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Ram Adhar Mall

Das Konzept einer interkulturellen Philosophie

 
English
Summary

In his paper Mall argues for the recognition of plural traditions in philosophy, since these are specifications of the one philosophia perennis. It is the task of intercultural philosophy to mediate between these two ends, i.e. the specific philosophies as they are found in different cultures and the universal philosophy which is not culturally bound itself. Methodically intercultural philosophy therefore is based on comparative studies, and in particular on the comparison of cultures and their philosophical traditions. But just as the one universal philosophy nowhere exists in a pure form, there is an inner plurality within each of the specific culture-bound philosophies. The same questions and translational problems that are raised interculturally also occur intracultural, although at another level of differentiation.
Based on these considerations Mall claims for philosophy to become intercultural the need to change mental attitude, to open its conceptual thinking, to emancipate philosophical traditions which up to date have not been recognized as such, to rewrite the history of philosophy and to pursue unity without uniformity.


Inhalt

english  

1. Ein Wort zuvor
2. Zur interkulturellen analogischen Hermeneutik
3. Zur Definition interkultureller Philosophie
  3.1 Was interkulturelle Philosophie nicht ist
  3.2 Was interkulturelle Philosophie ist
4. Zur Übersetzungsproblematik
5. Logik und Ethik aus interkultureller Sicht
  5.1 Logik in Indien und Europa
  5.2 Grundsätzliche Ähnlichkeiten und erhellende Differenzen
  5.3 Das Ethische im Vergleich der Kulturen
6. Zur Aufgabe der interkulturellen Philosophie



 1. Ein Wort zuvor




Der Beitrag erschien zuerst in:

polylog: Austrian print edition
Nr. 1 (1998) zum Thema:
Ansätze interkulturellen Philosophierens

1

  Es gibt eine reine eigene Kultur ebensowenig, wie es eine reine andere Kultur gibt. Analoges gilt auch für die Philosophie. Die Vernetzungen der Kulturen sind vielschichtig und lassen sich fast endlos in die Vergangenheit zurückverfolgen. Trotz der manchmal unübersehbaren Vieldeutigkeit steht der Begriff Kultur für einen sowohl theoretischen als auch praktischen Orientierungsrahmen. Zur Kultur gehört wesentlich die Gestaltung einer bestimmten, dauerhaften Lebensform in der Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur und mit anderen Kulturen. So wie die Menschenwürde allen Menschen als Menschen zukommt, sind alle Kulturen als Kulturen gleichwertig, obwohl unleugbar Unterschiede bestehen, die uns zwar differenzieren lassen, die aber nicht diskriminierend behandelt werden dürfen. Philosophie ist ein Kulturprodukt, und eine jede Kultur enthält Philosophie, mag diese auch im Poetischen oder gar Mythologischen impliziert sein. Daß es unterschiedliche Philosophien gibt (sowohl intra- als auch interkulturell), ist ebenso wahr wie die Tatsache, daß diese Philosophien Ergebnisse des philosophischen Denkens sind.

»Es gibt eine reine eigene Kultur ebensowenig, wie es eine reine andere Kultur gibt. Analoges gilt auch für die Philosophie.«

2

  Das interkulturelle Projekt des Philosophierens privilegiert weder das eine noch das andere, sondern plädiert für eine Vermittlung zwischen dem Besonderen der jeweiligen Philosophien und dem Allgemeinen der einen universellen Philosophie. Auf die Frage, woher die Philosophie komme, kann erstens geantwortet werden, daß sie ein Kulturerbe sei. Zweitens kann man antworten, daß sie dem Anthropos qua Anthropos zukommt als Disposition. Philosophie als ein metaphysisches Bedürfnis ist ein Teil dieser Disposition. Es ist wahr, daß unterschiedliche philosophische Denkrichtungen unterschiedliche Akzente setzen und dementsprechend zu unterschiedlichen Philosophiedefinitionen gelangen. Dies ist an sich nicht unphilosophisch. Was jedoch für einen philosophischen Diskurs schädlich ist, ist die Tendenz, eine bestimmte Sichtweise in den absoluten Stand zu setzen.

3

  Man hat mit Recht die Magdstellung der Philosophie im christlichen Mittelalter beklagt, aber eine reine szientistische Befreiung, die ihre Aufgabe in der Analyse, Erklärung und Begründung der vorwiegend naturwissenschaftlichen Theorien sieht, macht die Philosophie erneut zu einer Magd der Wissenschaften.

»Zunächst ist die interkulturelle Sicht nicht anders als die intrakulturelle Sicht ... Die interkulturelle Sicht macht die Palette der Modelle jedoch bunter.«

4

  Die Ansicht, Philosophie sei eine rein theoretische Angelegenheit, ist philosophiegeschichtlich nicht untermauert. Pierre Hadot, Voelke, Dománski u.a. haben die Philosophie als eine Denk- und Lebenslehre auch aus der Geschichte der europäischen Philosophie bestätigt. Mit dem Aufkommen des Christentums wurde Philosophie als ein unabhängiger Lebensweg zurückgedrängt, da das Christentum neben sich keine andere gleichrangige seligmachende und befreiende Lebensform zuließ.

5

  Stellen wir die Frage: Wann sind zwei Dinge (Kulturen, Philosophien, Religionen etc.) radikal verschieden und wann nur unterschiedlich, so lautet die Antwort: Sie sind verschieden als zwei Beispiele eines Gattungsbegriffs. Mit anderen Worten sind sie unterschiedliche Kulturen, Philosophien und Religionen. Sie wären jedoch radikal verschieden, wenn sie selbst als Kulturen, Philosophien und Religionen verschieden wären. In diesem Falle könnten sie dann nicht demselben Gattungsbegriff subsumiert werden. Solche radikalen Unterschiede, falls es sie gibt, könnten erst gar nicht artikuliert werden. Selbst Gegenargumente werden Argumente genannt, mögen sie noch so konträr oder gar kontradiktorisch sein. So handelt es sich also um einen allgemeinen, aber überlappend-analogischen Begriff, der sich konkret in seinen Exemplaren und allgemein in dem Oberbegriff zeigt. Daher die Berechtigung der Adjektive: europäisch, indisch, chinesisch etc.

6

  Zunächst ist die interkulturelle Sicht nicht anders als die intrakulturelle Sicht; denn innerhalb der gleichen Kultur gibt es auch unterschiedliche erkenntnistheoretische, ethische und politische Modelle. Die interkulturelle Sicht macht die Palette der Modelle jedoch bunter, reicher und weist unter ihnen grundsätzliche Ähnlichkeiten und erhellende Differenzen auf. Daher befreit die interkulturelle Sicht aus der Enge der kulturellen Sicht.



 2. Zur interkulturellen analogischen Hermeneutik

»Es mag Europa überraschen, daß Europa heute interpretierbar geworden ist.«

7

  Das heutige Angesprochensein der Kulturen, Philosophien, Religionen und politischen Weltanschauungen ist von ganz anderer Qualität als das gewesene. Dieses erneute Angesprochensein Asiens, Afrikas und Lateinamerikas durch Europa und Europas durch Asien, Afrika und Lateinamerika ist gekennzeichnet durch eine konkrete Situation, in der die nicht-europäischen Kontinente mit ihren je eigenen Stimmen am Gespräch beteiligt sind.

