährt dann weiter:
»Many passages will be found obscure, many will seem redundant; others will be found cloathed with ornaments of fancy unsuited to our tastes, and some elevated to a track of sublimity into which our habits of judgment will find it difficult to pursue them; but few will shock either our religious faith or moral sentiments. Something too must be allowed to the subject itself, which is highly metaphysical, to the extreme difficulty of rendering abstract terms by others exactly corresponding with them in another language, to the arbitrary combination of ideas, in words expressing unsubstantial qualities, and more, to the errors of interpretation. The modesty of the translator would induce him to defend the credit of his work, by laying all its apparent defects to his own charge, under the article last enumerated; but neither does his accuracy merit, nor the work itself require that concession.« go back
4
Brief Heideggers an Jünger, 7. November 1969, abgedruckt in: Ernst Jünger (1980): Federbälle. Zürich, 71. go back
5
Max Weber (1920): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen 1988, 62. go back
6
Susan Taubes (1969): Divorcing. New York; deutsch: Scheiden tut weh. München 1995, 281. go back
7
Vorschlag des Verfassers in: Elmar Holenstein (1980): Von der Hintergehbarkeit der Sprache. Frankfurt/M., 53ff. go back
8
Wole Soyinka (1988): Diese Vergangenheit muß sich ihrer Gegenwart stellen. Zürich, 39. go back
9
G.W.F. Hegel (1822/23): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Werke. Bd. 12. Frankfurt/M. 1970, 122. go back
10
Irmela Hijiya-Kirschnereit (1981): Rezension von Gebhard Hielscher (Hg.) (1980): Die Frau. In: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 4, 503. Der Schluss, zu dem die Autorin kommt, ist konsequent: »Allenfalls [haben] westliche Ausländer (neben einer verschwindend geringen Zahl japanischer Feministen) wohl so klar umrissene Vorstellungen davon, wohin der Weg [zur Überwindung der ›herrschenden Verhältnisse‹ in Japan] gehen sollte.« go back
11
Vgl. Heiner Roetz (1992): Die chinesische Ethik der Achsenzeit. Frankfurt/M., 242ff. go back
12
Vgl. u.a. Ulric Neisser (1988): »Five Kinds of Self-knowledge«. In: Philosophical Psychology 1, 35-59, und, in Bezug auf Japan, Robert N. Emde (1992): »Amae, Intimacy, and the Early Moral Self«. In: Infant Mental Health Journal 13, 34-42. – In einer vergleichenden Untersuchung über japanische und amerikanische Kinder (Child development and Education in Japan. New York, 163) schreiben R.D. Hess et al. (eds.) (1986): »Japanese mothers appeared to place higher confidence in efficacy of effort than did American mothers. Perhaps the Japanese mothers were thus expressing a belief that problems are susceptible to persistence and hard work and that responsibility for achievement lies with the individual. Despite the individualism that presumably characterizes American culture, mothers and children in the United States seemed to be less oriented toward internal sources of achievement. They emphasized the role of parents in children's success in school, were more likely to place blame on the school for the children's failure, and appealed more to authority than to internal states in attempts to persuade children to conform.« go back
13
Kae Ito (1993): "Das japanische Schul- und Bildungssystem". In: ETH-Bulletin 250 (Juli 1993), 16. go back
14
Ulrich Bräker (1789): Der arme Mann im Tockenburg. Stuttgart, 113. go back
15
Japanisch: Jugun (truppenbegleitende) ian-fu (Trost-Frauen); Englisch: comfort women; Indonesisch-Niederländisch: troostmeisjes. go back
16
E. Wehrmann (1994): "Verschweigen und Vergessen". In: Die Zeit (30. September 1994), 94; H. Abosch (1994): "Die Blitze der Trauer". In: Neue Zürcher Zeitung (1./2. Oktober 1994), 89 (Rezension von: I. Strobl (1994): Das Feld des Vergessens. Jüdischer Widerstand und deutsche ›Vergangenheitsbewältigung‹. Berlin – Amsterdam). go back
17
Vgl. Elmar Holenstein (1985): Menschliches Selbstverständnis. Frankfurt/M., 135; Jeanne Hersch (Hg.) (1990): Das Recht ein Mensch zu sein. Leseproben aus aller Welt zum Thema Freiheit und Menschenrechte. Basel. go back
18
Zitiert nach Weber 1920. Bd. 1, 457. go back
19
Jürgen Mittelstrass (1994): "Risiko und Akzeptanz". In: Neue Zürcher Zeitung (9. November 1994), 45. go back
20
Florian Coulmas (1993): Das Land der rituellen Harmonie. Japan: Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Frankfurt/M., 234. Naheliegender wäre es, zu schreiben: In Japan meidet man es tendenziell, den Einzelnen allein haftbar zu machen und Verantwortung individualistisch zu lokalisieren. go back
21
Vgl. u.a.: John O. Haley (1991): Authority Without Power. Law and the Japanese Paradox. Oxford, 132-137; Frank A. Johnson (1993): Dependency and Japanese Socialization. New York, 167. go back
22
Vgl. Weber 1920. Bd. 1, 215: »In der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein war es ein Merkmal gerade der spezifisch amerikanischen Demokratie: daß sie nicht ein formloser Sandhaufen von Individuen, sondern ein Gewirr streng exklusiver, aber voluntaristischer, Verbände war.« go back
23
Immanuel Kant (1785): Grundlegung der Metaphysik der Sitten. In: Werke (Akademie-Textausgabe). Bd. 4. Berlin 1968, 429. go back
24
Vgl. Holenstein 1980, 140; 1985, 97-103. go back
25