8

  Dieses Gespräch ist begleitet von einer vierdimensionalen hermeneutischen Dialektik. Erstens geht es um ein Selbstverständnis Europas durch Europa. Trotz aller inneren Unstimmigkeiten hat sich Europa, zum größten Teil unter dem Einfluß außerphilosophischer Faktoren, den Nichteuropäern als etwas Einheitliches präsentiert. Zweitens gibt es das europäische Verstehen der nicht-europäischen Kulturen, Religionen und Philosophien. Die institutionalisierten Fächer der Orientalistik und Ethnologie belegen dies. Drittens sind da die nicht-europäischen Kulturkreise, die ihr Selbstverständnis heute auch selbst vortragen und dies nicht den anderen überlassen. Viertens ist da das Verstehen Europas durch die außereuropäischen Kulturen. In dieser Situation stellt sich die Frage: Wer versteht wen, wie und warum am besten? Es mag Europa überraschen, daß Europa heute interpretierbar geworden ist.

»Das Verstehenwollen und das Verstandenwerdenwollen gehören zusammen und stellen die zwei Seiten derselben hermeneutischen Münze dar.«

9

  So verlangt die bestehende hermeneutische Situation nach einer Philosophie der Hermeneutik, die offen genug ist, die Traditionsgebundenheit einzusehen, auch die des eigenen Standpunkts. Eine interkulturell orientierte hermeneutische Philosophie muß die Forderung nach einer Theorie erfüllen, nach der weder die Welt, mit der wir uns auseinandersetzen, noch die Begriffe, Methoden, Auffassungen und Systeme, die wir dabei entwickeln, historisch unveränderliche, apriorische Größen darstellen.

10

  Eine Hermeneutik, die das Identitätsmodell zum Paradigma erhebt, unternimmt eine Verdoppelung des Selbstverstehens in ihrem Versuch, das andere, das Fremde zu verstehen. Sie versucht, das zu Verstehende in seiner Substanz so zu verändern, daß das Fremde zu einem Echo ihrer selbst wird. Wer Wahrheit durch die eigene Tradition und die eigene Tradition durch die Wahrheit exklusivistisch definiert, macht sich der petitio principii schuldig und gefährdet eine interkulturelle Verständigung. Verstehen ist nach diesem Modell stets mit irgendeiner Form von Gewalt verbunden.

11

  Das Motto einer interkulturellen Hermeneutik lautet daher: Das Verstehenwollen und das Verstandenwerdenwollen gehören zusammen und stellen die zwei Seiten derselben hermeneutischen Münze dar. Wo alles nur dem Wunsch, daß man verstanden werden will, untergeordnet ist, dort wird das Andere in seinem Eigenrecht erst gar nicht wahr- und ernstgenommen. In diesem Sinne studierten die Missionare und auch manche Ethnologen mit viel Mühe fremde Sprachen wie zum Beispiel Chinesisch oder Sanskrit weniger, um die Fremden zu verstehen, als um von ihnen verstanden zu werden. In dem Verstehen des anderen ist zwar der hermeneutische Zirkel nicht ganz vermeidbar; er darf jedoch auch nicht dogmatisiert werden, als wäre man nur noch dessen Gefangener.

»Die 'analogische Hermeneutik' geht von den aus vielerlei Gründen vorhandenen Überlappungen aus, die Kommunikation und Übersetzung erst ermöglichen.«

12

  Von den folgenden drei hermeneutischen Modellen bejaht die interkulturelle Philosophie das dritte. Diese Modelle sehen so aus:

13

  1. das Identitätsmodell erhebt das Selbstverstehen einer Kultur, Philosophie oder Religion zu einem exklusiven Paradigma und verleiht der sonst richtigen phänomenologischen Einsicht einen zu strengen Sinn: Das Unbekannte muß im Modus des Bekannten verstanden werden. Diese Hermeneutik läßt sich von der identitätsphilosophisch orientierten Fiktion einer totalen Kommensurabilität leiten. In einer angewandten Form besagt sie: Nur ein Buddhist kann einen Buddhisten, nur ein Christ einen Christen, nur ein Platoniker einen Platoniker, ein Hegelianer einen Hegelianer verstehen. Da es aber den Platoniker nicht gibt, führt diese Hermeneutik sich selbst ad absurdum.

14

  2. Die Hermeneutik der totalen Differenz verabsolutiert die Unterschiede und hängt der Fiktion einer völligen Inkommensurabilität an. Während die Fiktion der totalen Kommensurabilität das interkulturelle Verstehen zu einer Farce werden läßt, macht die Fiktion der völligen Inkommensurabilität das gegenseitige Verstehen unmöglich.

15

  3. Die "analogische Hermeneutik", für die die interkulturelle Philosophie plädiert, reduziert nicht und vermeidet die beiden beschriebenen Fiktionen. Sie geht von den aus vielerlei Gründen vorhandenen Überlappungen aus, die Kommunikation und Übersetzung erst ermöglichen. Diese Überlappungen können von dem Biologisch-Anthropologischen bis hin zum Politischen reichen.

»Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre.«

Wilhelm Dilthey
(Anm. 1)

16

  Die Andersheit des anderen wird erreicht, ohne sie zu reduzieren oder zu vernachlässigen. Die starke Identitätstendenz der Moderne und die ebenso starke Differenzthese der Postmoderne verlieren so ihren Stachel. Nur Überlappungen lassen Auslegungen zu. Die Überlappungen entstehen, sie sind nicht autonom. Sie sind in das Leben eingebettet und hängen von Begründungszusammenhängen, Methoden, Erkenntnissen, Werten, Interessen und Interpretationen ab. Jenseits aller Ontologisierungen stellen die Überlappungen die auf dem Boden des Empirischen zu erreichenden und zu begründenden Gemeinsamkeiten dar. Sehr zu Recht heißt es bei Dilthey: »Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre.«  1 

17

  Die analogische Hermeneutik vertritt ferner die Ansicht, daß man auch das versteht und verstehen kann, was man nicht ist, sein kann oder sein will. Das Verstehen im Geiste der analogischen Hermeneutik pocht nicht auf ein Verstehen im Sinne des Einleuchtens und Überzeugens, sondern vollzieht ein Verstehen auch im Sinne des Sich-zurücknehmen-Könnens. Die analogische Hermeneutik erlaubt uns auch, das zu verstehen, was wir vorher nicht unbedingt haben müssen. Die Grenze der Hermeneutik, auch der phänomenologischen, ist dort, wo es auch eine Grenze der Konstituierbarkeit gibt. Allen Intentionen des Verstehens geht das analogisch Andere als das zu Verstehende voraus und ist und bleibt nicht restlos konstituierbar. Nur einem Gott ist es möglich, nach seinem eigenen Bilde zu schaffen.

18

  Das hermeneutische Subjekt der analogischen Hermeneutik ist nicht ein Subjekt neben dem empirischen, kulturellen und historischen, sondern es ist dasselbe Subjekt mit der interkulturellen Einstellung, welche es orthaft ortlos sein läßt. Ein solches hermeneutisches Subjekt als eine meditativ-reflexive Instanz hat keine bestimmte Sprache als seine Muttersprache. Es wird immer von dem Bewußtsein begleitet, daß ein jedes konkretes Subjekt hätte auch ein anderes sein können. Die Naivität des bloß mundanen Subjekts besteht in dem Unvermögen, den eigenen Standpunkt als einen unter vielen wahrnehmen zu können. Die höherstufige Einstellung des hermeneutischen Subjekts ermöglicht uns, daß wir Standpunkte, einschließlich des eigenen, als Standpunkte begreifen und die nötige Offenheit und Toleranz bezeugen.  2 



 3. Zur Definition interkultureller Philosophie



 3.1 Was interkulturelle Philosophie nicht ist

»Trotz der notwendigen Zentren der unterschiedlichen philosophischen Traditionen ist die interkulturelle Philosophie orthaft, jedoch ortlos.«

19

  Erstens ist die interkulturelle Philosophie nicht der Name einer bestimmten philosophischen Konvention, sei sie europäisch oder nicht-europäisch. Trotz der notwendigen Zentren der unterschiedlichen philosophischen Traditionen (Ursprungsorte der Philosophie) ist die interkulturelle Philosophie zweitens orthaft, jedoch ortlos. Interkulturelle Philosophie ist drittens nicht ein Eklektizismus der verschiedenen philosophischen Traditionen, deren Darstellung über die Philosophiegeschichte im Sinne einer Buchbinderkunst nebeneinander heute noch zu finden ist.

20

  Viertens ist die interkulturelle Philosophie auch nicht eine bloße Abstraktion, formal-logisch und per definitionem dingfest gemacht. Sie ist fünftens aber auch nicht eine bloße Reaktion oder Hilfskonstruktion angesichts der de facto pluralistischen Situation der philosophischen Szene in dem heutigen Weltkontext der Kulturen. Mit anderen Worten darf die interkulturelle Philosophie nicht zu einem bloßen, aus der Not geborenen politischen Konstrukt reduziert werden.

»Interkulturelle Philosophie ist nicht eine trans-kulturelle Philosophie, wenn dieser Terminus eine außerhalb oder oberhalb der mannigfaltigen philosophischen Traditionen wie ein Fixstern stehende Instanz meinen soll.«

21

  Bei der interkulturellen Philosophie geht es sechstens auch nicht um eine Ästhetisierung, um ein schwärmerisch romantisches und exotisch-dilettantisches Interesse für das Außereuropäische. Dafür ist das Anliegen der interkulturellen Verständigung zu ernst. Interkulturelle Philosophie ist siebtens auch nicht ein Ort der Kompensation, bei dem anderen das zu finden, was einem fehlt. In diesem Sinne hat man aufgrund von Vorurteilen und Unkenntnis von der europäischen Philosophie und von der asiatischen Weisheit gesprochen (philosophia und philousia). Interkulturelle Philosophie ist achtens auch kein Ableger der Postmodernität, auch wenn diese jene bejaht und unterstützt.

22

  Interkulturelle Philosophie ist neuntens auch nicht eine trans-kulturelle Philosophie, wenn dieser Terminus eine außerhalb oder oberhalb der mannigfaltigen philosophischen Traditionen wie ein Fixstern stehende Instanz meinen soll. Dies ist einer der Gründe, warum wir die Vorsilbe "inter" der Vorsilbe "trans" vorziehen. Ferner ist die Vorsilbe "trans" philosophisch und theologisch fast überbesetzt und reich belegt. Das Präfix "inter" weist auf einen beobachtbaren, erlebbaren und sich analogisch fortsetzenden Zwischenraum hin fast im Sinne der These von der Familienähnlichkeit Wittgensteins. Eine einzige Bedeutung der Vorsilbe "trans", die meiner Einschätzung nach der interkulturellen philosophischen Orientierung entspricht und ihr gerecht wird, ist die einer Einstellung, die nicht jenseits und außerhalb der Kulturen und Philosophien zu postieren ist, sondern innerhalb dieser und sie begleitend. Fast von einer Art Familienähnlichkeit könnte man hier zwischen dieser und der transzendentalen Reduktion als einer der religiösen Bekehrung gleichkommenden Einstellung in der Phänomenologie Husserls sprechen.

23

  Es mutet seltsam an, wenn der europäische Philosoph der indischen Philosophie vorwirft, sie sei zu religiös, und der Theologe die indische Religion für zu philosophisch hält. Es bleibt zu hoffen, daß im Geiste der interkulturellen Philosophie eine begriffliche und inhaltliche Klärung diesen scheinbaren Widerspruch auflöst. Wer an der Kreuzung der unterschiedlichen Kulturen steht und in und von der Übertragung und Übersetzung der Lebensformen und Sprachspiele lebt, erfährt hautnah die Dringlichkeit, Schwierigkeit und Notwendigkeit einer interkulturellen Verständigung.



 3.2 Was interkulturelle Philosophie ist

»Methodisch verfährt die interkulturelle Philosophie so, daß sie kein Begriffssystem unnötig privilegiert und auf begriffliche Konkordanz aus ist.«

24

  Interkulturelle Philosophie ist erstens der Name einer geistigen, philosophischen Einstellung, die alle kulturellen Prägungen der einen philosophia perennis wie ein Schatten begleitet und verhindert, daß diese sich in den absoluten Stand setzen. Methodisch verfährt sie zweitens dabei so, daß sie kein Begriffssystem unnötig privilegiert und auf begriffliche Konkordanz aus ist. So leistet sie einen wesentlichen Beitrag zu einem befreienden Diskurs. Es ist eine hausgemachte Angst zu meinen, interkulturelle Philosophie dekonstruiere die Begriffe Wahrheit, Kultur, Religion und Philosophie. Was sie jedoch deutlich werden läßt, ist der extrem relativistische und verabsolutierende Gebrauch, der von diesen Begriffen gemacht worden ist und zum Teil immer noch gemacht wird.

25

  Interkulturelle Philosophie indiziert demnach drittens einen Konflikt verbunden mit einem Anspruch; Konflikt, weil die lange vernachlässigten philosophischen Kulturen, die aus Ignoranz, Arroganz und auch wegen diverser außerphilosophischer Faktoren mißverstanden und unterdrückt wurden, im heutigen Weltkontext der Philosophie ihre Gleichberechtigung einklagen; Anspruch, weil die nicht-europäischen Philosophien und Kulturen mit ihren je eigenen Fragestellungen Lösungsansätze anbieten wollen. So stellt viertens die interkulturelle Philosophie auch einen Emanzipationsprozeß dar, wobei festzuhalten bleibt, daß es hierbei nicht um eine Emanzipation im Sinne der innereuropäischen im Zeitalter der Aufklärung geht, sondern um eine Emanzipation des nicht- und außereuropäischen Denkens von seinen Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende alten in Europa entstandenen einseitigen Bildern.

»Die Einheitlichkeit der Hardware der europäischen technologischen Formation darf nicht die gesunde Vielfalt der Software der Kulturen einverleiben.«

26

  Interkulturelle Philosophie ist fünftens dann die Einsicht in die Notwendigkeit, Philosophiehistorie von Grund auf neu zu konzipieren und zu gestalten. Die Universalität der philosophischen Rationalität zeigt sich so in verschiedenen philosophischen Traditionen, transzendiert diese jedoch auch. Bei der interkulturellen Philosophie geht es sechstens um die Konzeption einer Philosophie, die das eine Omnipräsente der philosophia perennis in vielen Rassen, Kulturen und Sprachen hörbar macht. So wehrt die interkulturelle Philosophie die mächtige Tendenz einiger Philosophien, Kulturen, Religionen und politischen Weltanschauungen ab, sich zu globalisieren. Die Einheitlichkeit der Hardware der europäischen technologischen Formation darf nicht die gesunde Vielfalt der Software der Kulturen einverleiben. "Verwestlichung" ist nicht ohne weiteres "Europäisierung". Man möchte fast von einem "Mythos" der "Europäisierung der Menschheit" sprechen.

27

  Interkulturelle Philosophie plädiert daher siebtens für Einheit ohne Einheitlichkeit. Die Transkulturalität der formalen, technologischen und naturwissenschaftlichen Begriffsapparate darf nicht verwechselt werden mit dem Geist der Interkulturalität. Zum Wesen der interkulturellen Philosophie gehört achtens das Kultivieren der Einsicht in die erkenntnistheoretische, methodologische, metaphysische, ethisch-moralische, politische und religiöse Bescheidenheit des je eigenen Zugangs zum regulativen Einen mit vielen Namen.