Ian Buruma (1994): The Wages of Guilt: Memories of War in Germany and Japan. New York, 11f; deutsch: Erbschaft als Schuld: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan. München 1994, 20. go back
26
Vgl. Joseph J. Tobin (1992): "Introduction". En: Joseph J. Tobin (ed.): Re-Made in Japan: Everyday Life and Consumer Taste in a Changing Society. New Haven, 30f. go back
27
Luis Frois (1585): Kulturgegensätze Europa-Japan. Tokio 1955, Kap. 2, Nr. 29. go back
28
Léopold Senghor (1939): "Ce que l'homme noir apporte". In: Négritude et humanisme. Paris 1964, 24. Vgl. Holenstein 1985, 139-152, und (1994) "L'herméneutique interculturelle". In: Revue de théologie et de philosophie 126, 32f. go back
29
Frois 1585, Kap. 1, Nr. 30; Engelbert Jorissen (1988): Das Japanbild im »Traktat« (1585) des Luis Frois. Münster, 188f. go back
30
Frois 1585, Kap. 10, Nr. 3; zu Herodot vgl. Holenstein 1985, 140f. go back
31
Nach Coulmas 1993, 235, weist der japanische Verantwortungsbegriff nicht wie der europäische in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Maßgebend sei letztlich, ob man vor seinen Ahnen bestehen könne. Eine solche im Wesentlichen rückwärts gerichtete Verantwortlichkeit impliziere »keine Verantwortung vor der Zukunft im Sinne der von Max Weber beschriebenen Verantwortungsethik der politikfähigen Menschen«. Coulmas scheint sich leiten zu lassen von einem Denken in Gegensätzen, die sich wechselseitig ausschließen und nicht aufeinander verweisen. Vergangenheit und Zukunft schließen einander aus, Vergangenheitsbewusstsein und Zukunftsbewusstsein aber gerade nicht. Das eine verweist auf das andere - und so auch das Schuldbewusstsein den Ahnen gegenüber auf die Verantwortung für die Zukunft. Bewährt man sich in traditionellen Gesellschaften den Vorfahren gegenüber nicht in erster Linie dadurch, dass man für Nachfahren sorgt? Das japanische Erziehungssystem ist auf die Verantwortung der gesamten Klasse für den Prüfungserfolg jedes Klassenmitglieds ausgerichtet, die japanische Firmenpolitik auf die Zuständigkeit jedes Angestellten für die Qualität und den Marktwert der Produkte, an deren Herstellung er beteiligt ist. Dem japanischen Justizsystem ist mehr an der Wiedergutmachung eines Schadens als an der Strafe des Täters gelegen. In Japan kann man eine Verantwortungsethik von gesellschaftsfähigen Menschen finden, wie sie Max Weber anschaulicher nicht hätte entwerfen können. go back
32
Jürgen Habermas (1982): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Frankfurt/M., 283-294. go back
33
Albert Schweitzer (1935): Die Weltanschauung der indischen Denker. München, 23. Trotz seiner apodiktischen Formulierungen ist Schweitzer nicht entgangen, dass sich in Indien auch positive Welteinstellungen finden. go back
34
Friedrich Nietzsche (1895): Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, und (1888): Der Antichrist (No. 56). In: Werke. Hg. v. Karl Schlechta. München 1966, Bd. 3, 701; Bd. 2, 1224. Nietzsche ist es ebenso wenig wie Schweitzer entgangen, dass es in der langen Geschichte und komplexen Gesellschaft Indiens einander entgegengesetzte Einstellungen zum Leben gibt. go back
35
Jürgen Habermas (1958): "Philosophische Anthropologie". In: Kultur und Kritik. Frankfurt/M. 1973, 106. – Man ist geneigt, anzunehmen, dass Habermas in seinem frühen Lexikonartikel mehr die Auffassung seiner Lehrer wiedergibt als eine Ansicht, die er selber heute noch vertritt. Seine mehrfache Aufteilung der »Hochkulturen« in homogene (und dualistisch beschreibbare) Felder eines meist vierteiligen Rasters legt allerdings den Verdacht nahe, dass der Herdersche Glaube an kompakte Kulturen, über die sich allgemeine Aussagen machen lassen, doch bis in die Theorie des kommunikativen Handelns (1981) hinein nachwirkt. go back
36
Karl Jaspers (1957): Die großen Philosophen. München 1988, 143f. go back
37
Max Weber (1921): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 2. Tübingen 1988, 251. go back
38
A.a.O., 294. go back
39
Gottfried Keller (1853): Der grüne Heinrich (1. Bd., 3. Kap.). Frankfurt/M. 1985, 38. go back
40
Max Weber (1916): "Zwischen zwei Gesetzen". In: Gesammelte politische Schriften. Tübingen 1988, 143. go back

Autor

Elmar Holenstein (*1937 in der Nähe von St. Gallen, Schweiz) studierte Philosophie, Psychologie und Linguistik an den Universitäten von Leuven, Heidelberg and Zürich. Während dieser Zeit und später war er zu Forschungsaufenthalten am Husserl-Archiv in Leuven, am Institut für Linguistik der Universität Köln, an den Universitäten von Harvard, Hawaii und Stanford sowie am Institut für Sprach- und Kulturstudien in Asien und Afrika in Tokio. Von 1977 bis 1990 war er Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, von 1990 bis 2002 an der ETH Zürich. 1986/87 war er Gastprofessor an der Universität Tokio. Seit seiner Emeritierung im Jahr 2002 lebt er in Yokohama, Japan. Seine gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte sind philosophische Psychologie (Leib/Seele-Problem; Verhältnis von Erfahrung, Sprache und Denken; natürliche und künstliche Intelligenz) sowie Kulturphilosophie (menschliche Gleichartigkeit und intrakulturelle Variation; die Rolle der Geographie in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften).
Prof. Dr. Elmar Holenstein
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