28

  In der Abwesenheit eines allseitig akzeptablen archimedischen Punktes behandelt die interkulturelle Philosophie neuntens die verschiedenen Philosophien als zwar unterschiedliche, aber nicht radikal unterschiedliche Wegweiser zur wahren Philosophie. Was Philosophie ist, macht die interkulturelle Philosophie eher an den Fragestellungen als an den Antworten der Philosophen dingfest. Und dies tut sie sowohl inter- als auch intrakulturell. Die Singularisierung der Rede von der einen europäischen, indischen oder chinesischen Philosophie ist idealisierend; sie ist reduktiv und nimmt partem pro toto.


»Interkulturelle Philosophie zielt auf eine Transformation der Philosophie jenseits ihrer bloß monokulturellen Zentriertheit.«

29

  Interkulturelle Philosophie zielt zehntens so auf eine Transformation der Philosophie jenseits ihrer bloß monokulturellen Zentriertheit. Interkulturelle Philosophie stellt dann elftens die notwendige Bedingung für die Möglichkeit der Disziplin der komparativen Philosophie dar, denn die letztere ist und bleibt ohne die erstere ein bloßes Nebeneinander der Philosophien. Interkulturelle Philosophie entwirft zwölftens so ein Modell der Philosophie, das die allgemeine Applizierbarkeit des Begriffs Philosophie bejaht unter legitimer Anerkennung der Vielfalt der philosophischen Zentren und Ursprünge. Interkulturelle Philosophie legt dreizehntens den historischen Kontingenzcharakter einer philosophisch-historiographischen Praxis bloß, die alle nicht-europäischen Philosophien im Rahmen und nur vom Standpunkt der europäischen Philosophie her thematisiert. Daß es aber auch anders herum ebenso legitim und möglich ist, ist eines der Anliegen der interkulturellen Philosophie.

30

  Daß es einen Orientalismus und nicht einen Okzidentalismus gibt, ist eine historische Kontingenz. Interkulturelle Philosophie ist sich vierzehntens zwar des Eurozentrismus des westlichen Orientalismus bewußt und schätzt das Verdienst von Said hoch, aber sie möchte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und zielt auf einen interkulturellen Diskurs, der die alte Konstellation der Orient-Okzident-Dichotomie hinter sich läßt, Zentren bejaht, aber Zentrismus ablehnt.


»Interreligiosität ist selbst nicht eine Religion, der man angehören kann. Sie ist eine Haltung, die uns offen und tolerant macht.«

31

  Interkulturelle Philosophie kennt eine vierfache Perspektive: eine philosophische, eine theologische, eine politische und eine pädagogische. Unter philosophischer Optik bedeutet interkulturelle Philosophie, daß es falsch ist, die philosophische Wahrheit exklusiv durch eine bestimmte Tradition und eine bestimmte Tradition durch philosophische Wahrheit definieren zu wollen. Unter religiöser Optik ist die Interreligiosität ein anderer Name der Interkulturalität. Auch die eine religio perennis (sanatana dharma) trägt unterschiedliche theologische Gewänder. Interreligiosität ist selbst nicht eine Religion, der man angehören kann. Sie ist eine Haltung, die uns offen und tolerant macht. Ferner hilft sie uns, standhaft gegen Versuchungen des Fundamentalismus zu sein.

32

  Unter der politischen Optik ist die Interkulturalität ein anderer Name für eine pluralistisch-demokratische, republikanische Überzeugung, die auch die politische Wahrheit keiner Gruppe, Klasse, Partei allein zubilligt. Die pädagogische Perspektive, in einer Hinsicht sogar die wichtigste, ist der praktische Versuch, die Einsichten und Ansichten der drei anderen Perspektiven in Familie und Gesellschaft, von den Kindergärten bis zur Universität im Denken und Handeln zu lernen und lehren. Nur so kann man gegen die Fundamentalismen auf jedwedem Gebiet wirken; denn sobald diese die praktisch-politische Bühne beherrschen, ist es für Pädagogik zu spät. Ernst Cassirers Analysen der symbolischen Formen verleihen der interkulturell orientierten Philosophie die notwendige Flexibilität und bewahren sie vor der Gefahr, die dynamischen Inhalte und Strukturen der Philosophien, Kulturen und Religionen künstlich und einförmig zu vereinnahmen.



 4. Zur Übersetzungsproblematik

»Die europäische Geistesgeschichte belegt, daß von Anfang an auch im europäischen Denk- und Kulturraum übertragen, übersetzt und verglichen worden ist.«

33

  Wer in mehr als in einer Sprache lebt und sich in mehr als einer Kultur und Philosophie orientieren muß, der erfährt hautnah, daß die philosophische Wahrheit, trotz der Metonymie, das heißt der Namensvertauschung, sich hin und her überträgt und uns von den zu engen Grenzen des bloß Philologischen befreit. Sprachverstand ist eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für den Sachverstand.

34

  Es ist freilich unbestritten, daß Übertragungen schwierig sind und uns nie deckungsgleich gelingen, sei es inter- oder intrakulturell. Dies gilt jedoch allgemein, ob wir den griechischen logos mit der lateinischen ratio, dem christlichen Gottvater, der deutschen Vernunft, dem englischen Begriff reason oder mit anderen Ausdrücken anderer Sprachen übersetzen. Freilich wird eine ähnliche Übertragung auf dem interkulturellen Gebiet noch schwieriger und problematischer wegen der größeren Unterschiede der Sprach- und Kulturräume. Aber die Unterschiede zwischen den drei Orten Athen, Rom und Jerusalem waren ja anfänglich auch nicht minder groß.

35

  Die europäische Geistesgeschichte belegt jedoch, daß von Anfang an auch im europäischen Denk- und Kulturraum übertragen, übersetzt und verglichen worden ist. Und dies zu Recht und dem Leben dienlich. Der griechische philosophische Begriffsapparat wurde in den Dienst der christlichen Philosophie gestellt.

36

  Im asiatischen Raum hat der Sanskrit-Terminus dhyana (Meditation, Konzentration, Versenkung) eine ähnliche Reise hinter sich – im Chinesischen chan und im Japanischen zenna oder zen. Beide Beispiele zeigen, daß Übersetzungen und Übertragungen in sämtlichen Kulturkreisen die Praxis waren. Dieser Praxis liegt wohl die theoretische Überzeugung zugrunde, daß die Dinge, Begriffe zwar der sprachlichen Benennung bedürfen, aber in ihr nicht unvertretbar aufgehen.

»Wem die interkulturell orientierte Einstellung fehlt, der mag über eine fremde Kultur noch so gut informiert sein, er kann aber die notwendige Distanz zu der eigenen Tradition nicht besitzen.«

37

  In seinem Gespräch mit einem Japaner schreibt Heidegger, »der Name und das, was er nennt, stammen aus dem europäischen Denken, aus der Philosophie«.  3  Hier leistet Heidegger dem Eindruck Vorschub, daß nicht nur der Name (was richtig ist), sondern auch die Sache der Philosophie (was nicht richtig ist) griechisch und europäisch sei. Heidegger, der Laozi (Lao Tse) immer wieder gelesen haben soll, hätte jedoch merken müssen, daß das Dao in dem Namen "Dao" nicht restlos aufgeht. Wer Philosophie zu einem europäischen Geschick macht, engt die Universalität der Philosophie unnötig ein. Löwith meinte in diesem Zusammenhang, daß Heidegger der Grundüberzeugung gewesen sei, daß das Sein für den griechisch-europäischen Geist eine Vorliebe habe.  4  Eine solche Überzeugung, ob europäisch oder nicht, schadet der Unparteilichkeit der philosophischen Wahrheit.

38

  Wem die interkulturell orientierte Einstellung fehlt, der mag über eine fremde Kultur noch so gut informiert sein, er kann aber die notwendige Distanz zu der eigenen Tradition nicht besitzen. Max Müller, der weltbekannte Indologe, dem Indien zu Dank verpflichtet ist, wendet fast die Hegelsche Metapher von Altersstufen an, um die noch nicht ausgereifte Philosophie und Religion Indiens darzustellen. Dieses stufentheoretische Schema nimmt eine Platzanweisung der Kulturen fast a priori und ab ovo vor. Folgende Worte Max Müllers gehen von der alten eurozentrischen Hegelschen Optik aus: »People do not yet see the full importance of the Veda in an historical study of religion. The bridge of thoughts [...] that spans the whole history of the Aryan world has the first arch in the Veda, its last in Kant's Critique. While in the Veda we may study the childhood, we may study in Kant's Critique of Pure Reason the perfect manhood of Aryan mind.«  5 



 5. Logik und Ethik aus interkultureller Sicht

 

39

  Philosophie im Vergleich der Kulturen, und das heißt die Anwendung der interkulturellen Philosophie, möchte ich ganz kurz auf den Gebieten der Logik und Ethik versuchen.



 5.1 Logik in Indien und Europa


»Worin besteht das Gemeinsame, das Überlappende des Oberbegriffs Logik?«

40

  Adjektive wie indisch, chinesisch, europäisch etc. haben ihre Berechtigung, weil das, was sie bestimmen, auch anders bestimmt werden kann und wird. Die Universalität der Logik geht nicht verloren, wenn wir zum Beispiel von der indischen Logik sprechen, so wie die Kochkunst unterschiedliche Adjektive kennt, ohne dabei ihre Allgemeinbegrifflichkeit zu verlieren.

41

  Auf die selbstgestellte Frage "Was ist das Gemeinsame der unterschiedlichen Sprachspiele?" antwortete Wittgenstein, daß sie alle Regeln folgen. Worin besteht, so fragen wir hier, das Gemeinsame, das Überlappende des Oberbegriffs Logik? Die Lehre vom Schließen steht im Zentrum des logischen Denkens. Darüber hinaus besteht Logik auch in der theoretischen Untersuchung und Begründung des Schließens. So ist Logik aus interkultureller Sicht der Versuch, für die Schlußfolgerungen Argumente zu geben. Diese Argumentationsmuster jedoch können sowohl inter- als auch intrakulturell unterschiedlich sein.

»Bei einer Diskussion unter Weisen, großer König, findet ein Aufwinden und ein Abwinden statt, ein Überzeugen und ein Zugestehen; eine Unterscheidung und eine Gegenunterscheidung wird gemacht. Und doch geraten die Weisen nicht darüber in Zorn ...«

42

  In seinem Standardwerk Formale Logik schreibt Bochenski: »Die formale Logik ist, soweit bekannt, in zwei – und nur in zwei – Kulturkreisen entstanden: im abendländischen und im indischen.«  6  Meine Ausführungen hinsichtlich der Logik aus interkultureller Sicht versuchen hier einige grundsätzliche Ähnlichkeiten und verblüffende Differenzen zu zeigen zum Beispiel beim Syllogismus, bei dem Satz vom Widerspruch, bei der Frage nach der Gültigkeit usw.

43

  Auch in Indien hat die Logik sich aus der Methodologie der Diskussion, Disputation (sambhasa, jalpa, vitanda, tarka) entwickelt. Ein gutes Beispiel einer Methodologie der Diskussion (tarka-sastra) liefert das in der Weltliteratur bekannt gewordene Gespräch zwischen dem philosophisch und religiös interessierten und in der Kunst der Diskussion und Disputation ausgebildeten griechisch-baktrischen König Menandros, der circa 150 v. Chr. Afghanistan und den Norden Indiens regierte, und dem buddhistischen Mönch-Philosophen Nagasena. In dieser Schrift mit dem Titel Die Fragen des Milinda heißt es:

44

  Der König sprach: "Ehrwürdiger Nagasena, wirst du noch weiter mit mir diskutieren?"
"Wenn du, großer König, in der Sprache eines Gelehrten diskutieren wirst, dann werde ich mit dir diskutieren. Wenn du aber in der Sprache des Königs diskutieren wirst, dann werde ich nicht mit dir diskutieren."
"Wie, ehrwürdiger Nagasena, diskutieren dann die Weisen?"
"Bei einer Diskussion unter Weisen, großer König, findet ein Aufwinden und ein Abwinden statt, ein Überzeugen und ein Zugestehen; eine Unterscheidung und eine Gegenunterscheidung wird gemacht. Und doch geraten die Weisen nicht darüber in Zorn ..."
"Wie aber, ehrwürdiger Nägasena, diskutieren die Könige?"
"Wenn Könige während einer Diskussion eine Behauptung aufstellen und irgendeiner diese Behauptung widerlegt, dann geben sie den Befehl, diesen Menschen mit Strafe zu belegen..."  7 

45

  Diese Aussagen und Ausführungen des buddhistischen Mönch-Philosophen lassen unschwer manche Ähnlichkeiten mit sokratisch-platonischen Dialogen und Denkern deutlich werden. In Menon 75 c-d erläutert Sokrates die Merkmale einer Diskussion unter Freunden und Gelehrten, die Redlichkeit besitzen und nicht bloß auf den Sieg aus sind. Redlichkeit, Offenheit und Selbstbeherrschung sind auch die Tugenden, worauf Nagasena Wert legt. Darüber hinaus formuliert Nagasena in seiner Weise die Bedingungen für die Möglichkeit einer "herrschaftsfreien Diskussion" und des "kommunikativen Handelns" (Habermas).

46

  Die indische Syllogismustheorie (anu-mana-sastra) läßt sich auf diverse, in der indischen philosophischen Tradition vorhandene Diskussionsmodelle zurückverfolgen. Die indische Erkenntnistheorie unterscheidet zwischen zwei Haupterkenntnisarten: der direkten (pratyaksa/aparoksa) und indirekten (paroksa). Unter den sechs Erkenntnismitteln: Wahrnehmung (pratyaksa), Schlußfolgerung (anu-mana), zuverlässiges Wort (sabda), Analogie (upamana), Hypothese (arthapatti) und das Nicht-Gewahrwerden der Erkenntnisquelle (anupalabdhi) ist die Wahrnehmung das einzige Mittel zur Gewinnung der direkten Erkenntnis.

»Der Gegenstand einer erschlossenen Erkenntnis ist den Sinnesorganen nicht gegeben. Wir sehen den Rauch, aber nicht das Feuer; wir nehmen das Lächeln wahr, aber nicht die Freude.«

47

  Die Schlußfolgerung steht für eine Erkenntnis, die einer anderen folgt. Sieht man den Rauch, so schließt man auf das Feuer. Dieser Schritt der Schlußfolgerung ist erstens eine Erkenntnisquelle und zweitens auch ein Argumentationsweg. Hier sind also zwei Funktionen: die erkenntnistheoretische und die logische zusammengedacht.

48

  Der Gegenstand einer erschlossenen Erkenntnis ist den Sinnesorganen nicht gegeben. Wir sehen den Rauch, aber nicht das Feuer; wir nehmen das Lächeln wahr, aber nicht die Freude. Die indische Syllogismustheorie hält zwei Schlußfolgerungsformen auseinander: Schlußfolgerung für das Subjekt (svarthanu-mana) und Schlußfolgerung für die anderen (pararthanumana). Die erste Form stellt im wesentlichen einen eher psychologisch orientierten Erkenntnisgewinnungsprozeß dar. Im allgemeinen sind drei Sätze in diesem Syllogismus (vergleichbar mit dem Aristotelischen) enthalten:

49

  Immer wo es Rauch gibt, gibt es auch Feuer.
  Dort auf dem Berg gibt es Rauch.
  Folglich gibt es dort Feuer.

50

  Die Schlußfolgerung als ein argumentativer Weg, andere zu überzeugen, enthält jedoch fünf Sätze. Dieser fünfgliedrige Syllogismus sieht so aus:

51

  1. These (pratijña): Auf dem Berg dort gibt es Feuer.
  2. Grund (hetu): Weil es dort Rauch gibt.
  3. Beleg (udaharana): Immer wo Rauch, dort Feuer, wie zum Beispiel in der Küche.
  4. Anwendung (upanaya): Der Berg dort hat Rauch, und dieser wird stets von Feuer begleitet.
  5. Konklusion (nigamana): Folglich gibt es dort auf dem Berg Feuer.

»Bei der Wahrnehmung einer bestimmten Kuh wird zugleich die allgemeine Eigenschaft Kuhheit wahrgenommen.«

52

  Dieser fünfgliedrige Syllogismus mag im Gegensatz zu dem dreigliedrigen unnötig lang, logisch schwerfällig und nicht formal genug sein, aber didaktisch/pädagogisch ist er doch sinnvoll. Diese beiden Formen des Syllogismus lassen sich ineinander übersetzen. Den dreigliedrigen Aristotelischen Syllogismus kann man fünfgliedrig so umformulieren:

53

  1. These: Sokrates ist sterblich.
  2. Grund: Weil er ein Mensch ist.
  3. Beispiel: Wer immer ein Mensch ist, ist sterblich, wie zum Beispiel Pythagoras.
  4. Anwendung: Sokrates ist ein Mensch, und das Menschsein wird stets von Sterblichsein begleitet.
  5. Konklusion: Folglich ist Sokrates sterblich.

54

  Neben der empirisch-induktiven Begründung, resultierend aus der wiederholten Beobachtung: wo Rauch, dort Feuer; wo kein Rauch, dort kein Feuer und wo die Abwesenheit des Feuers, dort auch Abwesenheit des Rauches wird die invariable Relation (vyapti) zwischen dem Mittelbegriff Rauch und dem Oberbegriff Feuer als immer und notwendig bestehend angenommen. Es wird sogar von der Wahrnehmung der allgemeinen Eigenschaft/Relation gesprochen. Bei der Wahrnehmung einer bestimmten Kuh wird zugleich die allgemeine Eigenschaft Kuhheit wahrgenommen. Der terminus technicus hierfür heißt: samanya-laksana-pratyaksa. Ein Vergleich mit der Aristotelischen intuitiven Wahrnehmung bietet sich hier an.

55

  Indische Theorien der Negation (abhava), des dialektischen Denkens, des Zweifels sind weitere Themen aus dem logischen Bereich, die aus interkultureller Sicht dargestellt werden können. Die Kategorie des Zweifels zum Beispiel steht für eine Erkenntnis (samxaya-jñana), die entsteht, wenn es zwei widersprechende Ansichten in bezug auf den gleichen Gegenstand gibt. Der Zweifel ist weder wahr noch falsch. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Auffassungen des Zweifels, ist im indischen Denken der Zweifel nicht unbedingt ein Hinderungsgrund für Handlungen. Es mag sein, daß der philosophische Zweifel unsere Handlungen nicht beeinflußt. Der Zweifel führt jedoch zu Handlungen, wenn die Risiken bei der Durchführung der Handlungen nicht zu groß sind.



 5.2 Grundsätzliche Ähnlichkeiten und erhellende Differenzen

»Das Primat der Wahrnehmung im indischen Denken mag auch dazu geführt haben, daß es an bloß formalen Sachverhalten wenig Interesse zeigte.«



56

  Es mag so aussehen, daß die Unterschiede bloß nomineller, verbaler oder oberflächlicher Natur sind. Dem ist aber nicht so. Auch im logischen Denken kann die interkulturelle Perspektive Fragen aufwerfen, die das Anthropologische als solches betreffen. Die Unterschiede sind jedoch weniger als Mängel und vielmehr als nicht vorhanden zu betrachten.

57

  Während der aristotelischen Syllogismus in der Regel deduktiver und formaler Natur ist, bleibt der indische Syllogismus mehr im lebendigen Kontakt mit den erkenntnistheoretischen und psychologischen Faktoren. Die Konzeption der formalen Gültigkeit ist auch für das indische logische Denken wichtig, aber nicht auf Kosten der materiell-inhaltlichen Seite unseres Schlußfolgerns. Die Anwesenheit des Belegs im indischen Syllogismus macht dies deutlich. Es mag hierin wohl der Grund dafür vermutet werden, daß die indische Logik, trotz vorhandener Ansätze, keine reine formale Logik entwickelt hat. Aus interkultureller Sicht kann die Frage aufgeworfen werden, was verstanden, eingesehen, nachvollzogen wird, wenn die formale Gültigkeit erkannt ist. Ist das doch nicht der Wenn-dann-Charakter bei den Schlußfolgerungen, wenn alle Menschen unsterblich sind und wenn die Europäer Menschen sind, dann sind sie unsterblich? Geht es hierbei um eine Schlußfolgerung (anumana)) im Sinne der Erkenntnis oder bloß um eine formale Argumentation (tarka) ohne materiell-inhaltliche Erkenntnis? All dies sind interessante Fragen.

58

  Das Primat der Wahrnehmung im indischen Denken mag auch dazu geführt haben, daß es an bloß formalen Sachverhalten wenig Interesse zeigte. In dem europäischen metaphysischen und auch logischen Denken finden wir den Gedanken der reinen Möglichkeit des öfteren. Die Empirie kann hierfür nicht der Grund sein. Die jüdisch-christliche Tradition mag hier Pate gestanden haben mit ihrer Idee der Schöpfung aus dem Nichts. Selbst Leibniz läßt die unzähligen möglichen Welten der einen wirklichen (besten?) Welt vorausgehen. Dieser Gedanke ist dem indischen Denken im ganzen fremd, denn Möglichkeiten (yogyata) können vorgestellt werden, nachdem uns Wirklichkeiten gegeben sind. Die beiden Modi der Möglichkeit und Unmöglichkeit setzen die Basis unserer Erfahrung mit der Wirklichkeit voraus. So bleibt die indische Logik weniger eine Klassenlogik und mehr intensionalistisch.

»Die indische Logik betrachtet den Psychologismus nicht so sehr als einen Irrweg, sondern versucht eher eine Annäherung zwischen Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie. Das Logische ist in dem größeren Zusammenhang des Lebens eingebettet.«

59

  Ferner betrachtet die indische Logik den Psychologismus nicht so sehr als einen Irrweg, sondern versucht eher eine Annäherung zwischen Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie. Das Logische ist in dem größeren Zusammenhang des Lebens eingebettet.  8  So vermeidet die indische Logik einen bloßen Formalismus und Platonismus der Formen.

60

  Im Westen hat man dem asiatischen Denken oft vorgeworfen, es akzeptiere den Satz vom Widerspruch nicht. Die eigentliche Sachlage ist jedoch viel diffiziler. A kann nicht zugleich A und nicht A sein. Dies wird von Aristoteles und auch von der buddhistischen Logik anerkannt. Die Begründungen sind jedoch unterschiedlich. Für Aristoteles wäre die Selbstidentität von A in Gefahr. Für die Buddhisten gibt es kein identisches A.

61

  Die Jaina-Logik bestreitet auch nicht so sehr die Gültigkeit, sondern nur die bedingungslose Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch; denn der Satz gilt ja unter den Annahmen: am gleichen Ort, zur gleichen Zeit und im gleichen Sinne. Die siebenstufige Prädikationslogik (saptabhangi-naya) der Jainas macht ferner deutlich, daß eine mehrwertige Logik dem indischen Denken gemäßer ist.

62

  Die Prinzipien der Kausalität und des Widerspruchs, die Kategorien der Ordnung und des Chaos erhalten einen anderen Stellenwert, sobald wir einsehen, daß im chinesischen Denken das Dao für ein Ordnungsprinzip steht, das die gattungsbegriffliche Geltung dieser Prinzipien relativiert. Die Chinesen können das Widerspruchsprinzip umgehen, indem sie auf das den Haushalt der großen Natur betreffende Prinzip der harmonischen Vereinigung (ho) hinweisen. Der weltbekannte Sinologe Granet gibt eine sehr interessante Erklärung dafür, warum den Chinesen der Sinn für einen formalen Syllogismus fehlt.

 

63

  »Welchen Wert könnte denn auch eine syllogistische Ableitung für ein Denken haben, das sich weigert, dem Raum und der Zeit ihre konkrete Beschaffenheit zu nehmen? Wie könnte man behaupten, daß Sokrates, da er ein Mensch ist, sterblich sei? Ist es denn sicher, daß in künftigen Zeiten und in anderen Räumen die Menschen sterben werden? Behaupten läßt sich hingegen: Konfuzius ist gestorben, folglich werde auch ich sterben, denn es besteht wenig Aussicht, daß jemand ein längeres Leben verdient als der größte aller Weisen.«  9 

64

  Dies mag einigen unter uns seltsam erscheinen. Die grundsätzliche Frage aus interkultureller Sicht lautet jedoch: Worin besteht die Folgerichtigkeit und wie wird sie nachvollzogen? Geht es hier vielleicht doch nicht um zwei Arten von Folgerichtigkeit, einer formal-logischen und einer ethisch-moralisch orientierten? Formale Gültigkeiten sind kulturunabhängiger als die semantischen Wahrheiten.  10 

65

  Erkenntnistheoretische Bescheidenheit und philosophische Zurückhaltung sind daher weitere, auch ethisch-politisch relevante Konsequenzen eines philosophischen Denkens aus interkultureller Sicht.



 5.3 Das Ethische im Vergleich der Kulturen

»Wir schätzen Toleranz und Pluralismus, aber wir sind beunruhigt durch den erkenntnistheoretischen Skeptizismus, der mit dieser Toleranz und diesem Pluralismus einherkam.«

Hilary Putnam
(Anm. 11)

66

  Die Ethik ist immer wieder bemüht, den Zustand der Dinge, wie sie sind, dem Zustand näherzubringen, wie sie sein sollen. Dabei herrscht keine völlige Übereinstimmung weder in bezug auf die Beurteilung, wie die Dinge sind, noch wie sie sein sollen. Selbst die Vorstellungen von der Selbst- und Weltvervollkommnung sind unterschiedlich sowohl inter- als auch intrakulturell. In seinem Buch Pragmatismus – eine offene Frage stellt Putnam fest, daß die zentrale Frage der Philosophie lautet, wie man leben soll. »Wir schätzen Toleranz und Pluralismus, aber wir sind beunruhigt durch den erkenntnistheoretischen Skeptizismus, der mit dieser Toleranz und diesem Pluralismus einherkam.«  11 

»Der Himmel weint nicht, der Himmel lacht nicht.«

Laozi

67

  Eine der zentralen Fragen der Ethik ist die nach der Verankerung der Werte, von denen wir geleitet werden sollen. Die Verankerungen können humanistischer oder auch theologischer Natur sein. Den theozentrischen und anthropozentrischen Modellen gegenüber vertritt der chinesische "Universismus" die Ansicht, daß der Mensch in seiner Weise in dem großen Haushalt der Natur eingebettet ist und von ihr keine Sonderstellung erwarten darf. Der Himmel weint nicht, der Himmel lacht nicht, heißt es bei Laozi. Das, was den ganzen Kosmos trägt, ist ursprünglicher, mächtiger und umfassender als das, was die Menschheitsgeschichte trägt. In diesem Zusammenhang erhält die Frage nach der Sonderstellung des Menschen eine andere Bedeutung.

68

  Das ethisch-moralische Denken geht oft von der Annahme aus, daß das Gute belohnt werden soll. Viele Religionen, Philosophien geben unterschiedliche Begründungen an. Kant postuliert zum Beispiel, um das Zustandekommen dieser Verbindung zu gewährleisten, die Unsterblichkeit der Seele und die postulative Existenz Gottes. Im indischen Denken, zum Beispiel im Buddhismus, wird von dem Karma-Gesetz gesprochen, was diese Verbindung von Gutsein und Belohntwerden zustande bringt. In dem theologisch orientierten ethischen Denken ist es der Wille Gottes, der dafür verantwortlich ist. Hier ist die Grenzziehung zwischen Theologie und Philosophie äußerst schwierig.

69

  Wir sehen hier, daß überlappende ethisch-moralische Überzeugungen unterschiedliche philosophische Begründungen erhalten. Universalethische Prinzipien dürfen weder bloß formalistisch noch machtpolitisch legitimiert werden, wenn sie interkulturell wirksam werden sollen. Nicht der Gedanke, einen universalgültigen ethischen Maßstab zu finden, ist überzogen, lediglich die Ansicht, diesen in einer bestimmten Philosophie, Kultur oder Religion gefunden zu haben, ist fundamentalistisch. Auch die Idee der Menschenrechte ist nicht nur einer einzigen Kultur eigen. Heute weiß man, daß die zahlreichen Inschriften des buddhistischen Königs Ashoka (ca. 3. Jh. v. Chr.) der Idee und dem Buchstaben nach Menschenrechte enthalten. Der Mensch als solcher muß in der Lage sein, zumindest idealiter, die universale Geltung der Menschenrechte einzusehen und anzuerkennen, auch wenn er unter Verblendungen unterschiedlicher Ideologien diese Rechte verletzt.

70

  Windelband, der der chinesischen Kultur gegenüber voller Lob ist, spricht ihr doch ab, das allgemeingültige ethische Prinzip entdeckt zu haben. Nach ihm fehlt dem chinesischen Denken auch die geoffenbarte religiöse Wahrheit. Fast in der Hegelschen Euphorie geht Windelband sogar so weit, daß er der europäischen Missionierung und Eroberung mit all ihren negativen Konsequenzen aus folgendem Grund zustimmt: »Wir würden mit dieser Zustimmung lediglich das brutale Recht der Gewalt sanktionieren, wenn wir nicht der Überzeugung wären, daß die siegreiche Gesellschaft den höheren Wert repräsentiert.«  12 



 6. Zur Aufgabe der interkulturellen Philosophie

»Nicht der Gedanke, einen universalgültigen ethischen Maßstab zu finden, ist überzogen, lediglich die Ansicht, diesen in einer bestimmten Philosophie, Kultur oder Religion gefunden zu haben, ist fundamentalistisch.«

71

  Die interkulturelle Sicht hat deutlich gemacht, daß es den absoluten Anspruch des einen nicht gibt, es sei denn, man zeichnet aus Vorurteilen und/oder Unkenntnissen einen Ort, eine Zeit, eine Sprache, eine Religion oder eine Philosophie aus. Die begriffliche und inhaltliche Klärung der interkulturellen Philosophie hat ferner gezeigt, daß die Philosophiegeschichte selber ein unendliches Reservoir unterschiedlicher Interpretationen ist. Philosophiegeschichte ist so ein hermeneutischer Ort. Hieraus folgt, daß es keine bloß apriorische, per definitionem dingfestgemachte Bestimmung der Philosophie und Kultur geben kann.

72

  Wer den Terminus "interkulturelle Philosophie" jedoch für ungenau hält, weil er exakte Kriterien vermißt, vergißt, daß bei der Identifizierung der Kulturen, Philosophien, Religionen und politischen Weltanschauungen ein gewisses Maß an Traditionsgebundenheit und persönlicher Entscheidung nicht zu leugnen ist. Wer von philosophischen Argumente allgemeine Akzeptanz und Einstimmigkeit erwartet, überfrachtet jene. Auch im Kampf der philosophischen Argumente spielen die philosophischen Dispositionen und Sozialisationen eine, zum Teil sogar entscheidende, Rolle.  13 

»Vergleichende Philosophie ist ohne die interkulturelle philosophische Orientierung blind; interkulturelle Philosophie ist ohne die vergleichende Philosophie lahm. Beides gehört zusammen.«

73

  Bei allen ethisch-moralischen und politischen Modellen ging es und geht es um Verbesserungen der Verhältnisse: Mensch – Mensch und Mensch – Natur. Es ist immer wieder die Frage, ob die äußeren Veränderungen doch nicht höchstens nur die notwendigen, aber nicht die hinreichenden Bedingungen für die angestrebten Verbesserungen darstellen.

74

  Die heutige Globalisierung der technologischen Formation macht sich zwar durch eine hardwaremäßige Universalisierung der menschlichen Verhältnisse bemerkbar, aber die ethisch-moralische Softwareseite der Kulturen hinkt hinterher und bleibt auf der Strecke. Dies mag der Grund für die große Betriebsamkeit hinsichtlich der Verknüpfung des Ethischen mit anderen Wissenschaften sein.

75

  Die interkulturelle Orientierung, die auf Wechselseitigkeit von der inneren und äußeren Schale der menschlichen Natur setzt, vermeidet jede Kurzatmigkeit und Einseitigkeit der Menschenbilder. Eine solche Einstellung ermöglicht einen interkulturellen Diskurs ohne die Angst, sich in dem anderen zu verlieren, und ohne den Versuch, das andere einzuverleiben. »Die abendländische Philosophie«, schreibt Levinas, »fällt mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit. Von ihrem Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen, von einer unüberwindbaren Allergie.«  14 

76

  Mircea Eliade hat die interessante und heute noch aktuelle Frage aufgeworfen, wie es dazu kam, daß es dem asiatischen Geist nicht gelungen ist, in Europa Fuß zu fassen, so wie es in der ersten Renaissance der gräko-lateinischen Kultur gelungen ist. Eliade spricht von einer zweiten mißglückten Renaissance und meint damit die Entdeckung der Sanskrit-Sprache, der Upanishaden und des Buddhismus am Ende des 18. und im 19. Jh. in Europa. Der Hauptgrund des Fehlschlags besteht für Eliade darin, daß die zweite Renaissance im Gegensatz zur ersten eine Angelegenheit der Orientalisten blieb und von den Fachphilosophen, Theologen, Literaten, Künstlern und Historikern kaum beachtet wurde, es sei denn in der romantischen Idealisierung des asiatischen Geistes.

77

  Sollten wir heute im "Weltalter" (Scheler) der technologischen Formation und in dem erneuten Zusammentreffen der Kulturen an der Schwelle einer "dritten Renaissance" stehen (und vieles spricht dafür), so ist dies nicht so sehr das Verdienst der Orientalisten als vielmehr ein Ergebnis der historischen Präsenz der nicht-europäischen Kulturen in der globalen Situation heute. Sollte dieser dritten Renaissance ein Erfolg beschieden sein, so sind wir alle im Geiste der Interkulturalität berufen, den notwendigen Beitrag unseres je eigenen Standorts zu leisten. Möge die interkulturelle Sicht uns dabei helfen.

78

  Die interkulturelle Sicht weist nicht die Existenz der Zentren zurück; sie lehnt bloß einen jeden Zentrismus ab. Keine Kultur, ob asiatisch, europäisch, afrikanisch oder lateinamerikanisch kann sich heute in ihrer eigenen Tradition bewegen, ohne provinziell zu werden.

Ram Adhar Mall lehrt als außerplanmäßiger Professor an den Universitäten Bremen und München Philosophie und ist Präsident der internationalen Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie (GIP).

79

  Interkulturelle Philosophie ist eine grundlegend neue Orientierung; sie ist zugleich konstitutives Element und Ziel des Philosophierens aus interkultureller Sicht. Die hier entworfene Theorie der interkulturellen Philosophie plädiert für eine überlappend-universale, aber orthaft ortlose philosophia perennis, philosophische Rationalität. Dies kommt einem Paradigmenwechsel gleich, was sowohl die theoretischen als auch die praktischen Disziplinen der Philosophie aus interkultureller Sicht sehen, lehren und forschen läßt. Es geht dabei um eine neue Historiographie der Philosophie. In seinem Aufsatz Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs spricht Scheler von einer "kosmopolitischen Philosophie" und schreibt, »daß die nationalen Volksgeister berufen seien, sich in allen rein kulturellen Dingen [...] zu ergänzen, und zwar unvertretbar zu ergänzen«.  15 

80

  Vor aller Komparatistik auf jedwedem Gebiet gilt daher, sich die Kultur der Interkulturalität zu eigen zu machen, um so die Vorbedingungen für die Möglichkeit eines in der gegenseitigen Achtung und Toleranz durchgeführten philosophischen Gesprächs zu schaffen. Vergleichende Philosophie ist ohne die interkulturelle philosophische Orientierung blind; interkulturelle Philosophie ist ohne die vergleichende Philosophie lahm. Beides gehört zusammen.


Anmerkungen


 1   

W. Dilthey: Gesammelte Werke. Bd. 7. Göttingen 1973, 225.  

 2   

Vgl. R. A. Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung. Darmstadt 1995, 91ff.  

 3   

M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1960, 86.  

 4   

Vgl. K. Löwith: Geschichtliche Abhandlungen. Stuttgart 1960, 175.  

 5   

Zit. in: K. Roy: Hermeneutics. East and West. Calcutta 1993, 67.  

 6   

J. M. Bochenski: Formale Logik. Freiburg/Br. 1956, 13.  

 7   

J. Mehlig (Hg.): Weisheit des alten Indien. Bd. 2. Leipzig 1987, 347f.  

 8   

In seinen Göttinger Vorlesungen über Logik unternimmt Misch den Versuch, das Logische in dem Gesamtzusammenhang des Lebens zu verankern. Vgl. G. Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Freiburg/Br. 1994.  

 9   

M. Granet: Das chinesische Denken. Frankfurt/M. 1985, 255.  

 10   

Vgl. R. A. Mall: Was konstituiert philosophische Argumente? Bremen 1996 (Bremer Philosophica 1996/1).  

 11   

H. Putnam: Pragmatismus – eine offene Frage. Frankfurt/M. 1995, 10.  

 12   

W. Windelband: "Vom Prinzip der Moral" (1883). In: ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. 2 Bde. Tübingen 1919, 176.  

 13   

Vgl. R. A. Mall: Was konstituiert philosophische Argumente? Bremen 1996 (Bremer Philosophica 1996/1).  

 14   

E. Levinas: Die Spur des Anderen. Freiburg/Br. 1983, 211.  

 15   

M. Scheler: Gesammelte Werke. Bd. 5. Bern 1954, 386. Hervorhebung durch den Verfasser.  



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